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# taz.de -- Kulturkampf um Kinder: Evangelikale gegen den Staat
> Mit einer beispiellosen Kampagne versuchen christliche
> Fundamentalist:innen derzeit auf einen Sorgerechtsstreit in
> Walsrode Einfluss zu nehmen.
Bild: Kamen zu Tausenden nach Walsrode: Evangelikale aus ganz Europa
Bremen taz | „Jugendamt childhood killer“ steht auf einem
schwarz-rot-gelben Plakat, und auf einem anderen samt Reichsadler:
„Achtung, Kinder werden entführt“. Mit diesen und ähnlichen Sprüchen,
[1][das zeigen Videoaufnahmen], demonstrierten am Sonntag 6.500 Menschen
aus mehreren europäischen Ländern gegen einen Sorgerechtsentzug im
niedersächsischen Walsrode. Der Ort hat 24.000 Einwohner:innen.
Neben der Solidarität mit der Familie dürfte es den Organisator*innen
aber noch um etwas anderes gegangen sein. In den sozialen Medien beschwören
die Unterstützer:innen eine Diskriminierung bibeltreuer Christ:innen
durch den deutschen Staat.
Das Sorgerecht für seine sieben Kinder im Alter von zwei bis 16 Jahren
verloren hat ein aus Rumänien stammenden Paar. Sie sind Mitglieder einer
Pfingstgemeinde in Hannover. Pfingstgemeinden verbinden mit anderen
fundamentalistischen protestantischen Strömungen – die oft „evangelikal“
oder „freikirchlich“ genannt werden – rigide Geschlechtsrollenbilder.
Homosexualität, Sex vor der Ehe und Schwangerschaftsabbrüche werden
abgelehnt.
Zudem sind Kinder aus evangelikalen Familien [2][einem größeren Risiko
körperlicher Gewalt] ausgesetzt. Zu diesem Schluss kamen
Wissenschaftler:innen des Kriminologischen Forschungsinstituts
Niedersachsen im Jahr 2010. „Je stärker die Eltern in ihrem Glauben
verankert sind, umso mehr prügeln sie“, hatte der Institutsleiter Christian
Pfeiffer gesagt. Erklären lässt sich das auch mit der 1:1-Übernahme
biblischer Gebote. Bibeltreue ist ein weiteres Merkmal der Evangelikalen.
Jedenfalls wenn es um Sexualität sowie die Rechte von Frauen und Kindern
geht.
## Eltern geben Fehler zu
Elterliche Gewalt soll auch der Grund sein, warum das Jugendamt im
vergangenen April alle Kinder in Obhut nahm und sie in Wohngruppen
beziehungsweise einer Pflegefamilie unterbrachte. Anschließend hatte das
Familiengericht den Eltern das Sorgerecht für die Kinder teilweise
entzogen. Vor zwei Wochen entschied das Familiengericht, das Sorgerecht
vollständig zu entziehen. Diese Entscheidung ist vorläufig, bis zu einer
Anhörung am 21. März.
Nach Berichten der Walsroder Zeitung, die nach eigenen Angaben
Gerichtsakten eingesehen hat, sollen die Eltern die älteren sechs Kinder
geschlagen haben. Die Eltern hätten Fehler gemacht, die sie jetzt einsehen
würden, zitiert die Zeitung in einem Artikel vom Mittwoch einen der drei
Anwälte der Familie. Eine offizielle Bestätigung gibt es nicht.
Familiengerichtsverfahren sind zum Schutz der Kinder nicht öffentlich, eine
Sprecherin des Jugendamts beruft sich im Gespräch mit der taz auf den
Datenschutz.
Es spricht einiges dafür, dass sowohl das Jugendamt als auch das
Familiengericht Fehler gemacht haben. Die Eltern sagen den Medien, es habe
vor der Inobhutnahme keine Gespräche mit dem Jugendamt gegeben, keine
Hilfsangebote, wie es sonst üblich ist. Nachvollziehen lässt sich das von
außen nicht, aber das hindert Tausende Menschen nicht daran sich
einzumischen.
Das geht so weit, dass einige behaupten, die Gewaltenteilung in Deutschland
sei aufgehoben: „Das Jugendamt heckt etwas mit dem Gericht aus“, heißt es
auf Englisch auf der in Chicago herausgebrachten [3][Online-Zeitung
„Tribuna Românească“]. Auf der Homepage ist ein Foto der Leiterin des
Jugendamtes abgebildet, zudem Angaben zu ihrem Alter und ihrer Ausbildung.
User greifen diese in sozialen Medien persönlich an, andere attackieren den
ältesten Sohn der Familie. Der jetzt 16-Jährige soll sich nach
Medienberichten im vergangenen Jahr an eine Sozialarbeiterin der Schule
gewandt und dieser von der Gewalt berichtet haben. Einer der Anwälte der
Familie berichtet der taz, dass die meisten der Kinder zurück zu ihren
Eltern wollten.
## Fundamentalistische Stiftung agitiert mit
Beteiligt an der Kampagne gegen das Walsroder Jugendamt und das
Familiengericht [4][ist die in Spanien ansässige Stiftung „CitizenGO“], die
nach eigener Darstellung „das Leben, die Familie und die Freiheit durch
Online-Petitionen und Aktionen verteidigen“ will. Die [5][taz hat mehrfach
über die weltweit agierende Organisation] und ihren teils erfolgreichen
Einfluss auf Parlamente berichtet.
Sie agitiert gegen Sexualaufklärung an Schulen, Schwangerschaftsabbrüche
und die Rechte von Homosexuellen – alles im Namen des Herrn. Dabei ist
„CitizenGO“ mit Rechtsaußen-Politiker:innen vernetzt, unterhält Kontakte
zum Umfeld von Wladimir Putin.
Derzeit sammelt sie Unterschriften für eine Petition an den Sprecher des
Gerichts in Walsrode sowie an den Landrat des Kreises. In einer Erklärung
auf der Homepage heißt es, das Jugendamt handele „offensichtlich aus
ideologischen Gründen, die sich gegen eine auf christlichen Werten
beruhende Erziehung von Kindern“ richtet. Und weiter: Wenn die Behörde
nicht gestoppt werde, „wird dies ein völlig falsches Signal aussenden, das
zu vermehrten behördlichen Übergriffen auf christliche Familien führen
dürfte“.
Verlinkt sind fünf Beiträge* auf dem [6][Youtube-Kanal „Klartext im
O-Ton“], laut Selbstbeschreibung „eine private Initiative von Christen in
Österreich“. Dort wird in erster Linie die Gefahr von Corona geleugnet. In
den fünf Beiträgen unter dem Titel „Trauma Kindeswegnahme“ berichtet der
Videoblogger Jo Hoffmann über den Fall der Familie.
## Gewalt wird ausgeschlossen
In einem Beitrag werden alle sieben Kinder mit Namen, Alter und Hobbys
vorgestellt. In einem anderen erklärt eine Psychotherapeutin, der älteste
Sohn, der sich der Sozialarbeiterin anvertraut hatte, rebelliere wohl
gerade gegen seine Eltern und deren Werte. Auch sie kommt aus dem
evangelikalen Spektrum, verbreitet etwa die Falschbehauptung, es gebe ein
„Post Abortion Syndrome“ nach Schwangerschaftsabbrüchen.
Ohne die Familie zu kennen, schließen Hoffmann und die Therapeutin aus,
dass an den Schilderungen des Jungen über Gewalt etwas dran sein könne.
Stattdessen wiederholt Hoffmann wieder und wieder, die
Jugendamtsmitarbeiter:innen wollten „die Kinder vor dem religiösen
Einfluss der Eltern schützen“.
Er warnt davor, dass „die Behörden versuchen, einen Präzedenzfall zu
schaffen und Angst unter bibeltreuen Christen zu verbreiten“. Man könne
sich darauf einstellen, „dass es in Zukunft mehr solcher Fälle geben wird“.
Im Kern, sagt er wiederholt, gehe es um die Frage, „wem gehören die Kinder:
Dem Staat oder den Eltern“.
Bis gestern Nachmittag wurden auf der Crowdfunding-Plattform „Gofundme“
knappe 70.000 Euro an Spenden für die Eltern gesammelt. Das Jugendamt hatte
mit Stand vom Mittwoch seit dem Wochenende 344 Mails erhalten, in denen die
Behörde zur Rücknahme ihrer Entscheidung aufgefordert wird.
* Die Videos waren am Tag des Erscheinens dieses Artikels in der
Printausgabe der taz nicht mehr frei zugänglich (Anm. d. Red.)
5 Mar 2022
## LINKS
[1] https://www.wz-net.de/mediathek/videos/tausende-demonstrieren-in-walsrode-f…
[2] /Gewalt-gegen-Kinder/!5068765
[3] https://tribuna.us/furdui-case-the-jugendamt-prisoners-iii-sina-bohling-chi…
[4] https://citizengo.org/de/fm/206575-rueckgabe-des-sorgerechts-die-familie-fu…
[5] /Online-Petitionen-gegen-Abtreibung/!5786746
[6] https://www.youtube.com/c/KlartextimOTon
## AUTOREN
Eiken Bruhn
## TAGS
CitizenGo
Evangelische Kirche
Inobhutnahme
Christliche Fundamentalisten
Schwerpunkt LGBTQIA
Olaf Latzel
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Europe's Far Right
Frauenrechte
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