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# taz.de -- Albanischer Fußball: Schmerzhafte Liebe
> Ein Sportbuch über Albanien schafft ein wunderbar differenziertes,
> warmherziges Panorama eines Landes mit großer Fußballkultur.
Bild: FK Partizani Tirana bei einem Spiel im Jahr 2016
Die 15 durchtrainierten Kerle vor dem Hauptquartier in der albanischen
Hauptstadt Tirana sind skeptisch. Man spreche Französisch oder gar nicht,
blafft einer der „Guerrils“, der linken Ultras vom FK Partizani. Autor
Hardy Grüne schildert lakonisch: „Ich blicke in die Runde, frage auf
Französisch, ob alle einverstanden sind. Sind sie nicht, denn kaum jemand
spricht die Sprache.“ War doch bloß ein Test.
Am Thema Kommerzkritik findet man dann doch zueinander. Und es öffnet sich
eine weitere Tür in den albanischen Fußball. Dieses Mal in die politisch
widersprüchliche Rivalität zwischen Partizani, dem einst verhätschelten
Armeeklub, und dem einst gegängelten bürgerlichen Klub Tirona, nun
Rekordmeister. „Partizani sind ja die Kommunisten, also sind wir die
Nazis“, so erklärt es ein Ultrà der Gegenseite. In dem Land, wo Linkssein
mit unfassbaren Gräueln assoziiert ist, ist Rechtssein schon mal Rebellion.
[1][„Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien“] heißt das
jüngste Buch des renommierten Fußballautors Hardy Grüne. Dass dieses Buch
existiert, ist ein kleines Wunder in Zeiten der Monokultur von Star- und
Klubbiografien. Wer schreibt schon kundig über Fußball in Albanien?
Fußballhistoriker Hardy Grüne hat Geschmack am Abseitigen und vermeidet
noch dazu angenehm die Fehler des Groundhopper-Genres mit seinen
Klischeegeschichten über hitzige Derbys. Grüne hat nämlich nichts weniger
als den gesamten albanischen Männerfußball penibel recherchiert. Und
anschließend ungefähr jedes Kaff mit Fußballgeschichte besucht.
Der Grundton des Buches ist denn auch, anders als im testosteronschwangeren
Tirana, ein melancholischer. Grüne fährt durch atemberaubende Bergpanoramen
oder von Öl verseuchte Mondlandschaften und kommt meist an einem
heruntergekommenen Provinzstadion an.
## Orte des Verfalls
Bei Klubs wie Skënderbeu Korçë, dem Arminia Bielefeld von Albanien, das
zwischen 2011 und 2018 plötzlich sieben Mal Meister wurde. Dann kamen
umfassende Manipulationen ans Licht, die Uefa sprach eine drakonische
Strafe aus – und die Fans vor Ort klagen darüber, wie an ihnen ein Exempel
statuiert wurde, der Traum einer ganzen Stadt zerstört. Oft sind es Orte
des Verfalls, mit maroden Stadien, mit Jugendlichen, die nur wegwollen, und
einem Fußball, der unter Perspektivlosigkeit, kriminellen Investoren und
Korruption ebenso leidet wie unter den übermächtigen Big-Five-Ligen.
Dabei gäbe es so viel Tradition und lokale Liebe zu pflegen, eigentlich.
Wie beim einstigen Publikumsliebling Flamurtari Vlorë, der in den 80ern
[2][mit einem legendären 1:0-Sieg über den FC Barcelona] für eine der
Sternstunden des Landes sorgte. Oder beim KS Besa in der Industriestadt
Kavaja, wo einst die demokratische Revolution begann. Der Glanz ist fast
überall vergangen, die Liebe bleibt. Ein Ex-Kombinatsarbeiter sagt: „Ich
habe keine Hoffnung mehr. Und liebe den Fußball so sehr, dass es schmerzt.“
Hardy Grüne trifft sie alle, Arbeiter, Fans, windige Investoren und
Klubmitarbeiter. Solche, die noch an eine Zukunft glauben, und solche, die
den Glauben längst verloren haben. Und er schafft damit ein wunderbar
differenziertes, warmherziges Panorama eines Landes mit großer
Fußballkultur. Wenn es eine Schwäche gibt, dann die Länge von gut 340
Seiten, sodass sich bei den vielen Porträts zwangsläufig Muster
wiederholen. Zumindest ein Kapitel zum Frauenfußball hätte dem Buch
gutgetan. Die ausführliche Recherche ist aber auch die große Stärke von
„Onkel Enver“.
Natürlich gibt es hier die schönen Schnurren, wie die von Gerd Müller und
Günter Netzer, die am Flughafen von Tirana wegen verboten langer Haare nur
knapp dem sozialistischen Flughafenfrisör entgehen konnten. Oder von George
Best, der über Spiele gegen den unangenehmen Underdog Albanien klagte: „Im
Stadion schnitten sie das Gras mit Handscheren. Es war so lang, dass sich
ein paar Tiger darin hätten verstecken können.“
Viel wichtiger aber ist Grüne die Geschichte hinter der Geschichte. Von
Albaniens Gründung als unterentwickeltem Agrarstaat über die sozialistische
Diktatur und totale Isolation, in der das Land für seine Bürger:innen
zum Gefängnis wurde – und Fußball die einzige Freude. 1987/88 hatte die
Erstligasaison unfassbare 1,8 Millionen Zuschauer:innen bei nur 3,1
Millionen Einwohner:innen. In der freieren Gegenwart dominiert die Leere,
man schaut jetzt nur noch die Großklubs in der Champions League. Albanien,
bilanziert Grüne, liebt den Fußball immer noch. Nur nicht mehr seinen
eigenen.
22 Feb 2022
## LINKS
[1] https://zeitspiel-magazin.ecommerce.ionos.de/Onkel-Enver-der-Fu%C3%9Fball-u…
[2] https://www.kicker.de/flamurtari-vlore-gegen-barcelona-1987-europa-league-8…
## AUTOREN
Alina Schwermer
## TAGS
Fußball
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