| # taz.de -- Die Klassenfrage an der Kitatür: Arbeit ist scheiße | |
| > Trotzdem kann Kolumnist Jan-Paul Koopmann mittlerweile stundenlang | |
| > arbeiten, ohne von Gewalt und/oder Kündigungen zu träumen. Meistens | |
| > jedenfalls. | |
| Bild: .. andererseits lassen sich mit Arbeit leckere Sachen wir Thunfischcanap�… | |
| Ob ich arbeite, hat mich eine Erzieherin neulich an der Kitatür gefragt – | |
| mit verräterischer Vorsicht in der Stimme. Ohne diesen fiesen Tonfall hätte | |
| ich wohl zurückgefragt, ob sie damit meinte, dass ich heute noch arbeiten | |
| werde. Oder jetzt gerade arbeite. Worum es ihr aber ging, war unüberhörbar: | |
| ob ich überhaupt eine Arbeit habe. Ich kann nur spekulieren, woher ihre | |
| Zweifel rührten. An der überwältigenden Menge an Hausmännern auf dem Dorf | |
| wird es sicher nicht gelegen haben. Wahrscheinlich eher an meiner immer | |
| gleichen speckigen Trainingsjacke – oder an der Kaffeetasse, die ich bei | |
| der Kindsübergabe noch in der Hand hatte. Oder hatte ihr der kleine | |
| Mistkerl am Ende doch gesteckt, dass wir noch nie in den Urlaub geflogen | |
| sind? | |
| Also ja: Es geht um sichtbares Geld, Jacketts und andere Indizien, die in | |
| der Großstadt längst durch neue (und erheblich perfidere) ausgetauscht | |
| wurden. Mich hat’s jedenfalls kalt erwischt. Klassistisch ist aber weniger | |
| ihre Frage als meine unerwartet heftige Aversion gegen ihren Verdacht. Ich | |
| war wirklich ein bisschen beleidigt, muss ich zugeben. Nur glaube ich | |
| inzwischen, dass das weniger am Stolz auf meine Werktätigkeit liegt, | |
| sondern vielmehr an einem gefühlten Makel: weil ich nämlich tatsächlich | |
| ziemlich lange um Lohnarbeit im handgreiflichen Sinne herumgekommen bin. | |
| Zum Zivildienst musste ich, okay – im Studium aber habe ich mich lange mit | |
| ein bisschen Bafög und Halbwaisenrente durchgeschlagen. Ich hatte | |
| tatsächlich ernste Zweifel, ob ich das überhaupt könnte, irgendeinen | |
| sinnfreien Käse machen für zu wenig Geld und zu viele Chefs. Die gute | |
| Nachricht: Ich konnte. Aber es war knapp. | |
| Ich weiß noch sehr genau, wie ich am ersten Tag im ersten Job in einer | |
| sterilen Küche gigantische Mengen an Thunfisch erst aus Dosen kratzen, dann | |
| entwässern und mit Mayo aus der Plastiktüte durchkneten musste. Sechs | |
| Stunden habe ich in Dauerschleife gedacht: „Beim nächsten dummen Spruch | |
| kündige ich wieder. Ich bin ein freier Mensch, und solange ich auf dem Weg | |
| zur Tür keine:n niederschlage, können die mir gar nichts.“ Aber ich bin | |
| geblieben und habe es in der primitivpsychologischen Bullshithierarchie | |
| tatsächlich noch so viele Stufen nach oben geschafft, dass ich ganz gut | |
| leben konnte von und mit der „Systemgastronomie“. | |
| Erleichtert war ich, wirklich, weil ich mir mit um die 30 doch noch | |
| bescheinigen konnte, notfalls auch ohne Revolution oder erfolgreiche | |
| Bücher irgendwie durchzukommen. Und das wiederum wollte ich mir nicht | |
| nehmen lassen von einer vergifteten Frage an der Kitatür. | |
| Heute knete ich keinen Thunfisch mehr, beruflich nicht und privat schon gar | |
| nicht. Ich kann mittlerweile sogar stundenlang arbeiten, ohne von Gewalt | |
| und/oder Kündigungen zu träumen. Meistens jedenfalls. Streng genommen habe | |
| ich nicht einmal mehr einen Chef, sondern Auftraggeber:innen – auch | |
| wenn das reine Psychokosmetik ist und der historisch-kritischen Analyse | |
| meiner geschätzten Genoss:innen von der Rotfront nicht lange standhalten | |
| dürfte. Aber mit denen rede ich eh nicht gern über Arbeit. | |
| Über Klassenfragen hingegen schon, und genau das ist es ja: Kann ich’s mir | |
| leisten, halt einfach wieder aufzuhören, wenn es mir hier oder da zu dumm | |
| wird? Ich kann. Und natürlich ist es eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, | |
| dass es den meisten Menschen eben nicht so geht. Und wenn demnächst so | |
| eine:r vor der Kita steht – mit oder ohne Thunfischmayonnaise unter den | |
| Fingernägeln –, dann hoffe ich inständig, dass ihm oder ihr eine bessere | |
| Antwort einfällt als mein „Hä? Was? Ja, klar. Wieso?“. | |
| 20 Jan 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
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