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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Die Leere von Kiew
> Kaum Brot und Medikamente, dafür überall Schlangen und Nächte in Kellern
> und Bunkern – Eindrücke aus der Millionenmetropole im Ausnahmezustand.
Bild: Die Straßen in Kiew sind leer, nur vor den Supermärkten und Apotheken b…
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Kiew taz | Montagmorgen. Normalerweise erwacht Kiew früh an so einem Tag.
Menschen hetzen zur Arbeit, auf den Straßen staut sich der Verkehr, in der
Metro ist es laut, Händler öffnen ihre Geschäfte und in den Bäckereien
duftet es nach frischem Brot.
So hätte die neue Woche in der Millionenstadt im Zentrum Europas auch an
diesem Montag beginnen können. Hätte. [2][Wenn nicht der Krieg wäre], der
an diesem Montag vor fünf Tagen begann.
Gerade hetzt niemand irgendwohin. Die großen Straßen sind leer, und die
öffentlichen Verkehrsmittel werden jetzt vom Militär genutzt, das in der
Nacht einen weiteren Angriff russischer Truppen auf die ukrainische
Hauptstadt abgewehrt hat.
Aus den Metroeingängen kommen die Menschen, die wieder eine Nacht auf den
Bahnsteigen der Stationen verbracht haben, um sich dort von der
Bombardierung der Stadt zu schützen. Die meisten Geschäfte sind
geschlossen, in den Cafés und Imbissen wird kein Kaffee mehr verkauft.
## Jagd auf Öl, Konserven und – mit etwas Glück – Gemüse
Ein bisschen lebhafter geht es nur an einigen wenigen Supermärkten zu, in
denen es noch Lebensmittel gibt. Die Wartenden stehen in Hunderte Meter
langen Schlangen an. Die größte Nachfrage besteht aktuell nach Brot und
Trinkwasser
„Ich gehe auf die Jagd“, sagt eine Frau, die sich gerade angestellt hat, in
ihr Telefon. Die Supermarktregale sind ziemlich leer. Die Auswahl für die
„Jagd“ ist klein. Kaufen kann man noch Sonnenblumenöl, Konserven, mit Glü…
etwas Gemüse, außerdem vielleicht noch ein paar Milch- und Fertigprodukte.
Keine Chancen gibt es mehr auf Fleisch, Mehl, Getreideprodukte und Nudeln.
In einem der Supermärkte steht nur eine Schlange bei den Backwaren. In den
Regalen liegen weder Brot noch Brötchen. Doch die Menschen warten darauf,
dass der Bäcker mit dem Brot kommt, das er gerade aus dem Backofen gezogen
hat.
Die Ukraine ist zurzeit vermutlich das einzige Land, in dem man [3][die
Coronapandemie] vergessen hat. Die Testzentren arbeiten nur noch
eingeschränkt, und nur wenige Menschen lassen sich jetzt noch impfen. Man
macht sich nicht mehr die Mühe, an Masken zu denken, wenn man schnell in
den Luftschutzbunker läuft, in dem die Menschen dann dicht an dicht sitzen,
damit so viele wie möglich dort Platz finden.
## Schmerzmittel und Verbandsmaterial gehen aus
„Was für Masken? Hier stirbt man eher am ‚russischen Virus‘“, bemerkt …
der Frauen ironisch, die sich mit ihrem Kind darum bemüht, [4][in einen Zug
nach Lemberg zu kommen] – weg von Kiew, so weit wie möglich. Auch all die
Menschen, die gerade in Notunterkünften übernachten, interessiert das
Coronavirus nicht. Als Notunterkünfte dienen die Bahnsteige und Waggons der
Kiewer Metro, Tiefgaragen und die Keller großer Wohnblöcke.
Auch an den Apotheken sieht man zurzeit lange Schlangen. Die Menschen
versuchen vor allem Erste-Hilfe-Ausstattung zu bekommen: Bandagen,
Antiseptika und Beruhigungsmittel. Aber all das gibt es derzeit nicht mehr.
„Schmerzmittel, Verbandsstoffe und Kopfschmerztabletten sind nicht
verfügbar und es ist unklar, wann es sie wieder geben wird“, verkündet der
Apotheker streng, er seufzt. Doch eine Frau will sich damit nicht
zufriedengeben. „Sagen Sie, haben Sie Weißdorn?“, erkundigt sie sich nach
einer Tinktur, die manchmal auch anstelle von Alkohol verwendet wird.
Viele Kiewer haben auf ihren Telefonen jetzt eine App der Kiewer
Stadtverwaltung installiert, die [5][vor bevorstehenden Luftangriffen]
warnt. Tatjana ist gerade in einem Geschäft, als eine Nachricht auf ihrem
Handy angezeigt wird. Schnell läuft sie zur Kasse, um die Lebensmittel zu
bezahlen, die sie gerade noch bekommen hat. Jetzt möchte sie zurück in den
Luftschutzbunker. „Ich muss mich beeilen. Butter hab ich keine mehr
bekommen, aber die hole ich dann eben morgen“, sagt das Mädchen kurz
angebunden. Für die Zeit zwischen 17 und 23 Uhr gibt es eine Warnung vor
einem Raketenangriff, die Alarmsirenen sind zu hören. Für viele Kiewer ist
es nun schon die vierte Nacht in Folge im Bunker.
Nicht [6][in jedem Wohnhaus sind die Keller so groß], dass viele Menschen
hineinpassen oder gar die Nacht dort verbringen können. Doch die Nachbarn
helfen sich gegenseitig. Sie tragen Möbel, auf denen man sitzen oder liegen
kann, hinunter und bringen Woll- und Bettdecken mit. Diejenigen, die sich
trotz allem entschließen, in ihren Wohnungen zu bleiben, legen Matratzen in
die Hausflure. Oder in die Badezimmer, wo es keine Fenster gibt und wo es
im Fall von Raketeneinschlägen etwas sicherer ist.
Bei Einbruch der Dunkelheit schalten die Menschen kein Licht mehr in ihren
Wohnungen an, sie benutzen Taschenlampen oder Kerzen. So versuchen sie zu
vermeiden, dass Raketen und Bomben auf ihre Häuser fallen.
## Menschen stehen Schlange, um ihre Stadt zu verteidigen
„Ich habe mich furchtbar erschrocken, als ich bei völliger Dunkelheit
durchs Fenster schaute und sah, dass auf dem Dach des Nachbarhauses jemand
mit einer Taschenlampe herumläuft“, erzählt Olesja. „Dann habe ich kapier…
dass die Nachbarn prüfen, ob Saboteure dort Markierungen angebracht haben,
die später als Ziel für Luftangriffe dienen könnten“, erklärt sie.
Tatsächlich wurden in verschiedenen ukrainischen Städten auf vielen Häusern
solche Markierungen gefunden. Die Regierung hat die Leute gebeten, sie zu
übermalen oder mit Sand abzudecken. Ungeachtet der schwierigen Situation
ist der Kampfgeist der Ukrainer ungebrochen. Nicht nur Freunde und
Verwandte helfen einander, sondern auch völlig fremde Menschen. Sie teilen
Informationen, zum Beispiel darüber, wo man gerade Lebensmittel bekommt,
und in welchem Automaten es noch Bargeld gibt.
„Alle haben gedacht, dass wir gespalten werden, in eine proeuropäische und
eine prorussische Hälfte. Aber dank Russland sind wir nun so einig wie nie
zuvor! Die Menschen aus der West- und der Ostukraine halten schon den
fünften Tag in Folge gemeinsam der größten Armee der Welt stand. Einfache,
unbewaffnete Menschen halten Panzer auf und vertreiben die Okkupanten sogar
in den Städten, die traditionell als prorussisch gelten. Wir werden
gemeinsam siegen!“, schrieb der 36-jährige Andrei, der aus Charkiw stammt
und jetzt in Kiew lebt, auf seiner Facebook-Seite. Solche Aussagen hört man
von Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft
derzeit überall.
„Haben Sie gesehen, [7][wie uns die ganze zivilisierte Welt unterstützt]?
Wir können in diesem Krieg einfach nicht verlieren!“, sagt ein alter Mann
lächelnd, und erklärt dann stolz, dass sein Sohn und sein Enkel sich den
Territorialverteidigern von Kiew angeschlossen haben. „Die Russen werden
Kiew niemals einnehmen. Wir kämpfen nicht nur um unser Leben, sondern auch
um unsere nationale Existenz. Wir werden bis zum letzten Atemzug für unser
Land und die Zukunft unseres Staates kämpfen“, fügt er hinzu. Nach den
Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist gerade die
Einnahme von Kiew das Hauptziel des Kremls.
Die Menschen stehen hier bereits Schlange, um sich der
Territorialverteidigung der Hauptstadt anzuschließen. Es gibt so viele
Freiwillige, dass einige von ihnen bereits abgelehnt werden.
„Ich habe hier zwei Stunden angestanden, um mich registrieren zu lassen,
und dann hat man mir gesagt, dass es keine Plätze mehr gibt“, sagt Vitali
mit Bedauern in der Stimme. Eigentlich wollte er das Stadtviertel
verteidigen, in dem er selbst lebt. „Stellen Sie sich das mal vor! Ich habe
ein Auto und eine Uniform, und sie haben mir gesagt, dass sie mich in ein
paar Tagen anrufen werden, wenn wieder Plätze frei sind.“
## Hoffnung auf die Europäische Union
Am fünften Tag des russischen Krieges gegen die Ukraine hat die
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärt, [8][dass Brüssel
die Ukraine in der Europäischen Union sieht]. Viele der Ukrainer haben
diese Nachricht mit großer Freude vernommen. „Wir haben das verdient. Wir
verteidigen hier nicht nur uns selbst, sondern ganz Europa. Die Ukraine ist
wirklich das erste Land, das sich im wahrsten Sinne des Wortes das Recht
auf Mitgliedschaft in der EU erkämpft“, meint etwa die Kiewerin Olga.
Ungeachtet der Tatsache, dass bislang keinerlei konkrete Beitrittsfristen
genannt wurden, glaubt man in Kiew an die Botschaft aus Brüssel. Am Ende
des fünften Tages der russischen Invasion aber geriet die lang erwartete
Nachricht dann doch in den Hintergrund. Denn der Beschuss der großen
ukrainischen Städte nimmt zu und die Zahl der zivilen Opfer steigt mit
jedem Tag.
Die Journalistin Anastasia Magasowa war Teilnehmerin des
Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von [9][Gaby Coldewey.]
1 Mar 2022
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[7] /Expertin-ueber-Spenden-fuer-die-Ukraine/!5835462
[8] /Ukraine-fordert-EU-Beitritt/!5838483
[9] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
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