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# taz.de -- Ausstellung im Kunstverein Wolfenbüttel: Pandemische Unschärfe
> Der Künstler Siegfried Neuenhausen kann kaum noch sehen. Sein neuer
> Collagen-Zyklus beweist, dass dies der Kreativität keinen Abbruch tut
Bild: Kontrastreich trotz Sehschwäche: Holzschnitte des 90-jährigen Künstler…
Wolfenbüttel taz | Was macht eigentlich ein Künstler, wenn mit zunehmendem
Alter die Sehkraft nachlässt? Siegfried Neuenhausen, der im vergangenen
November 90 Jahre alt wurde, scheint dies vor kein unlösbares Problem zu
stellen.
Der Hannoveraner Bildhauer, Grafiker und Kunstpädagoge, der [1][politische
Aktivist] und ehemalige Professor der Kunsthochschule Braunschweig kann
aufgrund seiner fortschreitenden Makuladegeneration die Konturen seiner
Umwelt nur noch recht schemenhaft wahrnehmen. Schwache Kontraste und Farben
noch weniger – so sagt er es zumindest selbst. Zum Lesen oder auch
einfachen Zeichnen benutze er deshalb nun einen Vergrößerungscomputer,
Lettern müssten aber wohl schon zehn Zentimeter groß sein, wolle er sie
genau erkennen. Derartige physische Einschränkung kompensiert Neuenhausen
mit einer ganz eigenen Art künstlerischer Kreativität und Produktion.
## Neuenhausen ist auf Schröder nicht gut zu sprechen
Den Ergebnissen widmet derzeit der [2][Kunstverein Wolfenbüttel] eine
Ausstellung. Sie ist die zweite dortige Einzelpräsentation des Künstlers
nach einer Werkschau, die 1996 zu sehen war. Damals sprach Gerhard Schröder
(SPD) als Ministerpräsident ein paar Worte zur Eröffnung, die dadurch zum
gesellschaftlichen Highlight im beschaulichen Wolfenbüttel wurde. Auf
seinen alten Kumpel Schröder kommt Neuenhausen heute aber nicht mehr so gut
zu sprechen.
Ausgestellt ist jetzt ein 2020 begonnener Werkkomplex – Neuenhausens so
bezeichnete „Pandemische Collagen“. Wie wohl viele andere nutzte auch der
Künstler den allerersten Coronalockdown zum lange aufgeschobenen
Durchschauen seiner Sachen mit anschließendem Aufräumen. In seinen
Grafikschränken stieß er dabei auf seine zehnteilige Serie schwarz-weißer
Holzschnitte, die er ab 1989 im Zuge der einsetzenden deutschen
Wiedervereinigung als „Deutsch-Deutsche Blätter“ angelegt hatte.
Er stellte sie dann in einer Hunderter-Auflage auf bestem Büttenpapier
fertig, die Großformate von 120 auf 80 Zentimeter erwiesen sich nach
anfänglichen Verkäufen dennoch als Ladenhüter. Was also damit tun, nach 30
Jahren Ablagerung? Wegschmeißen? Auf keinen Fall!, so Neuenhausen. Er habe
die Blätter zuerst gevierteilt, erzählt er, dann zu weiteren Teilen
zerrissen oder geschnitten und dabei eine ganz neue Qualität ihrer
schwarz-weißen Grafik entdeckt, und ganz allgemein auch des schwarz-weißen
Kontrasts. Systematisch wurden dann ein paar Dutzend Kästen mit Schnipseln
angelegt, geordnet nach Formen, Schwarz-weiß-Wert und weiteren Kriterien.
Über 40.000 Teile will Neuenhausen so handverlesen haben, mit abnehmender
Sehkraft sei glücklicherweise seine haptisch manuelle Sensibilität
gewachsen.
Die Schnipsel wurden Ausgangsmaterial für die neuen Collagen. Diese müssen
dann ungemein intuitiv entstanden sein: die Segmente habe er auf große
Papierbögen ausgelegt, wiederum Format 120 auf 80 Zentimeter, hin und her
bewegt, hier verdichtet, dort etwas ausgedünnt, was abgeschnitten, nach und
nach Bildstrukturen organisiert, Teile festgeklebt, anderes wiederum
abgerissen.
Ein künstlerischer Prozess zwischen Collage und Decollage sei es gewesen,
die allmähliche Verfertigung eines Bildthemas beim Machen, so Neuenhausen.
Vor allem aber war es für ihn gleichermaßen eine beglückende Erfahrung und
ein künstlerischer Antrieb. Einzige Vorgabe: Nichts sollte mehr an die
„Deutsch-Deutschen Blätter“ erinnern! Die bildnerische Qualität bezeichnet
der Künstler nun als „präzise Ungenauigkeit“, die kunsttheoretisch jeden
Realismusbegriff in Frage stellt – und besser ist als das Ausgangsmaterial.
## Politische Aktionen mit Kunststudent:innen
Für eine zweite Serie hat der Neuenhausen nun auch ältere farbige Grafiken
zerlegt, die er ohnehin nicht zu seinen guten Arbeiten zählt. Auch von
ihnen ist etwas in Wolfenbüttel zu sehen, wie auch schon Ende letzten
Jahres auf der Herbstausstellung niedersächsischer und Bremer
Künstler:innen in Hannover. Dort stieß Stine Hollmann, Geschäftsführerin
des Wolfenbütteler Kunstvereins, auf den Collagenkomplex und holte ihn mit
Hilfe der beiden Vereinsvorsitzenden Günter Langer und Lienhard von
Monkiewitsch nach Wolfenbüttel. Die beiden sind alte Vertraute
Neuenhausens: Langer hatte 1967 eine frühe Ausstellung des Künstlers in
Braunschweig organisiert, von Monkiewitsch wiederum war über lange Jahre
Professorenkollege des 1964 für die Grundlehre dort hin Berufenen. Stolze
32 Jahre verbrachte Neuenhausen dann dort lehrend.
Während dieser Zeit hat er mit seinen Studierenden viele politische und
partizipative Aktionen im öffentlichen Raum angestoßen, aber auch mit
Strafgefangenen in Bremen und psychiatrisch Hospitalisierten in Hamburg
gearbeitet. In Hannover wiederum erwarb er 1983 eine alte Schnapsbrennerei
im Sanierungsgebiet Hainholz, entwickelte sie zu Ateliers und zum
Ausgangspunkt stadträumlicher Interventionen, gemeinsam mit den
Anwohner:innen. Eine Stiftung soll den Fortbestand dieser Arbeit sichern.
Den Menschen Siegfried Neuenhausen, ungemein energiegeladen und während der
gemeinsamen Ausstellungshängung in Wolfenbüttel seine beiden Kollegen
präzise dirigierend, lernt man am besten durch seine zahllosen „Bücher“
kennen. Sie verschränken Text und Bild, Fremdmaterial ist hinein montiert,
sie sind Tagebuch, Selbstporträt, Dauer-Reflektion des politischen wie
kulturellen Tagesgeschehens. Von ursprünglich 80 Bänden ist einiges
angekauft oder etwa dem Sprengel Museum übergeben. Anderes wartet noch auf
würdigende Aufnahmen.
27 Feb 2022
## LINKS
[1] /Siegfried-Neuenhausen-macht-soziale-Kunst-in-Hannover/!5111433
[2] https://www.kunstverein-wf.de/index.php?article_id=38&exhib=42
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Wolfenbüttel
Kunst
Braunschweig
Hannover
zeitgenössische Kunst
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