# taz.de -- Kardinal reagiert auf Gutachten: Marx will bleiben | |
> Kardinal Marx hat sich erstmals Fragen zum Missbrauchsgutachten gestellt. | |
> Doch zur Verantwortung des ehemaligen Papstes schweigt der Erzbischof. | |
Bild: Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, am Donnerst… | |
München taz | Da hängt sie noch mal, die berühmte Titelseite der „Bild“: | |
„Wir sind Papst“ steht da, daneben das Bild des damals gerade gewählten | |
Papst Benedikt XVI., bis dato bekannt als Joseph Ratzinger. Auf die Seite | |
eines geparkten Transporters hat man die Zeitungsseite geklebt. Doch neben | |
dem Original hängt auch eine leicht montierte Variante: „Wir sind | |
schuldig“, steht dort. | |
Die Botschaften vor der Katholischen Akademie in Schwabing sind deutlich | |
und eindeutig. Ein paar Schritte weiter liegt ein Bischof in der | |
Hängematte, die Hände über dem Bauch gefaltet. Auf der Matte steht „12 | |
Jahre schonungslose Aufarbeitung der Missbrauchsfälle“. Die beiden Kreuze, | |
an denen die Hängematte aufgehängt ist, biegen sich unter der Last des | |
schweren Kirchenmannes, sind bereits angebrochen. Eine Skulptur aus | |
Pappmaché, im Stil der Karnevalswagen. Darunter der Schriftzug: „Urteile | |
statt Gutachten“. | |
Am schlichtesten ein Graffito an der Hauswand: „Kinderficker!“ Die Akademie | |
hat den Schriftzug bewusst erst einmal stehen lassen. „Statt den | |
Vandalismus zu beklagen oder hektisch zu übertünchen, setzen wir uns mit | |
dem Thema Missbrauch auseinander“, schreibt sie auf ihrer Website, zu der | |
sie mittels eines neben dem Graffito angebrachten QR-Codes leitet, und lädt | |
zur Diskussion ein. „So nehmen wir diesen Schriftzug als weiteren Anlass | |
zur Reflexion.“ | |
## 497 Opfer, 235 Täter – ohne Dunkelziffer | |
„Anlass zur Reflexion“ hat auch Reinhard Marx, der derweil drinnen, im Saal | |
der Akademie, sitzt und sich unter den Augen eines mannshohen Kruzifix den | |
Fragen von Journalistinnen und Journalisten stellt, die er hierher zur | |
Pressekonferenz geladen hat. Würde der Münchner Erzbischof nun, nach dem in | |
der vergangenen Woche vorgestellten Missbrauchsgutachten, zurücktreten, war | |
vorab spekuliert worden. | |
Denn, das streitet auch in der katholischen Kirche niemand mehr ab: Die | |
Lage ist ernst. Sehr ernst. In der vergangenen Woche hatte die | |
Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl das Gutachten vorgelegt. Die Kanzlei | |
hatten im Auftrag des Erzbistums in den letzten zwei Jahren | |
Missbrauchsfälle seit 1945 untersucht. Sie fanden Hinweise auf 497 Opfer | |
sexuellen Missbrauchs und 235 Täter. 173 von ihnen waren katholische | |
Priester. Über die Dunkelziffer lässt sich freilich nur spekulieren. | |
Die Gutachter hielten auch den jeweiligen Münchner Erzbischöfen massive | |
Fehlleistungen vor, besagtem Ratzinger etwa, der dem Bistum von 1977 bis | |
1982 vorstand. Oder dessen Nachfolgern Friedrich Wetter und eben Marx. | |
Vertuscht, zumindest aber weggesehen sollen sie haben. In manchen Fällen | |
sexuellen Missbrauch haben sie so eine Ahndung der Taten verhindert oder | |
dem Täter gar ermöglicht, neue zu begehen. | |
## „Hätte ich engagierter handeln können? Sicher ja!“ | |
Einen Rücktritt lehnt Marx jedoch ab. Vorerst wenigstens. Er klebe nicht an | |
seinem Amt. Aber momentan käme ihm ein Rücktritt vor, als mache er sich vom | |
Acker, sagt der Münchner Oberhirte auf der Pressekonferenz. Er wolle damit | |
nicht seine persönliche, aber auch institutionelle Verantwortung | |
kleinreden. „Ich bin doch Teil des Systems. Ich hab doch nicht auf dem Mond | |
gewohnt.“ Im vergangenen Frühjahr hatte Marx Papst Franziskus bereits wegen | |
des Missbrauchskandals seinen Rücktritt angeboten, den dieser damals | |
abgelehnt hat. Er wolle nun an der Erneuerung der Kirche mitarbeiten. | |
Sollte es sich dabei jedoch zeigen, dass seine Person eher hinderlich sei, | |
sei das heute „vielleicht nicht das letzte Wort“. Einen Rücktritt würde er | |
aber dann zunächst im Bistum „mit unseren Leuten“ besprechen und erst dann | |
den Weg nach Rom gehen. | |
Er sei noch immer erschüttert, so Marx, und wolle Betroffene und Gläubige | |
um Verzeihung bitten. Persönlich werfe er sich vor, in einem Fall „nicht | |
wirklich aktiv auf die Betroffenen zugegangen zu sein“. Der Umgang mit | |
Missbrauch in der Kirche sei für ihn Chefsache. „Ich war und bin nicht | |
gleichgültig. Hätte ich noch mehr und engagierter handeln können? Sicher | |
ja!“ | |
Das Gutachten sei für ihn kein Endpunkt, sondern ein wichtiger Baustein der | |
weiteren Aufarbeitung. „Für mich ist die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs | |
Teil einer umfassenden Erneuerung und Reform, wie das der Synodale Weg | |
aufgegriffen hat.“ Es gebe keine Zukunft des Christentums ohne eine | |
erneuerte Kirche. „Wer jetzt noch systemische Ursachen leugnet und einer | |
notwendigen Reform der Kirche in Haltungen und Strukturen entgegentritt, | |
hat die Herausforderung nicht verstanden.“ | |
## Wetter sieht sich als Kind seiner Zeit | |
Angesprochen auf die Fehler seiner Vorgänger antwortet Marx jedoch | |
ausweichend. Jeder solle sich selbst prüfen, wofür er verantwortlich sei | |
und ob der daraus Konsequenzen ziehen müsse. Der emeritierte Papst und | |
Kardinal Wetter hätten sich ja auch bereits geäußert. | |
Am Montag räumte Benedikt ein, dass er in seiner Stellungnahme für das | |
Gutachten falsche Angaben gemacht hatte. Dabei ging es um seine Teilnahme | |
an einer Sitzung, in der über die Aufnahme eines im Bistum Essen wegen | |
sexuellen Missbrauchs aufgefallenen Priesters im Münchner Erzbistums | |
entschieden wurde. Benedikt hatte die Teilnahme zunächst abgestritten. | |
Wetter seinerseits entschuldigte sich für eine „falsche Entscheidung“ in | |
einem Missbrauchsfall, versuchte sich allerdings vor allem zu | |
rechtfertigen. Mit seinem nicht ausreichend ausgebildeten | |
Problembewusstsein sei er damals nicht allein gewesen. Er sei ein „Kind | |
meiner Zeit“. | |
## Anzahl der Kirchenaustritte verdoppelt | |
Eine personelle Konsequenz verkündet Marx dann doch: Prälat Lorenz Wolf | |
habe ihn wissen lassen, dass er alle Ämter und Aufgaben ruhen lassen werde. | |
Dies habe er akzeptiert. Wolfs Rücktritt hatte etwa die katholische | |
Reformgruppe Maria 2.0, aber auch auch die bayerische FDP gefordert. | |
Wolf war seit 1997 Offizial und damit oberster Kirchenrichter in der | |
Erzdiözese und stand unter anderem auch an der Spitze des Rundfunkrats des | |
Bayerischen Rundfunks. Laut Gutachten hat Wolf einen Beitrag dazu | |
geleistet, „dass einschlägig auffällig gewordene Priester vor Maßnahmen | |
bewahrt wurden, die seitens der Kirche etabliert wurden und die | |
insbesondere dem Ziel dienten, möglicherweise drohenden erneuten | |
Übergriffen vorzubeugen“. | |
Die neuen Einzelheiten zum Missbrauchskandal in der katholischen Kirche | |
haben indes einen Exodus der Gläubigen ausgelöst. Darauf deuten Zahlen aus | |
den Standesämtern hin. In München sollen in der Woche seit der Präsentation | |
des Gutachtens 650 Termine für Kirchenaustritte gebucht worden sein – mehr | |
als doppelt so viele wie sonst in dem Zeitraum. Derselbe Trend wurde aus | |
Regensburg, Ingolstadt und Würzburg gemeldet. | |
27 Jan 2022 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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