# taz.de -- Diskriminierung im Bildungssystem: Die Schulzeit lässt ihn nicht l… | |
> Weil Deutsch seine Zweitsprache ist, wurde unser Autor diskriminiert. Wie | |
> sich das auf ihn auswirkte – und was seine Schule heute sagt. | |
Bild: „Das liegt nun einmal an deiner Herkunft“, sagte mein Deutschlehrer | |
Es ist das Jahr 2000 und ich bin ein elfjähriges Kind, das seine ersten | |
Deutschstunden in der weiterführenden Schule genießt. Die Hausaufgabe für | |
die heutige Stunde: die Ballade von Fontane „Herr von Ribbeck auf Ribbeck | |
im Havelland“ auswendig lernen. Unser Deutschlehrer entscheidet per Zufall, | |
wer vortragen soll. Der Zufall wählt mich. Ich laufe selbstbewusst zur | |
Tafel und lege los: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, ein | |
Birnbaum in seinem Garten stand …“. Applaus von meinen | |
Klassenkamerad*innen. | |
Ich bin stolz auf meine Leistung. Mein Lehrer hält kurz inne, mustert mich | |
und sagt: „Du kannst wirklich akzentfrei Deutsch. Man hört es kaum raus, | |
dass du Türke bist.“ Während ich vorn angewurzelt wie ein Birnbaum stehen | |
bleibe, fährt mein Lehrer fort. „Viele Menschen, die später Deutsch lernen | |
oder mehrsprachig aufwachsen, haben einen sogenannten Akzent.“ | |
Die restliche Schulstunde vergeht damit, dass mein Lehrer einen | |
ausschweifenden Vortrag darüber hält, durch welche Merkmale man | |
Nicht-Herkunftssprachler*innen erkennt. So jedenfalls erinnere ich mich an | |
den Vorfall. | |
Bei [1][anderen Lehrer*innen ist es noch schlimmer.] Ihnen reicht es | |
nicht, meine sprachliche Leistung zu betonen – sie verurteilen sie. | |
Regelmäßig wird sie als Erklärung noch so kleiner grammatikalischer oder | |
sonstiger Fehler herangezogen. Aus all dem zog ich folgenden Schluss: Es | |
ist enorm wichtig, dass man niemals erkennt, dass Deutsch nicht meine | |
Herkunftssprache ist. | |
## „Sprache verbindet Menschen“ | |
Meine Eltern, die in den 1970ern als Kinder von | |
Gastarbeiter*innenfamilien in das Ruhrgebiet kamen, brachten | |
meiner Schwester und mir bis zum Kindergarten erst Türkisch bei. Meine | |
Mutter benutzt heute noch das türkische Sprichwort: „Bir lisan bir insan, | |
iki lisan iki insan“. Das bedeutet sinngemäß: „Sprache verbindet Menschen… | |
Meinen Eltern war es wichtig, dass wir beide Sprachen gut beherrschen. Den | |
Feinschliff in Deutsch, so hofften sie, würden später meine Freund*innen | |
und die Schule übernehmen. | |
Im Kindergarten und in der Grundschule verabredeten wir uns dann häufig mit | |
Deutsch- Herkunftssprachler*innen und lernten die Sprache dadurch sehr | |
schnell. Zu dieser Zeit fingen unsere Grundschullehrer*innen an, die | |
Zweisprachigkeit zu kritisieren. | |
Familien mit türkischen, arabischen, italienischen, polnischen oder | |
kurdischen Wurzeln hörten von den Lehrer*innen, dass sie zu Hause | |
ausschließlich Deutsch sprechen sollten. In ihren Augen hing davon die | |
Weiterentwicklung unserer sprachlichen Fähigkeiten ab. Im Klassenraum oder | |
auf dem Schulhof wurde uns strikt verboten, in anderen Sprachen zu | |
kommunizieren. | |
In der weiterführenden Schule wurde ich gleich als hoffnungsloser Fall | |
abgestempelt. „Canberk, deine schriftlichen Fähigkeiten sind einfach nicht | |
gut. Das liegt nun einmal an deiner Herkunft“, sagte mein Deutschlehrer | |
während eines Elternsprechtags. Da war ich in der achten Klasse. Es ging | |
sogar so weit, dass mein Kunstlehrer, bei dem ich keine schriftlichen | |
Leistungen erbringen musste, mir vor der gesamten Klasse ein „Grammatik für | |
Dummies“-Buch schenkte. „Ich weiß, wer das gebrauchen könnte!“, lachte … | |
durch den gesamten Raum. | |
## Läuft es heute wirklich besser? | |
Später, in der Oberstufe, stellte mich mein Sportleistungskurslehrer vor | |
dem Kurs bloß. Meine Klausuren in den theoretischen Sportprüfungen seien | |
immer zu kurz und schlecht geschrieben. Statt zehn Seiten wie meine | |
Mitschüler*innen würde ich nur fünf Seiten schreiben, und die in | |
„einfacher Sprache“. „Ist die Argumentation denn richtig?“, fragte ich … | |
„Das hat doch damit nichts zu tun!“, antwortete er. Eine weitere Begründung | |
für meine schlechte Benotung gab er nicht. Ich ließ das so stehen. Ich | |
hatte Angst, mich gegen die Lehrer*innen zu wehren. | |
Heute nicht mehr. Anruf bei meiner alten Schule. Meine ehemaligen Lehrer | |
sind bereits in den Ruhestand gegangen, auch die damalige Schulleitung. Die | |
aktuelle Schulleiterin ist bereit mit mir zu reden, unter der Bedingung, | |
namentlich nicht genannt zu werden. Für den Presseweg über das | |
Bildungsministerium könne sie aktuell keine Zeit aufbringen. | |
Zur [2][Diskriminierung von Schüler*innen, deren Herkunftssprache nicht | |
Deutsch ist], sagt sie: „Ich kann Ihnen nicht versichern, dass diese Art | |
der Diskriminierung nicht weiterhin stattfindet. Aber wir tun unser Bestes, | |
und es hat sich in den letzten Jahren viel in der Förderung getan.“ So | |
entwickle die Schule mittlerweile Konzepte für sprachsensiblen | |
Fachunterricht – für alle Schüler*innen. Die Sensibilisierung im Kollegium | |
übernimmt laut der Schulleiterin eine interne Lehrkraft. Doch reicht das? | |
Kathrin Lemsky hat da ihre Zweifel. Die Lehrkraft für Deutsch als | |
Zweitsprache (DaZ) einer Sekundarschule in Schleswig-Holstein bemerkt heute | |
noch ein diskriminierendes Verhalten bei ihren Kolleg*innen. „Insgesamt | |
werden die Schüler*innen von manchen Lehrkräften erst mal nicht als | |
Individuum wahrgenommen.“ Die eigenen rassistischen Vorurteile gegenüber | |
Gruppen würden ihre Kolleg*innen auf die Kinder projizieren. Teilweise | |
sprächen sie mit Schüler*innen sehr langsam und laut, obwohl diese auf | |
Herkunftssprachniveau antworteten, so Lemsky. | |
## Irgendwann glaubt man selbst daran | |
Welch gravierende Folgen rassistische Vorurteile bei Lehrkräften haben, | |
belegen Studien. So erhalten Grundschulkinder mit Migrationsgeschichte | |
trotz gleicher Noten seltener eine Empfehlung für das Gymnasium als Kinder | |
ohne Migrationsgeschichte. Dazu kommt, was bei Betroffenen hängen bleibt: | |
Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, bezeugt durch die Autorität der | |
Lehrkräfte. Auf mich jedenfalls hatte das immense Auswirkungen. | |
Ich begann im Laufe der Schulzeit selbst felsenfest daran zu glauben, dass | |
ich wirklich schlecht in Deutsch bin. Ich dachte, ich könnte nicht gut | |
schreiben und wählte meine Worte enorm sorgfältig aus, damit niemand meine | |
Fehler bemerkte. Das mache ich zwölf Jahre später immer noch – auch bei | |
diesem Text. | |
Im Laufe meines Studiums und meiner Arbeit habe ich etliche Texte | |
geschrieben. Meine Unsicherheit über meine sprachlichen Fähigkeiten sorgt | |
dafür, dass ich jeden Satz, jede Deklination oder Konjugation, jedes | |
Satzzeichen mehrmals prüfe. Dabei ist es egal, ob es sich um einen | |
Chatverlauf, einen Artikel, einen Tweet oder eine wissenschaftliche Arbeit | |
handelt. Wenn ich doch einen Fehler entdecke, fühle ich mich mehr als | |
miserabel. | |
Und ich bin damit nicht allein in meinem Berufsfeld. Jessica Mancuso ist | |
Texterin, Autorin und Redakteurin. „Ich habe erst mit acht Jahren | |
angefangen, Deutsch zu lernen. Es gab Begriffe, die ich in diversen Fächern | |
nicht kannte, wodurch ich auch die Aufgaben nicht verstanden habe“, | |
erinnert sich die heute 36-Jährige. Auf ihre Nachfrage bekam sie selten | |
Verständnis für ihre Unwissenheit. „Dass ich immer gesagt bekommen habe, | |
dass ich Dinge falsch ausspreche oder Wörter nicht kenne, hat mein | |
Selbstvertrauen negativ geprägt“, sagt Mancuso. Trotz jahrelanger | |
Berufserfahrung und viel positivem Feedback hat sie immer noch enorm Angst | |
vor einem Fehler. „Wenn ich dann nach der Veröffentlichung trotzdem einen | |
Fehler finde, fühlt es sich wie Versagen an.“ | |
Ob ich irgendwann das volle Selbstbewusstsein über meine sprachlichen sowie | |
schriftlichen Fähigkeiten bekomme? Ich weiß es nicht, trotz aller | |
Erkenntnisse, die ich mittlerweile über die Diskriminierung an Schulen | |
gewonnen habe. Ich kann nur hoffen, dass Kinder und Jugendliche, die heute | |
Deutsch als Zweitsprache in der Schule lernen, nicht die gleichen | |
Erfahrungen machen wie ich. | |
Verschiedene Studien zeigen, dass der Gebrauch der Landessprache die | |
Überzeugung fördert, als Mitbürger*in akzeptiert zu werden. Außerdem | |
nimmt man sich stärker als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft des Landes | |
wahr. Die Identifikation mit dem Land wirkt sich dann positiv auf den | |
Bildungsweg, Erfolge auf dem Arbeitsmarkt sowie die Häufigkeit der | |
Sprachverwendung aus. Den Lehrer*innen muss bewusst sein, dass sie mit | |
jedem einzelnen Wort die Zukunft von jungen Menschen stark beeinflussen | |
können. Denn Sprache ist Macht. | |
7 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Diskriminierung-an-Berliner-Schulen/!5548895 | |
[2] /Diskriminierung-an-Berliner-Schulen/!5778119 | |
## AUTOREN | |
Canberk Köktürk | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schule | |
Bildungssystem | |
Diskriminierung | |
Sprache | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
N-Wort an Bremer Theater: Beschweren auf eigene Gefahr | |
Ein*e Azubi kritisiert ein rassistisches Wortes – und verliert die | |
Ausbildungsstelle. Oft tragen Betroffene die Folgen von Diskriminierung | |
allein. | |
Podcastkritik „schon gehört?“: Verstehen statt angreifen | |
Geht es um Alltagsrassismus, wird die Diskussion schnell hitzig. Der | |
Podcast „Schwarzweiss“ arbeitet die Nuancen des Problems heraus. | |
Kundgebung für Dilan Sözeri: Gegen Rassismus, für Zivilcourage | |
Nach dem mutmaßlich rassistischen Angriff auf eine 17-Jährige | |
demonstrierten Hunderte in Berlin. PassantInnen hatten beim Überfall nur | |
zugeschaut. | |
Schul-Beauftragter über Antiziganismus: „Viele outen sich nicht“ | |
Als Roma- und Sinti-Beauftragter der Hamburger Schulbehörde kämpft Marko | |
Knudsen gegen Antiziganismus. Er hat noch viel zu tun. |