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# taz.de -- Nach der Flutkatastrophe im Rheinland: Ins Trockene kommen
> In Blessem hilft man sich im Bürgerforum – mit Spenden, dem Know-how
> eines pensionierten Offiziers und unterstützt von einer
> Landtagskandidatin.
Bild: Protestbanner gegen die Kiesgrube, die Blessem im Sommer ins Verderben st…
Erfstadt-Blessem taz | Antje Grothus ist ein bisschen unsicher. „Ich kenne
die Leute ja gar nicht persönlich und die mich auch noch nicht. Am Telefon
klangen alle sehr aufgeschlossen, aber wer weiß.“ Grothus engagiert sich
seit über 20 Jahren gegen den Braunkohletagebau Hambach vor ihrer Haustür
im Rheinland. Sie war in der Kohlekommission und hat mit ihrer Intiative
[1][„Buirer für Buir“] im letzten Jahr den taz Panter Preis gewonnen. Im
Mai will sie als parteipolitische [2][Quereinsteigerin] im Rhein-Erft-Kreis
für die Grünen in den Landtag einziehen.
Jetzt steht für die 57-Jährige eine Mischung aus Vorwahlkampf-Termin und
Solidaritätsaktion an, in Erftstadt-Blessem, fast 30 Kilometer weit weg vom
Braunkohleloch. In der im Juli so sintflutartig geschundenen Gemeinde geht
es zum dortigen Bürgerforum.
Bei Kaffee und Keksen sitzen wir bald in Helmut Zimmermanns plüschigem
Wohnzimmer, dicke Teppiche auf den Böden, Nippes auf den Schränken.
Zimmermann, 85, früher Abteilungsleiter bei Kaufhof, war in
Erftstadt-Blessem 15 Jahre lang der CDU-Ortsbürgermeister und saß
jahrzehntelang im Rat. Jetzt gehört er dem [3][Bürgerforum] an, das sich
ehrenamtlich um den Wiederaufbau kümmert. Man sammelt Spenden und vergibt
kleine Soforthilfen in bar. Die Mitglieder kaufen Baumärkte halbleer,
stapeln Putzmaterial, Tapeten, Kabeltrommeln und Steckerleisten in
Zimmermanns Garage, verteilen das alles und packen auch mit an. Eine Art
bürgerschaftliche Zivilbehörde.
Es ist gut geheizt bei Helmut Zimmermann. Das ist etwas Besonderes in
diesen Tagen. Denn viele Häuser in den Erft-Gemeinden haben immer noch
keinen Strom und keine Heizung. „Hier, im halb gefluteten Haus, war das
erste Einsatzzentrum des Katastrophenschutzes“, erzählt Zimmermann und
zeigt in den Flur. „Heizung haben wir erst seit einer Woche.“ Da dreht man
schon mal auf, um die Kälte aus den Wänden zu jagen.
Antje Grothus wollte ursprünglich vor Ort eine Solidaritäts-Weinprobe mit
Spendenaufruf machen. Ende Juli hatte sie das taz-Interview mit
[4][Biowinzer Christoph Bäcker] aus dem abgesoffenen Ahrtal nebenan
gelesen: „Das war so beeindruckend. Ich kann der Natur nicht böse sein, hat
er gesagt, und: Die Natur ist genau so, wie die Menschheit sie zugerichtet
hat.“
Sie orderte 200 Flaschen [5][Flutwein]. Die geschundenen Regionen helfen
sich indirekt gegenseitig, so die Idee. Dann explodierten die
Coronazahlen: Keine gute Zeit für größere Treffen, und Weinprobe online?
„Nee“, sagt Grothus, „wirklich nicht“.
Stattdessen entstand die Idee mit den Solidaritätskarten zum Jahreswechsel.
Grothus holte eine Kölner Fotoagentur mit ins Boot, dazu Vorständler ihrer
Landesgrünen. So kamen 500 bunte Karten mit Spendenaufrufen zusammen.
## Der Wiederaufbau stockt – Selbsthilfe ist gefragt
Die erste Karte übergibt sie jetzt symbolisch an Zimmermann und seine
vielen Helfer. Die anderen verschickte sie an Parteifreunde und
Geschäftspartner. Und den Biowein brachten Grothus und MitarbeiterInnen
kurz vor Heiligabend bei den rund 200 Parteimitgliedern im
[6][Rhein-Erft-Kreis] vorbei, samt Hinweis auf das Bürgerforum von Blessem.
Die Landeshilfen für den Wiederaufbau stocken, Baumaterialien sind rar,
Heizungsanlagen und Handwerker noch rarer. Manche haben bis heute gerade
einmal die komplizierten Anträge eingereicht – von wegen „unbürokratische
Hilfe“: Über den Begriff würden sie hier beim Bürgerforum alle lachen, wenn
es nicht so traurig wäre, heißt es.
Oft sind bis heute nicht einmal die Gutachten fertig. GutachterInnen gelten
als völlig überlastet. Es hakt überall. „Behörden wollen Nachweise“,
erzählt einer, „aber die sind weggeschwommen.“ Alle kennen sie hier die
Geschichte von dem Blessemer Ehepaar um die 80, das über Nacht obdachlos
geworden war und nie einen Computer bedient hatte. Als sie bei der
Ortsverwaltung um Hilfe beim Onlineantrag baten, bekamen sie hören,
solcher Support gehe aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht. Bürokratie
und Lebenswirklichkeit sind wahrlich keine Verwandten.
Das Bürgerforum sorgt für die kleinen guten Nachrichten. Einer der Männer
in der Runde berichtet von einer Dame im Nachbarort. Beim Gassigehen habe
die ihn angesprochen. Er sei doch im Bürgerforum. Da wolle sie etwas tun.
„Ich kannte die nur vom Guten-Tag-Sagen. Als ich zu Hause war, hatte ich
den Überweisungsbeleg auf dem Handy: 1.000 Euro. Und die sah nicht aus, als
habe sie es so besonders dicke.“ Bis heute hat das Bürgerforum über eine
Viertelmillion Euro akquiriert.
## Immer noch sind viele Häuser unbewohnbar
Wir laufen durch den 1.800-Seelen-Ort. Überall sieht man massive Schäden.
Meterhoch schoss das Wasser hier im Sommer durch. Durch die Fensterscheiben
sieht man weiterhin leere, unbewohnbare Häuser. Viele Fassaden haben noch
rote Kreise und Kreuze, groß wie Fahrradräder. „Das“, erläutert Gottlieb
Richardt unterwegs, „waren die Zeichen des Katastrophenschutzes in den
ersten Tagen, ob die Häuser menschenleer sind und sicher.“
Richardt ist der Geschäftsführer des Bürgerforums. Der heute 73-Jährige war
Stabsoffizier bei der Bundeswehr, weltweit als Logistik- und
Sicherheitsberater im Einsatz, im Baltikum, in der Türkei. Er weiß, wie man
anpackt und organisiert. An vielen Häusern hängen mehrere Meter breite
Transparente, in Grellgelb: „Keine Kiesgrube mehr in Blessem!“ Ja, die
Kiesgrube, sie war der Auslöser der Katastrophe. Gottlieb Richardt führt
uns hin.
Die 70 Meter tiefe, etwas außerhalb gelegene Grube expandierte seit 2016
bis an Blessems Dorfrand. „Irgendwo am Schreibtisch genehmigt“, sagt
Richardt, „unverantwortlich“. Das Irgendwo kann man genau verorten:
Bezirksregierung Arnsberg, zuständig für Bergbau in Nordrhein-Westfalen.
Das ist die gleiche Behörde, die auch die rheinischen Kohlereviere
genehmigt. Das Bergrecht erlaubt fast alles. Der örtliche Gemeinderat hatte
die Erweiterung durchgewunken: Arbeitsplätze, Gewerbesteuer. Viele hatten
gewarnt, Naturschutzverbände, Anwohnende, auch Helmut Zimmermann.
Dann stürzte alles ein am Tag nach der Flut, nahm Gebäude, Straßen und
Autos mit in die Tiefe. Richardt zeigt in das Loch, das mittlerweile
teilweise planiert ist. „Das war wie der Grand Canyon hier. Alles ist
versackt, Häuser mitgerissen, auch mehrere Reitställe am Rand.“ Nach dem
Inferno sei zunächst „ein See von drei Millionen Kubikmeter Wasser“
geblieben.
Die kleine Erft, lange schon zum Kanal begradigt, habe sich halt „ganz
natürlich den alten mäandernden Weg gesucht“ und die lockeren, fahrlässig
steilen Böschungen ins Rutschen gebracht. Die Lärmschutzwände der
angrenzenden Autobahn 61 wirkten zudem wie Leitplanken für die
Wassermassen. Gebaut wurde die Autopiste mit Material aus dem Kies- und
Fertigbetonwerk von Blessem.
Auch die Kiesgrube gehört seit 2016 den Braunkohlebaggerern von RWE,
genauer ihrer Tochterfirma Rheinische Baustoffwerke. Fern am Horizont
dampfen die Kohlekraftwerke. Da verbinden sich Antje Grothus’ Welten. „Wir
müssen umbauen“, sagt sie, „so wie im Kohlerevier. So etwas muss aufhören
und darf nicht wieder in Betrieb gehen.“ Es gelte, überall dringend die
Zeit danach zu denken: nur mit bürgerschaftlichen Beteiligungsverfahren,
transparent und nachhaltig. Bislang aber, so Grothus, herrsche „der Geist
des Beton-Strukturwandels“.
Gottlieb Richardt erzählt von Auenlandschaften, die man hier statt des
Blessemer Kieskraters vorgeschlagen habe. Antje Grothus hat Pläne
entwickelt, wie auf der alten Autobahn 4, die wegen der Kohlebagger
stillgelegt wurde, ein Radschnellweg in Richtung Köln entstehen könne.
Bislang ignoriert die schwarz-gelbe Landesregierung diese Idee. Stattdessen
plant RWE neben dem Hambacher Restwald die nächste riesige Kiesgrube. „Wie
soll da Strukturwandel funktionieren?“, fragt Grothus.
So apokalyptisch es war und ist, meint Gottlieb Richardt, sein kleiner Ort
habe noch Glück gehabt: „Wie durch ein Wunder gab es keine Todesopfer. Und
andere Orte wie Bliesheim nebenan haben deutlich größere Schäden. Aber wir
in Blessem haben die spektakulären Bilder der eingestürzten Kiesgrube.“
Diese Prominenz helfe „absurderweise jetzt bei den Hilfen“.
## Man wusste das es irgendwann passieren würde
Ob ihn die Katastrophe, politisiert habe? Richardt zögert kurz. „Eher
nicht, das wusste man doch alles vorher. Nur nicht, was und wann es
passiert.“ Der drahtige Mann hat nicht nur beruflich Welterfahrung, sondern
auch von langen privaten Expeditionen, meist per Fahrrad. Blessems
Kiesgrube sei „nichts gegen die Kupferminen in Chile, in die riesige Lkws
in Schlangenlinien herunterfahren, bis sie von oben nur noch wie Ameisen
aussehen. Oder Kirgistan. Da war ich an einer 4.000 Meter hoch gelegenen
Goldmine. Ausmaße, die du nicht glauben willst. Was da überall an Umwelt
vernichtet wird. Unfassbar.“
Die 1.250 Euro Spende von Grothus waren übrigens schon investiert, bevor
der Scheck kam: Wäschetrockner, Bodenstaubsauger, Materialien. Einer vom
Bürgerforum packt die Sachen aus Zimmermanns Lagergarage auf sein Lastenrad
und macht sich auf den Weg zu den Adressaten. „Das wusste ich gar nicht,
dass die das auch CO2-frei im Ort herumfahren“, sagt die Vorwahlkämpferin
Antje Grothus. „Ich glaube, so falsch bin ich hier nicht.“
Spenden: Opferhilfe Blessem-Frauenthal, IBAN DE07 3706 2365 1104 1630 05
30 Dec 2021
## LINKS
[1] https://www.buirerfuerbuir.de/
[2] https://www.gruene-rek.de/2021/06/gruene-im-rhein-erft-kreis-waehlen-direkt…
[3] http://www.buergerforum-blessem-frauenthal.de/
[4] /Biowinzer-ueber-die-Flut-an-der-Ahr/!5785154
[5] https://www.weingutbaecker.de/
[6] https://www.rhein-erft-kreis.de/
## AUTOREN
Bernd Müllender
## TAGS
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