# taz.de -- Gerichtsentscheidung in Rumänien: Wiedervorlage im Fall Iliescu | |
> Gegen Rumäniens Ex-Präsidenten wird ein Strafverfahren neu aufgerollt. Es | |
> geht um dessen Rolle bei gewalttätigen Zusammenstößen im Sommer 1990. | |
Bild: Darum dreht sich das Verfahren: Einsatz von Bergarbeitern im Juni 1990 in… | |
BERLIN taz | Rumäniens Oberster Kassations- und Justizgerichtshof hat am | |
Donnerstag die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gegen [1][den früheren | |
Staatspräsidenten Ion Iliescu] (91) verfügt. In der an die | |
Generalstaatsanwaltschaft gerichteten Anweisung wird auf die gewalttätigen | |
Zusammenstöße zwischen Bergarbeitern und Demonstranten im Sommer 1990 | |
verwiesen, im Laufe derer vier Menschen ermordet wurden. Die als | |
„Mineriade“ bezeichneten, in die Geschichte eingegangenen Ereignisse fanden | |
zwischen dem 13. und 15. Juni 1990 statt. | |
Tausende aus dem Schiltal herbeigerufene Bergarbeiter sollten eine im April | |
des gleichen Jahres organisierte, wochenlange Marathondemonstration auf dem | |
Bukarester Universitätsplatz beenden. Ion Iliescu, der maßgeblich am Sturz | |
des kommunistischen Diktators Nicolae Ceauşescu im Dezember 1989 beteiligt | |
war und danach dessen Nachfolge an der Spitze des Staates angetreten hatte, | |
soll 1990 die Bergarbeiter in die Hauptstadt gerufen haben, um die | |
Demonstranten zum Aufgeben zu zwingen. | |
Während der schweren Ausschreitungen, an denen auch frühere | |
Securitateoffiziere beteiligt waren, verwüsteten die Bergarbeiter Teile der | |
Universität, zahlreiche Demonstranten wurden misshandelt und festgenommen. | |
In einem von Roma bewohnten Stadtviertel kam es zu rassistischen | |
Übergriffen. | |
In einer Ansprache dankte Iliescu den Bergarbeitern für ihren Einsatz, | |
nachdem er zuvor die Demonstranten pauschal als Halunken und | |
rechtsextremistische Legionäre bezeichnet hatte. Diese würden einen | |
Staatsstreich planen, um die am 20. Mai 1990 frei gewählte Regierung aus | |
dem Sattel zu heben. | |
## Aktive Trittbrettfahrer | |
Dass sich unter den Demonstranten tatsächlich zahlreiche Anhänger der | |
früheren faschistischen Eisernen Garde tummelten und einige der | |
Organisatoren kurz nach dem Bergarbeitereinsatz eine der ersten | |
rechtsextremistischen Parteien des Landes, „Bewegung für Rumänien“ (MPR), | |
gründeten, war im Strudel der Ereignisse untergangen. | |
Viele der Teilnehmer an den Protestaktionen von 1990 forderten von der | |
Justiz im Laufe der letzten drei Jahrzehnte immer wieder, Iliescu zu | |
bestrafen. Als besonders aktive Trittbrettfahrer dieser Forderungen | |
erwiesen sich auch selbsternannte, nationalistisch radikalisierte Anführer | |
von Organisationen wie dem so genannten „Verband der Opfer der | |
Bergarbeitereinsätze 1990-1991“ (AVMR). | |
Der Vorsitzende des Verbands, Viorel Ene, entpuppte sich in den vergangenen | |
Jahren als lautstarker radikaler Aktivist [2][antisemitischen Zuschnitts]. | |
Besonders auffallend für seine Einstellung war ein offener Brief, den Ene | |
2010 mit anderen Rechtsradikalen an den damaligen israelischen Präsidenten | |
Shimon Peres richtete. Darin wurde dieser aufgefordert, den | |
„kommunistischen Holocaust“ öffentlich zu verdammen. | |
In dem Brief, betitelt „Rumänien ist nicht der Gazastreifen“, wird das | |
antisemitisch angehauchte Klischee strapaziert, wonach die Juden | |
beschuldigt werden, den Kommunismus in Rumänien eingeführt zu haben. Die | |
Verbrechen der Geheimpolizei Securitate werden ausschließlich jüdischen | |
Securitatemitarbeitern angelastet. Gleichzeitig wird der jüdischen | |
Minderheit aus Rumänien unterstellt, die christliche Orthodoxie anzugreifen | |
und die inneren Angelegenheiten des rumänischen Staates unangemessen zu | |
beeinflussen. | |
## Protest vor israelischer Botschaft | |
Der Verband von Viorel Ene beteiligte sich außerdem mit anderen | |
rechtsradikalen Organisationen 2010 an einer Demonstration vor der | |
israelischen Botschaft in Bukarest, bei der ähnliche Forderungen wie in dem | |
Brief an Peres vorgetragen wurden. | |
In dieser immer von Neuem angefachten Diskussion über die Rolle Iliescus | |
während des Bergarbeitereinsatzes hat die Militärstaatsanwaltschaft im | |
Laufe der Jahre eine Akte angelegt, die 413 Ordner umfasst. Die | |
Erkenntnisse wurden in einer 2.000 Seiten langen Anklageschrift | |
zusammengezogen. 46 Personen wurden in den letzten Jahren als potentielle | |
Täter vernommen, 1.388 als Opfer, 146 als Angehörige der Opfer und 589 als | |
Zeugen. Etwa 2.300 wurden im Laufe der Untersuchungen zur | |
Staatsanwaltschaft einbestellt. | |
Das Mammutunterfangen erwies sich jedoch strafrechtlich gesehen als | |
unbrauchbar, sodass die frühere Generalstaatsanwältin Laura Codruţa Kövesi, | |
heute europäische Chefanklägerin, 2009 den Beschluss erließ, das Verfahren | |
einzustellen. | |
Der Oberste Kassations- und Justizgerichtshof hat nun am Donnerstag dem | |
Antrag der Generalstaatsanwaltschaft stattgegeben, den Beschluss von 2009 | |
aufzuheben und das Verfahren erneut aufzurollen. Dies hat zur Folge, das | |
die Strafverfolgung Iliescus fortgesetzt wird. Ob die rumänische Justiz | |
jemals in der Lage sein wird, die Ereignisse strafrechtlich aufzuklären, | |
steht in den Sternen. | |
4 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
William Totok | |
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