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# taz.de -- Entbindungsschnitt für Erstgebärende: Unkontrolliert gebären
> Ich hänge der verkitschten Vorstellung an, dass Geburten natürliche
> Vorgänge sind. Schon Marx wusste, dass sie mit Arbeit nichts zu tun
> haben.
Bild: Dieser Kreißsaal vermittelt doch die klare Botschaft: Geburten sind nat�…
„So“, sagte [1][meine Friseurin] und tätschelte mir die Schulter, „ich
verpass’ dir jetzt den Entbindungsschnitt“. Es ging um meine Haare, wenige
Tage vor dem errechneten Geburtstermin. Wie alle ihre erstgebärenden
Kund:innen war ich überzeugt, dass mein Leben, so wie ich es kannte,
vorbei sein würde, sobald das Kind draußen ist. Das ist zwar richtig – aber
zum Friseur schaffen es die meisten dann doch, bevor das Kind läuft.
Nur wenn es zu alt ist für den hausgemachten Topfschnitt, braucht man mit
ihm nicht zu Jessi zu gehen. Meine Friseurin sagt, sie habe nichts gegen
Kinder, sie wolle ihnen nur nicht die Haare schneiden. „Dafür fehlt mir die
Geduld.“ Das denke ich auch jeden Morgen. Ich habe nichts gegen Kinder, ich
will sie nur nicht wecken müssen, dafür fehlt mir die Geduld. Dabei ist
Jessi sehr geduldig mit ihren erwachsenen Kund:innen und wird nur streng,
wenn sie eine Gefahr für Leib oder Seele abwenden muss. Etwa eine
Dauerwelle.
Und dann dieses Gequatsche den ganzen Tag! Personen können ja nicht nur
weiblich gelesen, sondern auch gehört werden. Viele reden nämlich sehr
gerne sehr viel. Weniger, um zu zeigen, wie viel sie aus dem aktuellen
Spiegel oder Karl Lauterbachs Twitteraccount behalten haben, sondern um in
Beziehung zu bleiben. Ich rede, also werde ich geliebt.
Ich bewundere Jessi dafür, dass sie das aushält. Weil ich selbst eine miese
Zuhörerin bin, wenn mich ein Thema nicht interessiert, zum Beispiel der
Inhalt der jüngsten Pokémon-Folge. Damit riskiere ich die geistige
Verblödung meiner Kinder und ihr Abdriften in Computerwelten, weil nach
Ansicht aller Expert:innen zum Thema das einzige Gegenmittel darin
besteht, Interesse am Medienkonsum der Kinder zu … ähm … zeigen.
Jessi zeigt Interesse an dem, was ihre Kund:innen beschäftigt. So hat sie
auch mir zugehört, als ich minutiös die Geburten meiner Kinder beschrieben
habe. Wie der Kopf von Kind zwei schon draußen war, sich dessen Schulter
aber hinter meinen Beckenknochen verkantet hatte und ihm deshalb
kopfüberhängend das Fruchtwasser in den Mund lief.
## Der Stuhlgang entzieht sich der Kontrolle
Niemand hatte geahnt, wie schwer dieses Kind war, und das war ein Segen,
denn sonst hätte meine Gynäkologin besorgt geguckt und mir die
Wahrscheinlichkeit vorgerechnet, mit der Kinder über vier Kilo im
Geburtskanal stecken bleiben, und ob es nicht besser wäre, nicht ins
Geburtshaus, sondern eine Klinik zu gehen.
Ja, genau, Geburtshaus. Ich bin eine der wenigen, die mehr Angst vor den
Komplikationen haben, die in Krankenhäusern produziert werden, als vor
denen, die einfach so passieren, weil Geburten unberechenbar sind. Davon
abgesehen habe ich die völlig verkitschte Vorstellung, dass die meisten
Geburten natürliche Vorgänge sind, denen am besten ihr Lauf gelassen wird
und dazu magisch, mystisch, einzigartig. Typisch Akademikerin halt. [2][Zu
viele Statistiken gelesen.]
Wenn ich aber eins nicht leiden kann, ist es das Wort „Geburtsarbeit“, das
viele Geburtshaus-Hebammen sehr gerne verwenden. „Arbeit“ definiert
zumindest Karl Marx als einen „Prozess, worin der Mensch seinen
Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und
kontrolliert“. Aber Geburten hat Marx damit bestimmt nicht gemeint, denn ab
einem bestimmten Punkt lässt sich ja nicht mal mehr der Stuhlgang
kontrollieren.
Und haben Sie mal versucht, mit vollständig geöffnetem Muttermund und Wehen
alle zwei Minuten in die Mittagspause zum Italiener nebenan zu gehen?! Oder
hören Sie sich sagen „Tschüssi, ich mach Feierabend und morgen weiter“?
Ich möchte auch nicht, dass irgendwer misst, wie gut ich meine
Geburtsarbeit erledigt habe. Meine Hebammen hingegen haben ihren Job
genauso gut gemacht wie meine Friseurin. Bevor ich die Frage „Ist das eine
Schulterdystokie?“ beendet hatte, hatten sie mich so positioniert, dass der
Rest des Kindes hinterher kommen konnte.
23 Nov 2021
## LINKS
[1] /Leben-als-weiblich-gelesene-Person/!5809086
[2] /Debatte-Geburt-und-Familie/!5312563
## AUTOREN
Eiken Bruhn
## TAGS
Geburt
Kolumne Beim Friseur
Karl Marx
Frauen
Kolumne Beim Friseur
Frauen
Gender
Debattenreihe Familienangelegenheiten
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