# taz.de -- Anklagen gegen Flüchtende: Opfer werden zu Tätern gemacht | |
> Wegen Beihilfe zur illegalen Einreise geraten immer öfter Flüchtende vor | |
> Gericht und ins Gefängnis. Ziel ist, Menschen von der Flucht abzuhalten. | |
Bild: In Libyen rettete Sea Watch Mitte Oktober gekenterte Flüchtende | |
Was Staatsanwälte in einigen Ländern des Mittelmeers derzeit gegen | |
Flüchtlinge und ihre Helfer:innen vorbringen, daran glauben sie | |
zweifellos selbst nicht: [1][Menschenhandel], Spionage, gar Terrorismus – | |
mit solchen Vorwürfen geht die Justiz derzeit gegen viele Geflüchtete vor, | |
weil sie unerlaubt eingereist sind und nichts weiter. Die Berichte von | |
Menschenrechtsorganisationen über solche Prozesse häufen sich jüngst. | |
Was die Fälle eint, ist, dass [2][Opfer zu Tätern] gemacht werden, um | |
andere abzuschrecken. Vor Jahren wurden die Strafen für Menschenhandel | |
EU-weit verschärft. Der Impuls, Opfer von Menschenhandel zu schützen, war | |
richtig. Was an den [3][EU-Außengrenzen] geschieht, ist aber in aller Regel | |
kein Menschenhandel. Denn der richtet sich im Zweifelsfall gegen den Willen | |
des Betroffenen und ist auf dessen langfristige Ausbeutung angelegt. | |
Worum es tatsächlich geht, ist allenfalls Beihilfe zur unerlaubten | |
Einreise. Die wiederum ist für Flüchtlinge oft der einzige Weg an einen | |
sicheren Ort. Diese Beihilfe mit Menschenhandel gleichzusetzen, verkennt | |
vorsätzlich den gewaltigen Unterschied im Unrechtscharakter der beiden | |
Dinge. So steht das Strafmaß in vielen Ländern in keinem Verhältnis zu | |
anderen Delikten. | |
Man kommt heute in Griechenland besser weg, wenn man des Bankraubs | |
überführt wird, als wenn man ein Flüchtlingsboot durch die Ägäis steuert. | |
Viele der tatsächlichen Schlepper haben daraus eine Konsequenz gezogen: | |
Flüchtlingsboote steuern sie nicht mehr selbst. Angesichts der drohenden | |
Strafen ist das viel zu gefährlich. Stattdessen lassen sie die Flüchtlinge | |
allein aufs Boot – die meist nicht einmal schwimmen können, regelmäßig in | |
Seenot geraten und oft ertrinken. | |
Der heraufgesetzte Strafrahmen ignoriert die Frage, ob die Angeklagten | |
Profite gemacht haben oder nicht. Schlepper oder „Menschenhändler“ tun das, | |
was sie tun, um Geld zu verdienen. Dieses Tatmerkmal wurde vor einiger Zeit | |
– ebenfalls EU-weit – fallen gelassen. Staatsanwälte und Richter können | |
Geflüchtete heute so behandeln, als betrieben diese ein mafiöses Business, | |
obwohl sie mit der Überfahrt, etwa aus der Türkei, keinen Gewinn erzielt | |
haben, sondern vielmehr für diese selbst bezahlten. | |
Wer herkommt, um Schutz zu suchen, muss so damit rechnen, hinter Gittern zu | |
landen, und zwar teils lebenslang. Selbst Seenotretter:innen werden | |
juristisch als Schlepper:innen verfolgt, ohne dass der Vorwurf bestünde, | |
sie hätten sich bereichert. Manche, die Tausende Menschen gerettet haben, | |
stehen vor jahrelanger Haft. Eine Justiz, die sich dafür hergibt, braucht | |
den unbedingten Willen, das Recht zu missbrauchen, um Flüchtlinge | |
fernzuhalten. | |
8 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_1663 | |
[2] /Toedliche-Flucht-nach-Samos/!5731919 | |
[3] /Folter-an-den-EU-Aussengrenzen/!5769541 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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