# taz.de -- Zu Besuch in Guantánamo: Liebevolle Orte mit miesem Image | |
> Guantánamo ist nicht nur ein Gefangenenlager, sondern auch ein | |
> kubanisches Städtchen. Ein Zuhause für viele aus der englischsprachigen | |
> Karibik. | |
Bild: Entlang der Gleise durch Guantanamo Stadt, Kuba | |
Vor fast zehn Jahren hat es mich zum ersten Mal nach Kuba verschlagen. Ohne | |
Plan, nur mit ein paar lausigen Brocken Spanisch. Und weil Orte mit einem | |
miesen Image seit jeher eine unwiderstehliche Anziehung auf mich ausüben, | |
landete ich auch in Guantánamo – einer freundlichen, eher ereignisarmen | |
Stadt, knappe 15 Kilometer und dabei Lichtjahre von [1][Guantanamo Bay | |
entfernt]. | |
Mitten im Zentrum gemahnte eine Landkarte an das nach wie vor „von den | |
Amerikanern widerrechtlich okkupierte Gebiet“. Dort lief ich auf der Straße | |
einer Kubanerin zu, die gerade kurz davor war, in Deutschland einzuheiraten | |
und mich begeistert über die BRD befragte. Ich müsse mal ihr Viertel | |
kennenlernen, beschloss sie, und schleppte mich mit zu ihren Nachbarn, | |
ihren Freunden und ihrer Familie. Ich wurde rumgereicht, alle wollten die | |
alemana mal besichtigen, denn Touristen sind bis heute in Guantánamo eher | |
eine Seltenheit. Ich saß in unzähligen, liebevoll dekorierten Wohnzimmern | |
im knarzenden Schaukelstuhl bei Kaffee mit Milchpulver und plauderte | |
radebrechend mit Hundertjährigen, den klapprigen Ventilator exklusiv an | |
mich herangerückt. | |
Und so ist es bis heute geblieben. Sobald ich ein bisschen Geld für ein | |
Flugticket zusammenkratzen kann, sehe ich zu, dass ich schnell wieder nach | |
Guantánamo komme. Ich wohne dort bei meiner Freundin Lisset, der Königin | |
von Guantánamo, die jeden kennt und alles klarmachen kann. Wenn sie gut | |
drauf ist, holt sie uns Bier, und wir blättern gemeinsam in einem | |
Quelle-Katalog von 1999, den sie hütet wie eine Hausbibel. | |
Lissets Familie kam Anfang des 20. Jahrhunderts von Jamaika nach Kuba. Die | |
Amerikaner, die gerade dabei waren, in der Bucht von Guantánamo eine | |
Marine-Base zu errichten, warben verstärkt um Arbeitskräfte aus der | |
englischsprachigen Karibik. Und so gibt es bis heute kaum eine Familie in | |
Guantánamo, von denen nicht mindestens ein Vorfahr dort gearbeitet hat. | |
Bezahlt wurde in US-Dollar, die man damals noch bei einer kubanischen Bank | |
tauschen konnte. Auch die Großeltern meiner Freundin Daysi – er aus | |
Jamaika, sie aus Barbados – lernten sich in einem Shop auf der Base kennen, | |
in dem Daysis Großmutter als Verkäuferin arbeitete und der Großvater als | |
Mechaniker. Daysis Mutter wurde auf Kuba geboren und so sind sie eben | |
geblieben, wie so viele hier. Der letzte Arbeiter auf der Base, Harry Henry | |
Knight, ist übrigens erst 2014 in Rente gegangen. Er war der Einzige, der | |
das hochgesicherte Areal, auf dem schon fleißig gefoltert wurde, überhaupt | |
noch betreten durfte, um die monatlichen Rentenschecks für seine alten | |
Kollegen abzuholen. | |
## Und im Hintergrund läuft Bob Marley | |
Im Jahr 1945 wurde das British West Indian Welfare Center in Guantánamo | |
gegründet, als einziger Einwandererselbsthilfeverein auf ganz Kuba. | |
„Schwarze Menschen kamen in ein Land, in dem vorwiegend Weiße lebten. Sie | |
bekamen oft grundlos Ärger mit der Polizei und beschlossen, sich | |
zusammenzutun, sich Hilfe von Anwälten zu suchen, Spanisch zu lernen und | |
gleichzeitig einen Ort zu schaffen, an dem sie weiterhin ihre englische | |
Sprache sprechen konnten. Ein Zuhause im fremden Land.“ Das erzählte mir | |
Jorge Derrick Henry, der Präsident des Welfare Center, wo ich an meinem | |
allerersten Tag in Guantánamo auch noch gelandet war. Die Flaggen der | |
vielen kleinen Westindiestaaten hängen dort immer noch welk an den Wänden, | |
während im Hintergrund Bob Marley aus dem CD-Player scheppert. | |
Nach wie vor ist täglich geöffnet, man schaut mal rein, plaudert ein | |
bisschen – und dort bin ich auch all denen begegnet, die inzwischen längst | |
Freunde geworden sind: Yito, der melancholische Bach-Liebhaber, der das | |
örtliche Museum leitet, in dem sogar die Raumkapsel des ersten schwarzen | |
Kosmonauten, Arnaldo Tamayo Mendez, zu besichtigen ist. Onil, ein | |
begnadeter Karikaturist, der mal in der Kricket-Nationalmannschaft gespielt | |
hat. Ramona, die mit ein paar Rum in der Blutbahn noch herzzerreißender | |
singen kann als Billie Holiday. Und Bessie und Derrick, beide | |
Englischprofessoren an der medizinischen Fakultät von Guantánamo, die die | |
zukünftigen Ärzte für ihre Auslandseinsätze sprachlich in Form bringen. | |
Feine, kluge Menschen, mit denen es eine Freude ist, sich über die Welt | |
auszutauschen. Oder auch mal über die Eckbänke im Quelle-Katalog. | |
Während der Pandemie brach die Wirtschaft auf Kuba fast zusammen. Aber | |
alleine dieses kubanische „fast“ ist immer wieder ein Wunder. Es ist ja | |
keinesfalls so, dass auf Kuba Mangel herrscht, weil man dort wirtschaftlich | |
nichts auf die Reihe bekäme – im Gegenteil: Ich kenne kein Land, in dem so | |
viel mit so wenigen Mitteln funktioniert. Und der Staat lässt sich seine | |
Fürsorge ganz schön was kosten. Gesundheitsversorgung gibt’s gratis, kaum | |
jemand ist obdachlos, und jeder Staatsbürger bekommt mit der „Libreta“ | |
monatlich eine Grundausstattung an Lebensmitteln. Trotz aller Widrigkeiten | |
überwiegt der Stolz der meisten Kubaner, dem Mangel eine wacklige, selbst | |
gebastelte Autonomie abgetrotzt zu haben. | |
## Die Lage ist unübersichtlich | |
Ich war zufällig auch auf Kuba, kurz nachdem Fidel gestorben war. Und die | |
Leute waren traurig. Echt und ehrlich traurig. Nicht verordnet, nicht | |
erzwungen, und obwohl Fidel erklärt hatte, er wünsche keinen Kult um seine | |
Person, hingen in manchen Hauseingängen fast verschämt kleine Porträts von | |
ihm und blichen in der Sonne, bis er nur noch als Geistererscheinung zu | |
erkennen war. Das Bildungssystem auf Kuba funktioniert zuverlässig, und die | |
Kindersterblichkeit ist so niedrig wie sonst kaum irgendwo. Nach wie vor | |
sind kubanische Ärzte die ersten in sämtlichen Krisengebieten dieser Welt. | |
Und im vergangenen Jahr hat Kuba, von der Weltöffentlichkeit fast | |
unbemerkt, gleich zwei eigene Impfstoffe entwickelt –Abdala und Soberana, | |
die ziemlich gut zu funktionieren scheinen, [2][was inzwischen auch das | |
Deutsche Ärzteblatt schreibt.] | |
[3][Was die Proteste zurzeit angeht:] Die Lage ist unübersichtlich und | |
alles andere als leicht zu durchblicken. Ich höre verschiedenste | |
Einschätzungen der Lage – von einem linientreuen „Wird alles von der CIA | |
und den Exilkubanern in Miami gesteuert“ bis hin zu einem adenaueresken | |
„Gebt dem geknechteten Kuba endlich seine Freiheit“ ist alles dabei. Wenn | |
man dabei das allzu ideologische Raunen mal kurz wegdimmt, bleibt der | |
Eindruck, dass gegen eine denkbar unglückliche Gemengelage aus inzwischen | |
60 Jahren andauerndem US-Wirtschaftsembargo, das Joe Biden übrigens | |
unvermindert weiterbetreibt, dem Zusammenbruch Venezuelas und den damit | |
fehlenden Lieferungen von verbilligtem Öl, und obendrauf auch noch Corona, | |
das den Wirtschaftsfaktor Tourismus für ein Jahr ins tiefste Koma versetzt | |
hat, schwer zu demonstrieren ist. | |
Kann man natürlich machen, aber davon kommt auch nicht mehr Sprit in den | |
Tank und auch kein Hühnchen auf den Teller. Über Meinungs- und | |
Pressefreiheit sollte man dagegen ruhig mal reden, aber das ist eben eine | |
ganz andere Diskussion. Zöge man Kuba die sozialistische Kuscheldecke weg, | |
bliebe innerhalb kürzester Zeit nur noch ein Land, in dem man mit Siebzig | |
keine Zähne mehr hat, weil man Ersatz nicht bezahlen kann, und selbst | |
zusehen muss, wo man eine Bleibe und eine warme Mahlzeit herbekommt. | |
Outet man sich in Deutschland als Kuba prinzipiell Wohlgesinnte, landet man | |
nach wie vor meist in der muffligen DKP-Tanten-Ecke und erntet immer noch | |
erstaunliche Reaktionen: „Das ist da doch total unfrei, oder?“ Und das | |
gerne mal von Menschen, die keine Sekunde darüber nachdenken, in welchen | |
Schurkenstaaten sie zuletzt geurlaubt haben – oder eben allein das | |
unbegrenzte Wachstum der Märkte für Freiheit halten. Umgekehrt ist man auch | |
in Guantánamo gleichermaßen überrascht, dass die wenigen Besucher immer | |
gleich so dringlich über den Sozialismus debattieren müssen. Was soll man | |
auch sagen? Ist noch Luft nach oben, aber geht schon. | |
8 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /US-Gefangenenlager-Guantanamo/!5792821 | |
[2] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/129557/SARS-CoV-2-Konjugatimpfstoff-… | |
[3] /Proteste-in-Kuba/!5785763 | |
## AUTOREN | |
Tania Kibermanis | |
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