Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Menschenrechte in Tschetschenien: Kadyrows langer Arm
> Tschetscheniens Oppositionelle fürchten Verfolgung auch im Ausland. So
> wie Achmed Seriev, der von Deutschland nach Russland abgeschoben werden
> soll.
Bild: Protest gegen Entführungen in Tschetschenien vor dem Europarat in Straß…
Kiew taz | Achmed Seriev ist Tschetschene, 23 Jahre alt, lebt in
Deutschland als Asylbewerber und fürchtet um sein Leben. Nach der Ablehnung
seines Asylantrages durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(Bamf) und die zuständigen Gerichte fürchtet er eine baldige Abschiebung
nach Russland. Das wäre mit erheblichen Gefahren für ihn und seine Mutter
Sila Aidaeva, verbunden, die ebenfalls Asyl beantragt hat, sagt seine
Anwältin Olga Gnesdilowa der taz. Die niederländische Stichting Justice
Initiative (SJI) hat sich nun an den Europäischen Menschengerichtshof in
Straßburg gewandt, um Deutschland die Abschiebung verbieten zu lassen.
Begonnen hatte all der Schrecken für die Familie von Achmed Seriev in der
Nacht vom 23. auf den 24. Dezember 2016. Da wurde Achmeds Bruder Magomed
Seriev vor den Augen seiner Verwandten von Sicherheitskräften der
Tschetschenischen Republik aus seinem eigenen Haus entführt. Dann hörte die
Familie zunächst nichts mehr von Magomed.
Am 26. Januar 2017 wurde er in einer tschetschenischen Polizeikaserne
hingerichtet, ohne Gerichtsverfahren, mit weiteren 26 Inhaftierten. Die
regierungskritische [1][Nowaja Gaseta ] berichtete im Juli 2017 von diesen
Hinrichtungen. In der von der Zeitung veröffentlichten Liste findet sich
auch der Name von Magomed Seriev.
Nach dem Mord an seinem Bruder fürchteten Achmed Seriev und seine Mutter um
ihr Leben. Die Mutter wurde von den tschetschenischen Behörden „dringend
gebeten“, nicht mehr nach ihrem Sohn Magomed zu suchen. Sie habe ja noch
einen weiteren Sohn, habe man ihr drohend zu verstehen gegeben. Achmed
selbst wusste, was ihm drohte. Er war 2015 bereits Opfer einer
willkürlichen Festnahme mit anschließender Folter.
## Immer wieder Entführungen
Gegenüber der taz warnt die Moskauer Menschenrechtlerin Swetlana
Gannuschkina, Vorstandsmitglied des Menschenrechtszentrums Memorial und
Vorsitzende des Komitees Bürgerlicher Beistand vor dem Glauben, verfolgte
Tschetschenen seien außerhalb Tschetscheniens in anderen Gebieten
Russlands in Sicherheit.
Am Donnerstag erst, so berichtet Gannuschkina am Telefon, war Sarema
Musajewa, die Frau des ehemaligen Richters des Obersten Gerichts von
Tschetschenien, Sajdi Jangulbajew, aus ihrer Wohnung in Nischnij Nowgorod
von tschetschenischen Sicherheitskräften entführt worden.
Bei dieser Entführung seien auch die Anwälte ihrer Organisation
Bürgerlicher Beistand, Sergej Babinez und Oleg Chabibrachmanow, von den
tschetschenischen Sicherheitskräften misshandelt worden. Sie sieht den Fall
dieser Entführung ähnlich gelagert wie den Fall Seriev.
Der Sohn des Ehepaares, Abubakar Jangulbajew, hatte zuvor über die
Entführung von 40 Personen in Tschetschenien berichtet. Gannuschkina
fürchtet, dass man mit der „Geiselnahme“ von Sarema Musajewa ihren Mann,
der als Richter Immunität genießt, zu einer Rückkehr nach Tschetschenien
zwingen will. Insgesamt passe die Entführung Musajewas in das Schema: Das
Umfeld von Staatschef [2][Ramsan Kadyrow] jagt in ganz Russland nicht nur
ihre Kritiker, sondern auch deren Familienangehörige. „Das ist
Sippenhaftung“, so Gannuschkina.
## Wellen von Massenverhaftungen
Am Samstag drohte Kadyrow auf seinem Telegram-Kanal der Familie von Sarema
Musajewa und Sajdi Jangulbajew: „Auf diese Familie wartet ein Platz im
Gefängnis oder unter der Erde.“ Man müsse diese Familie verhaften. Sollte
sie sich der Verhaftung widersetzen, müsse man „diese Helfershelfer von
Terroristen vernichten“, zitiert das russische Portal [3][lenta.ru ] den
Staatschef.
Seit Jahren berichten Menschenrechtsorganisationen immer wieder über die
Verfolgung Andersdenkender, Strafverfahren aufgrund erfundener Vorwürfe,
Folter und Hinrichtungen im Schnellverfahren, illegale Verhaftungen,
Entführungen und das Verschwindenlassen von Menschen in
„Geheimgefängnissen“, in denen sie aller Rechte beraubt werden. 2016 und
2017 gab es in Tschetschenien Wellen von Massenverhaftungen, Folter und
Hinrichtungen im Schnellverfahren. Homosexuelle mussten um ihr Leben
fürchten.
Menschenrechtler:innen berichten von einem weiteren Höhepunkt von
Verschleppungen in der zweiten Dezemberhälfte 2021.
Anfang Januar forderten zahlreiche internationale
Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Human
Rights Watch, in einem offenen Brief an Präsident Putin Aufklärung zum
Verschwinden zahlreicher Angehöriger tschetschenischer Oppositioneller, die
sich im Ausland befinden. Viele dieser zwischen dem 20. und 30. Dezember
2021 in Tschetschenien Entführten seien nach wie vor spurlos verschwunden.
## Verschwindenlassen durch staatliche Akteure
Die Verschleppten sind Angehörige der oppositionellen Blogger Tumsu
Abdurachmanov und Hasan Halitov, des Gründers der exiltschetschenischen
Menschenrechtsgruppe Vayfond, Mansur Sadulayev, des in Hamburg lebenden
Direktors der Menschenrechtsorganisation Human Rights Centre Ichkeria,
Aslan Artsuyev und des in Russland tätigen Juristen Abubakar Yangulbayev
vom Komitee gegen Folter.
Auch wenn die Umstände dieser Verschleppungen noch nicht ganz geklärt sind,
deuten die bisher vorliegenden Beweise darauf hin, dass es sich
wahrscheinlich um ein gewaltsames Verschwindenlassen durch staatliche
Akteure handelt. Einige von ihnen wurden später freigelassen, nachdem sie
durch Drohungen und Demütigungen gezwungen worden waren, zu versprechen,
ihre Verwandten zu einer Einstellung ihrer Aktivitäten zu bewegen,
berichten die Menschenrechtler:innen.
Sie fürchten, dass einige Entführte gefoltert werden. So hat der Blogger
Abdurachmanow eine Textnachricht erhalten, die angeblich von den Entführern
stammt. Darin heißt es, seine Verwandten seien misshandelt worden und
würden erst freigelassen, wenn er sich per Video beim Präsidenten der
Tschetschenischen Republik entschuldige und jegliche öffentliche Kritik
einstelle.
## Menschenrechtspreis zurückgegeben
Im Februar 2020 war Abdurachmanow selbst beinahe einem Anschlag zum Opfer
gefallen. Der Attentäter, der ihn in seiner schwedischen Wohnung überfallen
hatte, hatte gestanden, den Auftrag aus Grosny erhalten zu haben. Ein
schwedisches Gericht hatte ihn dafür zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Wiederholt hatten russische Menschenrechtler:innen Abschiebungen von
Tschetschenen nach Russland kritisiert. Im April 2021 hatte die russische
Investigativjournalistin Elena Milaschina den Deutsch-Französischen
Menschenrechtspreis aus Protest gegen die Abschiebung des Tschetschenen
Magomed Gadajew von Paris nach Moskau der französischen Botschaft in Moskau
[4][zurückgegeben].
Wenige Wochen nach seiner Abschiebung war Gadajew in Tschetschenien in
einem Verfahren, das ohne seinen Anwalt stattfand, zu einer 18-monatigen
Freiheitsstrafe verurteilt worden. Man hatte ihm Drogen- und Waffenbesitz
vorgeworfen. Sofort nach seiner Abschiebung hatte Amnesty International die
französischen Behörden aufgefordert, Gadajew wieder aus Russland
zurückzuholen.
24 Jan 2022
## LINKS
[1] /Redaktionsbesuch-in-Moskau/!5805640
[2] /Kadyrow-in-Tschetschenien/!5798310
[3] https://lenta.ru/news/2022/01/22/kadyrov/
[4] /Wegen-Abschiebung-von-Tschetschenen/!5760736
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Tschetschenien
Ramsan Kadyrow
Menschenrechte
Entführung
Abschiebung
GNS
Schwerpunkt Pressefreiheit
Russland
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Redaktionsbesuch in Moskau: Was andere nicht zu denken wagen
Die „Nowaja Gaseta“ hat gerade Grund zur Freude – und zur Trauer. Einen
Nobelpreis gilt es zu feiern, einer ermordeten Kollegin zu gedenken.
Kadyrow in Tschetschenien: Sieger mit Protzgehabe
Ramsan Kadyrow, Herrscher über Tschetschenien, macht gern kurzen Prozess
mit Kritikern. Trotzdem wurde er jetzt wiedergewählt.
EGMR-Urteil gegen Russland: Zu wenig Aufklärung
2009 wurde die tschetschenische Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa
ermordet. Jetzt fiel ein Urteil – über die Ermittlungen Russlands.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.