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# taz.de -- 80er-Science-Fiction-Film „Pankow ’95“: Sozialistische Freaks…
> Gábor Altorjays „Pankow ’95“ ist eine Fundgrube von Bildern, Tönen und
> Gesichtern aus den 1980er-Jahren. Nun ist er in restaurierter Fassung zu
> sehen.
Bild: Mit dabei in der Rolle des Johann Amadeus Wolfgang Zart: Der spätere Hol…
Wenn Berlin im Jahr 1995 immer noch „Hauptstadt der DDR“ ist, stimmt etwas
nicht. Als Gábor Altorjay 1983 seinen Science-Fiction-Film „Pankow ’95“
drehte, konnte er sich den Mauerfall offenbar nicht entfernt vorstellen. So
schnell können Zukunftsvisionen ihr Verfallsdatum erreichen. Nun ist es
also eine „alternative Realität“, in der sein Film spielt. Wobei –
Realität? Im Film sieht die DDR Mitte der 1990er-Jahre derart stilisiert
und irreal aus, dass dieses „Pankow“ genauso gut in der Märchenwelt Oz
liegen könnte.
In dieser „alternativen Irrealität“ versinkt der kapitalistische Westen im
Chaos einer Wirtschaftskrise, aber davon berichten nur eingesprenkelte
Radionachrichten. Die DDR ist dagegen ein Irrenhaus geworden: Eine
Nervenheilanstalt ist der zentrale Spielort.
Dort wird Johann Amadeus Wolfgang Zart unter schwerster Medikation
gehalten, denn er hat eine popmusikalische Verschwörungstheorie
entwickelt: Die Jugend werde alle 15 Jahre durch Musik zur Rebellion
aufgestachelt. Rock ’n’ Roll, Beat, Punk: So falsch liegt er mit dieser
Fantasie im späten 20. Jahrhundert gar nicht. Sind nicht [1][einschlägige
Äußerungen des realen Walter Ulbricht] überliefert zur „Monotonie des Yeah,
Yeah, Yeah und wie das alles heißt“? Im Dunkeln bleibt im Film, warum an
der eigentlich ja den Pop entlarvenden These so bedrohlich ist, dass der
sozialistische Staat den Theoretiker gleich für verrückt erklären muss.
Erzählt wird überhaupt wenig in „Pankow ’95“. Regisseur Altorjay hat
stattdessen erkennbar Spaß daran, die Anstalt als Freakshow zu
präsentieren, regiert stramm sozialistisch von Chefarzt Dr. Werner Frisch.
Den spielt ausgerechnet Dieter Thomas Heck, ja, diese Schreckensgestalt des
deutschen Fernsehens der 1970er-Jahre, schnell redender Moderator der „ZDF
Hitparade“ – und bekennender CDU-Anhänger. Durchaus dämonisch gibt er hier
eine Art modernen Doktor Caligari, der am liebsten mit Elektroschocks und
Lobotomie arbeiten würde.
Es kommt aber noch schöner: Seinen wichtigsten Patienten, den
Verschwörungstheoretiker Zart verkörpert [2][Udo Kier], der damals schon
durch seine Arbeit mit Fassbinder bekannt war, seine große, internationale
Karriere in Hollywood aber noch vor sich hatte. Hier schauspielert er aber
nur wenig – auch agieren lässt Altorjay sein Personal nur wenig. Kiers
Gesichtsausdruck wirkt, als sei er ständig in Trance und seine grünen Augen
schauen fast immer irritierend knapp an der Kamera vorbei.
Die Besetzung ist es, die „Pankow ’95“ heute noch sehenswert macht:
Magdalena Montezuma, Kultfigur der alternativen Szene, gibt eine
Krankenschwester, Nina Hagen hat einen Kurzauftritt als Heilige Jungfrau
Maria und der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen ist zu sehen: in einer
Warteschlange mit einem riesigen Kopfhörer auf dem Kopf. Zarts Ehefrau wird
von Christine Kaufmann als leidende Diva gespielt, die alles versucht, um
ihn aus der Klapse zu holen.
Die Hauptattraktion in der Freakshow „Kuckucksnest“ ist aber Armin, ein
Retortenbaby mit grüner Haut. Er sieht als 13-Jähriger aus, als wäre er
Mitte 20, spricht aber mit einer Kinderstimme. Ihn spielt der Musiker Tom
Dokoupil („The Wirtschaftswunder“), der auch die abenteuerlich klingende
Filmmusik einspielte.
Futuristisch sind an dieser Zukunftsvision indes höchstens die aufgetürmten
Conefrisuren der Darstellerinnen, ansonsten hat sich Altorjay auch in
Sachen Produktionsdesign nicht unnötig Mühe gegeben: Ausgeleuchtet ist
alles in einem extremen Neonlicht, das zur Entstehungszeit als chic galt,
aber in der eher grauen und dunklen DDR weniger zu suchen hatte. Und wenn
Altorjay mit dem recht neuen Medium Video spielt, Aufnahmen verfremdet wie
einst Mike Leckebusch im Fernseh-„Beatclub“ und die Wärter ständig an
Überwachungsbildschirmen klopfen lässt, dann ist er auf der Höhe seiner
Zeit – aber nie darüber hinaus.
Aber Altorjay hatte auch gar nicht den Anspruch, mit „Pankow ’95“ große
Filmkunst zu schaffen. Der Ungar, Jahrgang 1946, floh 1967 in die
Bundesrepublik und machte sich – trotz seines Mottos: „Happening beginnt,
wo Kunst aufhört“ – erst mal als Happening-Künstler einen Namen. Er
arbeitete mit Wolf Vostell zusammen, dem Komponisten Mauricio Kagel und dem
Theoretiker Bazon Brock, sein Geld verdiente er unter anderem als
Hörspielautor, Nachrichtenredakteur und Übersetzer. Sein erster Film war
1982 [3][die New Wave-Satire „Tscherwonez“], 1996 drehte er noch einen
dritten Langfilm mit dem Titel „Punta Grande“.
Er selbst sagt zur Restauration und Wiederaufführung von „Pankow ’95“, es
sei „in einem Film gefangener Zeitgeist mit dem Namen Pop-Politik. Wir
lassen ihn wieder frei.“ Und genau so kann man ihn heute noch ansehen und
genießen: als eine Fundgrube von Bildern, Tönen und Gesichtern aus den
1980er-Jahren, als Neon und Video noch modern waren und das Schräge als
radikal galt.
6 Jan 2022
## LINKS
[1] https://www.mdr.de/geschichte/ddr/politik-gesellschaft/kultur/beatdemo-leip…
[2] /Schauspieler-Udo-Kier/!5031877
[3] /Hamburger-Filme-auf-dem-Filmfest-Hamburg/!5800663
## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Film
Science-Fiction
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