# taz.de -- Journalistisches Start-up Flip: Funktioniert das auch? | |
> Das journalistische Start-up Flip prüft, ob Unternehmen das halten, was | |
> sie versprechen. Ihr bisher größtes Projekt ist die „Sneakerjagd“. | |
Bild: Weg mit den alten Tretern. Und dann? | |
Felix Rohrbeck ist noch nicht wieder ganz fit. Nur anderthalb Tage sind | |
vergangen seit seinem Rückflug von Nairobi nach Hamburg. In Kenia hat er | |
versucht, die alten Puma-Sneakers von Linda Zervakis aufzuspüren, die er | |
wenige Wochen zuvor [1][selbst in einen Altkleidercontainer gab]. Er und | |
sein Team hatten die Schuhe mit einem GPS-Sender versehen und konnten | |
nachverfolgen, wie sie erst in einem Second-Hand-Shop in Altona verweilten | |
und anschließend über Antwerpen, den Suezkanal und Oman auf dem größten | |
Klamottenmarkt Nairobis landeten. | |
Dort ließ sich Rohrbeck von einer Boutiquebesitzerin erklären, wie die | |
Textilschwemme aus dem Ausland der lokalen Industrie schadet, und er | |
besuchte eine Mülldeponie, auf der der überwiegende Teil der importierten | |
Kleidung und Schuhe am Ende vergammelt. Mit der [2][„Sneakerjagd“ will das | |
journalistische Start-up Flip die Recyclingversprechen großer Modemarken | |
überprüfen]. Promis wie Jan Delay, Joy Denalane und Carolin Kebekus gaben | |
dafür ihre alten Treter ab, die Flip-Redaktion warf sie in | |
Altkleidercontainer und Recyclingboxen von Zara, Nike oder Adidas, die | |
damit werben, ihnen „ein neues Leben zu schenken“. | |
Die „Sneakerjagd“ ist das bisher aufwendigste Projekt der jungen Hamburger | |
Redaktion, die sich mit ihrer Berichterstattung kein geringeres Ziel | |
gesetzt hat, als „zu einer besseren Wirtschaft beizutragen“. Mit all den | |
-tivs, die immer wieder fallen, wenn Menschen befragt werden, für welchen | |
Journalismus sie Geld ausgeben würden: interaktiv, innovativ, investigativ, | |
konstruktiv. | |
Action-Verbraucherjournalismus für eine junge Zielgruppe also? Das | |
Kerngeschäft von Flip ist allerdings nicht die Sneakerjagd, es sind Checks, | |
sogenannte „Flips“, bei denen einzelne Produkte, Unternehmen und | |
Initiativen auf Greenwashing und generelle Wirksamkeit überprüft werden. | |
„Wir hatten einfach das Gefühl, dass auf diesem riesigen | |
Nachhaltigkeitsfeld unter Verbrauchern große Unsicherheit herrscht. Was | |
hilft wirklich, was gibt vor, ein Problem zu lösen, das es gar nicht | |
gibt?“, sagt Felix Rohrbeck. „Wir waren uns einig, dass in dem Bereich ein | |
Akteur fehlt, der harte Recherchen macht und das dann lösungsorientiert | |
weiterdenkt.“ Mit „wir“ meint der 41-Jährige sich und seinen Kollegen | |
Christian Salewski. Beide arbeiteten zusammen bei der Financial Times | |
Deutschland, später recherchierten sie gemeinsam jahrelang zum | |
Cum-Ex-Skandal, Rohrbeck bei der Zeit, Salewski bei „Panorama“. | |
## 9.300 Newsletter-Abos | |
Bei Rohrbeck sei irgendwann der Wunsch gereift, Wirtschaftsthemen nicht | |
immer nur so zu beackern, dass das Gefühl übrigbleibe, alles sei schlimm | |
und korrupt, sondern sie so anzugehen, dass am Ende irgendwem geholfen ist. | |
Mit den Checks, den „Flips“, wollen sie ihre Nutzer:innen unterstützen, | |
gewissenhafte Kauf- und Investitionsentscheidungen zu treffen. | |
Ist der [3][„Recup“ wirklich so viel besser als ein Einwegbecher]? Hält die | |
Öko-Bank Tomorrow ihre Nachhaltigkeitsversprechen? Und kann die Initiative | |
Brand New Bundestag für mehr Diversität im Parlament wirklich was bewirken? | |
Die „Flips“ sind nach dem immer gleichen Muster aufgebaut: Was ist das | |
Problem? Funktioniert das auch? Was sagen die Expert:innen? | |
Abschließend eine kurze Einschätzung aus der Flip-Redaktion als | |
Sprachaufnahme. Den Erfinder:innen des Produkts wird dabei in der Regel | |
der meiste Raum gegeben: Sie dürfen unter „Funktioniert das auch?“ | |
erklären, was ihr Produkt so revolutionär macht. Die Bewertung des oder der | |
Expert:in, beispielsweise von der Verbraucherzentrale oder einer NGO, | |
fällt im Verhältnis meist ein wenig knapper aus. | |
Am Ende entscheiden die Leser:innen: Über einen Button im kostenlosen | |
Newsletter, für den sich bisher etwa 9.300 Menschen registriert haben, | |
geben sie einen Score ab. Das Endergebnis prangt dann später als knallroter | |
Stempel auf der Flip-Website. Dafür, dass dieser Score groß inszeniert | |
wird, erfährt man recht wenig darüber, wie er zustande kam. Wie viele | |
Menschen haben abgestimmt? Was sind ihre Begründungen? Laut Felix Rohrbeck | |
seien es immer mehrere Hundert Leser:innen. | |
Um es zu manipulieren, müsste man sich dementsprechend Dutzende | |
Fake-Accounts anlegen. „Aber wir sind da definitiv noch am Anfang“, sagt | |
er. Ein Gegenmodell zum dreckigen Geschäft mit den Ökosiegeln sei es | |
allemal. | |
Und warum den Leser:innen so viel Entscheidungsgewalt geben über eine | |
Recherche? Felix Rohrbeck sieht den Flip-Score als Zusammenspiel zwischen | |
Redaktion und User:innen: „Wir tragen die Fakten zusammen und unsere Leser | |
oder Leserinnen treffen eine Bewertung“, sagt er. | |
## Eine dauerhafte Finanzierung gibt es noch nicht | |
„Es entsteht da ja auch eine Crowd-Intelligenz, die hilfreich ist bei | |
Fällen, wo man sich drüber streiten kann, wie gut ein Produkt oder eine | |
Initiative ist.“ Was die Redaktion außerdem beschäftigt: Welchen | |
Hersteller, beispielsweise für Periodenunterwäsche, schaut man sich genauer | |
an, wenn es doch schon so viele Anbieter gibt? Und was ist mit | |
Follow-up-Recherchen? Manche Start-ups, die anfangs alles richtig gemacht | |
haben, werden später von größeren Unternehmen gekauft. Mit ihrem Produkt | |
müsste man sich dann eigentlich von Neuem beschäftigen. | |
Und wie fühlt sich das für Wirtschaftsjournalist:innen eigentlich an, | |
wenn es bei einem „Flip“ ganz und gar nichts auszusetzen gibt? „Das fiel | |
uns am Anfang schon schwer, wir sind ja gepolt darauf, das Haar in der | |
Suppe zu finden“, sagt Rohrbeck. „Aber mittlerweile kann ich mich richtig | |
freuen, wenn rauskommt, dass ein Produkt oder eine Initiative tatsächlich | |
was verändert.“ Trotzdem bringen Recherchen, wie die zu dem | |
[4][Putzmittelhersteller Everdrop, der bei Flip krachend durchfiel], wohl | |
die meiste Aufmerksamkeit. | |
Das Start-up arbeitet aktuell noch ausschließlich mit freien | |
Mitarbeiter:innen. Die Anschubfinanzierung kam von Stiftungen und | |
Rechercheförderungen, ein nachhaltiges Modell gibt es noch nicht. Etwas | |
Umsatz machen sie unter anderem mit sogenannten Flipboxen, in denen sich | |
fünf Produkte mit den höchsten Flip-Scores befinden und ein umfangreiches | |
Magazin. Die Suche nach der passenden Finanzierung ist eine der | |
Herausforderungen, die Felix Roherbeck und seine Kolleg:innen auf das | |
nächste Jahr schieben. | |
Eine andere ist die Frage, was folgen soll aus so großangelegten Recherchen | |
wie der Sneakerjagd. Wie weit sie gehen wollen, um „zu einer besseren | |
Wirtschaft beizutragen“ und ob das noch journalistisch wäre. | |
„Wir wissen noch nicht, ob wir konkrete Forderungen an die Politik stellen | |
oder recherchieren, wie ein wirklich nachhaltiger Sneaker aussehen müsste“, | |
sagt Rohrbeck. Auch eine Petition zu starten, schließt die Redaktion nicht | |
aus. Das sei alles aber noch ganz vage. Sicher ist nur: Den Segen der | |
Community braucht’s. | |
14 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Schreddern-von-neuen-Schuhen/!5810966 | |
[2] https://sneakerjagd.letsflip.de/ | |
[3] /Muellvermeidung/!5640488 | |
[4] https://letsflip.de/wie-everdrop-eine-putz-revolution-anzetteln-will/ | |
## AUTOREN | |
Leonie Gubela | |
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