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# taz.de -- Buch über Spätfolgen der Treuhand: Volkseigentum und Kolonialismus
> Die Leipziger Kultursoziologin Yana Milev widmet sich in ihrem 2020
> erschienen Buch „Das Treuhand-Trauma“ den „Spätfolgen der Übernahme�…
Bild: Das letzte Volkseigentum: Einwegfeuerzeuge
Der Historiker Marcus Böick bezeichnete die Treuhand als „Bad Bank“ der
deutschen Erinnerungskultur, als eine Einrichtung, in die soziokulturelle
beziehungsweise sozioökonomische Abstiegs-, Entfremdungs- und
Zurücksetzungserfahrungen „ausgelagert“ wurden. Die [1][Leipziger
Kultursoziologin Yana Milev] hat 2020 die Erinnerung an diese
Kolonialisierungszentrale noch einmal hervorgeholt mit ihrem Buch „Das
Treuhand-Trauma. Die Spätfolgen der Übernahme“. Für die Autorin ist diese
von westdeutschen Antikommunisten gegründete Anstalt, in der sich Gauner
und Betrüger die Klinke in die Hand gaben, ein „Modellfall der neoliberalen
Annexion“.
Ich habe mir einmal im Kartellamt eine Liste aller privatisierten Betriebe
im Elektrobereich besorgt, sie hörte jedoch bei „L“ auf. Als ich mir auch
noch die andere Hälfte im Amt erbat, bekam ich keine Antwort mehr. Bei
Durchsicht der ersten Hälfte wurde aber bereits deutlich, dass der
Siemens-Konzern die übergroße Mehrheit der ganzen VEB in diesem
Wirtschaftsbereich „übernommen“ hatte, die er dann wahrscheinlich peu à p…
stillgelegt hat, wozu ihm vermutlich noch einige Milliarden DM vom
Weststaat zugeschoben wurden – als eine Art Verlustausgleich. So wie der
BASF (Kali & Salz) für die Übernahme und Schließung des Bergwerks in
Bischofferode.
Die „neoliberale Annexion“ hat aber laut Yana Milev nicht nur alle
volkseigenen Betriebe liquidiert, es verschwanden auch „90 Verlage, 1.700
Zeitungen und Zeitschriften, 217 Theater, 10 staatliche Puppentheater, 87
Orchester, 955 Museen, 190 Musikschulen, 99 Musikkabinette, 16.900
Bibliotheken, 1.500 Kultur- und Clubhäuser, 805 Kinos, 450 Galerien, 200
Heimat- und Volkskunst-Museen, 10.000 Jugendklubs, 1.000 Kulturhäuser der
VEB, 3 Staatszirkusse (Aeros, Berolina, Busch), 300 öffentliche
Spielplätze, 161 spezifische Trainingszentren, 1.820 DDR-Trainingszentren,
der Rundfunk der DDR mit je 2 Rundfunkchören, Sinfonie- und
Unterhaltungsorchestern sowie 3 Tanzorchestern und 2 Rundfunk-Kinderchören,
ferner das Fernsehen der DDR und das Defa-Filmkombinat“.
Der Schriftsteller Lothar Baier urteilte: „Die Bundesdeutschen entdeckten
in der ihnen plötzlich zugänglich gewordenen DDR ein Terrain, auf dem sich
ein Stück versäumter Kolonialgeschichte nachholen lässt.“ Diese
Kolonialisierung war mit der Auflösung der Treuhandanstalt nicht beendet,
sondern hält noch immer an – wenn auch vor allem in Form von Demütigungen
und Unverschämtheiten. Etwa so wie ein THA-Bereichsleiter auf einer
Treuhand-Konferenz im Kongresszentrum am Alexanderplatz zu einem Kollegen
meinte: „Ich muss unbedingt mal wieder Ostweiber beschlafen.“
Oder der Jurist Jörg Stein, der als „Parteienverräter“ im Osten reich
wurde: Er arbeitete gleichzeitig für die Treuhand (70.000 DM monatlich),
für die IG Metall (5.000 DM) und für die Belegschaften (allein für die
Sozialplanbegleitung des Betriebsrats der Mikrotechnologischen Gesellschaft
Frankfurt (Oder) 500.000 DM). In seinen unverschämten Briefen an die
Betriebsräte zitierte er Marx und Brecht.
## „Schlimmer als Kolonialoffiziere“
Der erste [2][Treuhandchef Detlev Rohwedder,] der die Mehrzahl der Betriebe
„sanieren“ und nicht nur „abwickeln“ wollte (und deswegen wahrscheinlich
erschossen wurde – von einem „unbekannten Russen“, wie Westmedien sofort
mutmaßten) sah es kommen: „Die benehmen sich schlimmer als
Kolonialoffiziere,“ meinte er über das Wirken eines Teils seiner THA-Truppe
und der im Osten zu Hunderten eingefallenen „Manager“.
Im Sommer saß ich in einem Pankower Restaurant auf der Raucherterrasse, am
Nebentisch unterhielten sich zwei Männer, sie sahen aus wie gut genährte
Geschäftsleute. Der eine sagte, etwas lauter werdend: „Du hast mein
Feuerzeug eingesteckt.“ Der andere griff in seine Jacketttasche und holte
ein durchsichtiges Einwegfeuerzeug heraus: „Meinst du das?“ – „Ja,genau…
„Das ist nicht deins!“ – „Wie bitte?!“ – „Weißt du das nicht, se…
Wende sind Einwegfeuerzeuge und Kugelschreiber Volkseigentum.“ – „Okay,
dann gib du mir deinen Kugelschreiber.“
26 Dec 2021
## LINKS
[1] https://www.yanamilev.ch/
[2] /Netflix-Doku-zu-Rohwedder-Attentat/!5714278
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Kolonialismus
Deutsche Einheit
Treuhand
Wiedervereinigung
Kolumne Wirtschaftsweisen
Viren
Kolumne Durch die Nacht
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