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# taz.de -- Ausblick auf Weihnachten 2022: Diese eigenartigen Zeiten
> Der Opel Omikron vom Schwager steht vor der Tür, wir husten uns an und am
> Tannenbaum hängen alte Schnelltests. Eine liebevoll-dystopische Vision.
Bild: Wie wird wohl Weihnachten 2022?
Weihnachten 2020 war eine psychosoziale Katastrophe. [1][Weihnachten 2021]
wird sich anfühlen wie der zweite Teil von „Alien“ – ebenso heftig wie d…
erste Film, aber immerhin wissen wir nun, wo das Monster lauert und was es
im Schilde führt.
In diesen eigenartigen Zeiten aber macht niemand keine Fehler. Früher oder
später werden wir alle wieder miteinander reden und uns, wohl oder übel,
folglich auf Weihnachten 2022 wieder freuen können müssen. Und sei es nur
auf die altbekannten Monster, uns selbst und die bucklige Verwandtschaft.
Wir werden guten Gewissens mit dem Auto nach Hause fahren, zu den Eltern
mit ihrem Obstgarten im Mittelgebirge. Der Zug ginge auch, die
Maskenpflicht ist aufgehoben, die Taktung erhöht. Aber der Geschenke sind
zu viele, das Auto mit dem geräumigen Kofferraum ist neu, duftet noch nach
Grünheide und hat frische Lithium-Ionen-Akkus. Wir werden es unterwegs nur
zweimal aufladen müssen.
Das Laden geht schnell. Wenn wir uns dabei nicht gerade zulächeln, erfreuen
wir uns am erhebenden Blick auf die endlosen Reihen an Windrädern, die
unsere Autobahnen säumen. Zwar ist es windstill, aber die Rotoren drehen
sich dennoch. Weil uns inzwischen etwas fehlen würde, drehten sie sich
nicht. Angetrieben werden sie halb vom Fahrtwind des Verkehrs, halb vom
restlichen Kohlestrom – das war Teil des „Gute-Kompromisse-Gesetzes“.
## Last Christmas? Verboten!
Wir sind schon fast am Ziel, da läuft im Radio schon wieder „Halt Dich an
Deiner Liebe fest“, ich kann es nicht mehr hören. Du schaltest um, es läuft
„Driving Home for Christmas“, da singen sogar die Kinder mit. Uns fällt
auf, dass „Last Christmas“ dieses Jahr nirgendwo zu hören war. Niemand will
an die letzten beiden Weihnachtsfeste erinnert werden, und so wird
Kulturstaatsministerin Claudia Roth das Lied kurzerhand verboten haben.
Im Mittelgebirge liegt überall Schnee. Nicht weil es geschneit hätte, dazu
ist es noch viel zu warm. Sondern weil die Hügel im Rahmen des
„Frohe-Weihnachten-Gesetzes“ mit Schneekanonen beschossen werden. Die
Regierung hat erkannt, wie wichtig es ist, auf die Stimmungen in der
Bevölkerung zu achten.
Alles sei, wie es zwar früher nicht war, in der Erinnerung aber gewesen
sein könnte. Ein erster Schritt in diese Richtung waren staatliche
„Mikrozärtlichkeiten“, von den Schneekanonen über Prämien fürs
Richtigparken (Sternchen in Flensburg) bis zu parfümierter Post vom
Finanzamt.
Mama kommt uns auf der Treppe entgegen und knuddelt erst die Kinder, bevor
wir uns alle anhusten. Das Husten vertreibt die bösen Geister des letzten
Jahres. Papa steht in der Tür und ruft: „Da sind sie ja, unsere Leugner!“,
und wir lachen herzlich. Längst haben wir vergessen, [2][wer wann welche
Fakten leugnete] und wer mit wem nicht einmal mehr telefoniert hat. Was in
der Vergangenheit passierte, bleibt in der Vergangenheit.
Papa will wissen, warum wir so lange gebraucht haben für die Fahrt. Du
erklärst ihm, dass uns das Navi nördlich an Thüringen vorbeigeführt hat,
weil die Grenzkontrollen an der A 9 und der A 71 zu lange gedauert hätte.
Wir haben dafür Verständnis und gelernt, auch solche politischen
Entscheidungen zu tolerieren, an denen wir nichts ändern können. Besser
Separatismus als Spaltung, da sind wir uns einig und wünschen den neuen
Machthabern in Thüringen alles Gute.
Die Schwester und der Schwager sind auch schon da, wir erkennen es an ihrem
Opel Omikron in der Auffahrt. Seit das Automobil an Bedeutung verliert,
greifen die Hersteller zu ironischen Typbezeichnungen. Der Schwager hatte
eigentlich einen hyperhybriden Toyota Triage kaufen wollen, der allein vom
guten Gewissen seines Fahrers angetrieben wird. Den Namen aber fand die
Schwester dann doch daneben.
Sie arbeitet in einem Altenheim mit angeschlossenem Sanatorium und stand
deshalb lange unter Stress. Jetzt steht sie in ihrem schlichten Schwarzen
von Dior in der Küche und würzt die Weihnachtsgans, die Brille von Gucci in
die Haare geschoben.
Es tut ihr sichtlich gut, dass der Staat nun weniger in die Prävention und
mehr in die Pflege investiert. „Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist
alles nichts“, sagt sie und zieht ihre FFP2-Maske von Glööckler ganz keck
unter die Nase. Nötig ist die Maske im Grunde gar nicht mehr, wie sogar
Lothar Wieler einräumen musste („Macht doch, was ihr wollt!“). Die
Schwester trägt sie nur als modisches Statement.
Die Phi-Variante aus Venezuela war wie die Sigma-Variante aus Kanada, also
noch ansteckender als die gute alte Omikron-Variante aus Südafrika, aber
nicht so tückisch wie die Chi-Variante aus Sachsen, die sich zur
Überraschung seriöser Expertinnen tatsächlich mit einem Entwurmungsmittel
für Pferde behandeln ließ.
Die aktuelle Psi-Variante aus Liberia hingegen ist kaum infektiös,
angeblich mit Ebola verwandt, was manche Fachleute (für Rassismus) für
rassistisch halten, andere Fachleute (für Tropenmedizin) aber nur ein müdes
Schulterzucken entlockte. Laien allerdings waren über die Symptome
einigermaßen beunruhigt. Infizierte haben zunächst leichtes Fieber, bluten
dann aus den Augen, lallen Wirres und fallen endlich auf der Straße tot um.
Dieser für mitteleuropäische Verhältnisse eher drastische Anblick hatte im
Herbst 2022 die Impfskeptiker dann doch skeptisch werden lassen, zugleich
aber auch die Impfbereitschaft von Befürwortern gedämpft. Denn mit Fruit
Dragees von Mentos lässt sich eine Infektion mit Psi auch ganz gut
vermeiden. Mama meint, der Graben quer durch unsere Gesellschaft habe sich
mit Süßigkeiten gefüllt. Deshalb stehen die Bonbons auch in der alten
Porzellanschale von Oma Hildegard im Wohnzimmer immer bereit.
Die Tanne ist neben den Christbaumkugeln mit alten Schnelltests geschmückt,
die sehen aus wie kleine Eiszapfen. „Alter Falter!“, sagt der Schwager,
obwohl er genau weiß, wie ich diese Formulierung hasse. „Früher war mehr
Lametta“, sagt die Schwester, aber der Witz ist irgendwie unpassend. War
früher nicht gar kein Weihnachten?
Der Berg mit den Geschenken ist eher ein Gebirge, so lange haben wir uns
schon nicht gesehen. Gesungen werden die alten Lieder, und Papa singt
absichtlich falsch. Die Kinder packen ihre Geschenke aus und weinen ein
wenig, weil sie im kommenden Jahr wieder „unter die Leute müssen“. Ein
Leben ohne Corona, das sind sie nicht mehr gewohnt.
Der Papa macht sich über die Reste des Gänsebratens her, während Mama den
Eierlikör aus dem Keller holt. Du machst einen Witz über Streptokokken,
über den außer mir niemand lacht. Nicht einmal aus Höflichkeit. Die Kinder
quengeln und wollen nicht ins Bett. Die Kleine hatte zu viele Kekse und
übergibt sich auf den Teppich. Der Schwager sagt: „Alter Falter!“ und
probiert seine neue E-Zigarette aus. Mama wedelt den Dampf weg, aber das
beachtet er gar nicht.
Ich hatte zu viel Eierlikör, mal wieder, und rede über Politik. Das sollte
ich nicht tun. Ich schimpfe über die FDP, wegen der im Sommer die Ampel
zerbrochen ist. „Bei der Impfpflicht hätten die Grünen aber auch nachgeben
können“, gibt Papa zu bedenken. „Der Lindner hat aber die Haare schön“,
wirft Mama ein. Ich beschimpfe beide als ignorante Liberalfaschisten, die
doch nach Thüringen gehen sollen.
Du legst mir unterm Tisch die Hand auf das Bein und sagst, ich soll jetzt
besser nichts mehr sagen. Da meint der Schwager, die Kleine hätte gekotzt,
„weil ihr von den Windrädern an der Autobahn schlecht geworden ist“. Ich
balle die Fäuste und gehe ins Bad, um mein Gesicht mit Wasser zu kühlen. Es
nützt nichts, der Frust bleibt. Wie auch diese Zornfalte zwischen den
Augenbrauen. Meine besten Jahre sind verstrichen, und ich bin darüber
nichts geworden – nur alt.
Ich atme tief durch und gehe zurück ins Wohnzimmer. Die Familie hat sich
vor dem Fernseher versammelt, wo gerade eine kritische Komödie von Til
Schweiger („Willkommen bei den Sch’tikos“) zu Ende gegangen ist. Jetzt h�…
Bundeskanzler Friedrich Merz seine Weihnachtsansprache, die macht er
einfach selbst, dem Bundespräsidenten vertraut er nicht. Um des lieben
Friedens willen verkneife ich mir eine Bemerkung über die groteske
Haarinsel mitten auf seiner Glatze, die auch immer kleiner wird.
Merz redet über Wellen und Gemeinsinn, erinnert an schlimme Zeiten und den
eigentümlichen Burgfrieden, den wir miteinander und mit der „Kontinuität
der Katastrophe“ geschlossen haben.
Die sei nur noch ein „Katastrophlein“, ein „Kataströphchen“, sagt er u…
lächelt zum Abschluss mikrozärtlich: „Die Lage ist nicht mehr ernst. Nehmen
Sie sie auch nicht mehr ernst!“.
25 Dec 2021
## LINKS
[1] /Weihnachten-in-der-Pandemie/!5818091
[2] /Verschwoerungstheorien-unterm-Tannenbaum/!5821041
## AUTOREN
Arno Frank
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