# taz.de -- Nachruf auf Bettina Gaus: Mit Mut und Meinung | |
> Sie war für die taz Afrika-Korrespondentin, Politische Korrespondentin, | |
> Kolumnistin. Vor allem aber wusste sie, schlaue eigene Gedanken zu | |
> formulieren. | |
Bild: Bettina Gaus 2009 | |
Zur taz stieß Bettina Gaus eher zufällig. Ihr erster Text „Somalia blickt | |
in eine ungewisse Zukunft“ – die Überschrift wäre noch heute aktuell – | |
erschien am 11. Januar 1991, nachdem die Reporterin, die bis zuvor über | |
Somalias Bürgerkrieg berichtet hatte, als Vertretung eine Kollegin der | |
Deutschen Welle empfahl, die mit ihrem kenianischen Ehemann in Nairobi | |
lebte. Nur zwei Wochen später saß Bettina Gaus-Mbagathi in einem | |
gecharterten Flugzeug nach Mogadischu und berichtete für die taz als eine | |
der ersten Journalistinnen über die Wirren in Somalias Hauptstadt nach dem | |
Sturz des Militärdiktators Siad Barre durch Rebellen. | |
„Alle Regeln des täglichen Lebens sind außer Kraft gesetzt, alle | |
Institutionen sind zusammengebrochen“, schrieb sie und bewies ihr Gespür | |
für Absurditäten: „Im Hintergrund sind während unseres Gesprächs vereinze… | |
Schüsse zu hören. ‚Das sind Freudensalven von Leuten, die entdeckt haben, | |
daß ihr Haus weder geplündert noch zerstört ist‘, erklärt einer unserer | |
Begleiter. Es ist schwer zu entscheiden, was unwahrscheinlicher ist: daß es | |
sich um Salutschüsse handelt oder daß tatsächlich noch ein Haus in dieser | |
zerstörten Stadt völlig intakt sein soll.“ | |
So setzte sie fünfeinhalb Jahre lang als taz-Afrika-Korrespondentin | |
journalistische Maßstäbe: sorgfältig aufschreiben, was man sieht und hört, | |
und es allgemeinverständlich einordnen, ohne vorgefertigte Interpretation | |
und ohne Dinge zu behaupten, die man nicht wissen kann. | |
Es klingt selbstverständlich – in der Praxis scheitern viele Reporter | |
daran. Bettina Gaus nicht. | |
Sie war dabei, als Somalia implodierte, als Äthiopiens Militärdiktatur | |
stürzte, als Eritrea unabhängig wurde, als Ruanda im Völkermord versank. | |
## Texte per Satellitentelefon | |
Die frühen 1990er Jahre waren eine Zeit ohne Mobiltelefon und ohne | |
Internet. Arbeitsmittel waren Aufnahmegerät, Schreibmaschine, Fax – oder | |
auch das Satellitentelefon der UN, um für 20 US-Dollar pro Minute Texte | |
durchzutelefonieren, wie an jenem Tag im Dezember 1992, als im Morgengrauen | |
US-Marines am Strand von Mogadischu landeten und am nächsten Tag eine | |
Reportagenseite in der taz stand, bei der jedes kleinste Detail stimmte. | |
Weder anderen noch sich selbst gegenüber war sie nachsichtig, wenn es um | |
das journalistische Handwerk ging. Und sie erkannte, dass dieses Handwerk | |
auch an Grenzen stößt, etwa in Ruanda 1994, als täglich Tausende | |
massakriert wurden. Wie schreibt man darüber, erst als weiße Journalistin | |
ausreisen zu dürfen, also dem Horror zu entkommen, und zwei Wochen später | |
bei der Rückkehr ins gleiche Hotel zu erfahren, dass alle tot sind? Wer das | |
miterlebt, ist gezeichnet fürs Leben. Zwei Jahre später verließ sie Afrika. | |
Bettina Gaus war aber kein Krisenjunkie, der erst in der schusssicheren | |
Weste aufblüht. Ihre wichtigste Freizeitbeschäftigung in Nairobi, so schien | |
es jedenfalls bei Planungstelefonaten aus Berlin, war das Kartenspiel | |
Bridge, Pflichthobby weißer Oberschichtfrauen in der ehemaligen britischen | |
Siedlerkolonie Kenia. | |
Sie lebte in Nairobi mit ihrer Tochter Nora zusammen, und wer damals ihr | |
Haus betrat, stieß als Erstes auf eine gigantische Bücherwand, gefüllt mit | |
dem kompletten Kanon des deutschen Bildungsbürgertums – eine intellektuelle | |
Sektorengrenze, die ihr die nötige Distanz zu ihrer Arbeit ermöglichte, vor | |
der aber Besucher plötzlich ganz klein aussehen konnten. | |
## Selbstbewusst und unverstellt | |
So war sie eben – selbstbewusst, unverstellt und ohne die Anmaßung, man | |
könne jemals vergessen machen, wie privilegiert man als Weiße in Afrika | |
lebt. Schade, dass sie im Jahr 2007 den Literaturnobelpreis für Doris | |
Lessing – ihr Werk beschrieb sie als „so unfaßbar großartig wie kaum irge… | |
etwas anderes, was ich je gelesen habe, schon gar nicht über Afrika“ – dann | |
doch nicht in der taz würdigte. „Wenn es noch irgendeinen Bedarf an einem | |
Artikel über Doris Lessing gibt: Ich schreibe diesen Artikel auch auf einem | |
Bein stehend morgens um vier!“, mailte sie der Redaktion aus den USA, wo | |
sie sich gerade befand. Leider einen Tag zu spät. | |
Nach ihren Korrespondentenjahren in Afrika leitete sie zunächst das | |
Parlamentsbüro der taz in der alten Westhauptstadt Bonn. Als Berlin zur | |
Hauptstadt mutierte, zog es auch Bettina dorthin, an das neue Machtzentrum | |
und an den Sitz ihrer Zeitung, aber nicht wirklich in die Redaktion. Ja, | |
sie liebte die taz mit Leib und Seele, aber nicht unbedingt die ständige | |
räumliche Gemeinsamkeit. | |
Als neu ernannte Politische Korrespondentin mit Zuständigkeit fürs ganz | |
Große und Wichtige richtete sich Bettina lieber ein eigenes Büro ein, und | |
zwar praktischerweise direkt in ihrer Charlottenburger Wohnung, befreit von | |
den üblichen Präsenzpflichten, den Redigierschichten und den immer | |
rigoroseren Rauchverboten. Bettina arbeitete bereits im Homeoffice, als | |
noch niemand diesen Begriff kannte. | |
Sie war gleichwohl keine Einzelgängerin, ganz und gar nicht. Sie hatte nur | |
einen ausgeprägten Freiheitsdrang und einen starken eigenen Willen. | |
Geselligkeit? Ja, gern und auf jeden Fall, sie ging gern auf Partys, | |
Spieleabende, genoss lange Diskussionen, natürlich über Politik, aber fast | |
noch lieber über Klatsch, Tratsch und neue, öfters auch sogenannt seichte | |
Fernsehserien. Das Computerspiel „Wer wird Millionär?“ spielte sie | |
nächtelang bis zur Erschöpfung (ihrer Gegner). | |
## Stets pünktlich und auf den Punkt | |
Bettina war eine begeisterte Gastgeberin, hatte viele Freunde, traf gern | |
Menschen, aber eben am liebsten dann, wenn sie es wollte, und nicht, weil | |
es in einem Dienstplan stand. Für die Besprechungen mit der Redaktion gab | |
es zwar noch kein Zoom, aber Mail und Telefon, das reichte. Die Erfindung | |
des Smartphones ignorierte Bettina konsequent. Wozu ständige | |
Erreichbarkeit? Sie lieferte doch auch so stets pünktlich und traf meist | |
den Punkt. | |
Ihre kleinen Privilegien genoss die Charlottenburg-Korrespondentin sehr, | |
und die taz war schlau genug, sie zu gewähren. Schließlich galt es eine | |
beliebte Autorin ans Blatt zu binden, die so schön, schnell und originell | |
schreiben konnte wie nur ganz wenige. Weil es Bettina nie dabei beließ, das | |
Offensichtliche zu wiederholen, sondern immer einen eigenen Gedanken | |
hinzufügte, wurde sie auch von anderen Medien gerne eingeladen und sorgte | |
so für mehr taz-Präsenz im Fernsehen als alle anderen. Wahrscheinlich auch | |
deshalb, weil sie in Talkshows und Radiorunden einfach bei sich selbst | |
blieb, also authentisch war. | |
Bettina Gaus bei „Maischberger“ und „Illner“ sprach genauso unverstellt, | |
ungeniert und fast genauso unverblümt wie die Bettina daheim auf ihrem | |
Sofa. Oft gelang es ihr dabei, selbst komplizierteste Sachverhalte so | |
verständlich zu analysieren und down to earth zu bringen, dass man sich | |
beim Lesen oder Zuhören dachte: Stimmt, da hat sie recht, irgendwie hatte | |
ich auch schon das Gefühl, aber ich hätte es nicht so formulieren können. | |
## Sie liebte den Streit | |
Oder man dachte: So ein Quatsch, jetzt übertreibt sie wirklich, jetzt komme | |
ich nicht mehr mit. Denn Bettina Gaus war oft auch unbequem. Ja, sie liebte | |
Streit. Nicht den Gut-und-Böse-Klick-Wettstreit wie heute auf Twitter, | |
einem Medium, das sie genauso boykottierte wie Diensthandys, sondern den | |
guten, altmodischen Streit mit Argumenten. Als Gesprächspartner waren ihr | |
schlaue Konservative lieber als langweilige Wiederkäuer der tagesaktuellen | |
linken Lehre. Sie respektierte und schätzte ihre Gegner – vorausgesetzt, | |
sie blieben fair, waren auf intellektueller Augenhöhe und gaben sich | |
genauso viel Mühe wie sie selbst. | |
Nur zwei von vielen Beispielen aus der taz: Mit kaum einem Kollegen hat | |
sich Bettina intern und öffentlich so intensiv gefetzt wie mit dem | |
Südosteuropa-Korrespondenten Erich Rathfelder während des rot-grünen | |
Kosovokriegs, den sie ablehnte und den er nötig fand. Und doch sprach sie | |
ihm nie ab, genauso redlich wie sie nach dem besten Weg zum Schutz der | |
Menschenrechte im zerstörten Jugoslawien zu suchen. | |
Mit ihrem taz-am-Wochenende-Kolumnen-Kollegen Peter Unfried war sie | |
politisch auch nicht immer grün, aber persönlich gut befreundet. Und ein | |
Beispiel aus der Politik: Mit Wolfgang Schäuble war sie politisch so gut | |
wie nie d'accord, aber immer interessiert, mit ihm zu disputieren, weil er | |
sich abhob von den üblichen Phrasendreschmaschinen im Politikbetrieb. Und | |
weil er Sinn für Humor hatte, bis zum Sarkasmus. | |
Bettina fand sogar in schwierigen Lagen, selbst während ihrer schweren | |
Krankheit, immer einen Grund zum Lachen – auch über sich selbst. Nur eines | |
ertrug sie gar nicht: wenn man sie belehren wollte über Dinge, bei denen | |
sie aus ihrer Sicht genug eigene Erfahrungen gesammelt hatte. Rassismus | |
etwa erlebte sie im Beruf und mit ihrer Familie so oft selbst mit, dass sie | |
dazu keine Ermahnungen und Sprachregelungen akzeptierte, die sie nicht | |
nachvollziehen konnte. Wenn es dann zu Konflikten kam, konnte sie auch | |
verletzend sein – und war verletzlich doch selbst. | |
## Noch öfter behielt sie recht | |
Bettina Gaus hat es sich und uns nie leicht gemacht. Sie verfocht ihre | |
Standpunkte bis zur Sturheit, war aber anders als andere auch bereit, | |
öffentlich Fehleinschätzungen einzuräumen, wenn sie sich erkennbar | |
getäuscht hatte. Aber noch öfter behielt sie recht. So war Bettina die | |
Einzige weit und breit, die schon lange vor der US-Wahl 2016 den Sieg von | |
Donald Trump vorhersagte. Weil sie wieder einmal ihre Flugangst überwunden | |
hatte, in die USA gereist war und mit Amerikanern auf dem Lande jenseits | |
von New York und San Francisco gesprochen hatte – wie schon für ihr | |
Reportagebuch „Auf der Suche nach Amerika“. | |
Bettina Gaus kritisierte die Ignoranz der Regierenden für sozial | |
Benachteiligte und das deutsche Desinteresse für außereuropäische | |
Ereignisse heftig. Aber sie hinterfragte immer auch die Reflexe des | |
eigenen, linksliberalen – besonders alle Posen gerade des linksgrünen | |
Milieus. | |
Diva nannte man sie, gelegentlich im despektierlichen, meist im erstaunten | |
Ton. Sie war eine Frau, die nie zu jammern beliebte, sie pflegte mit | |
Sarkasmus ihre Würde zu wahren, durchaus selbstbewusst, was für manche auch | |
verstörend insofern war, als sie nie daran einen Zweifel ließ, das Leben zu | |
lieben – und biete es auch unzumutbar unkomfortable Seiten, etwa so ein | |
Schrecken wie eine schwere Erkrankung. | |
Ihre Souveränität, ihre Lust an der Debatte hinderte sie nicht daran, | |
manchmal einen Blick freizugeben auf ihr Leben als Tochter eines der | |
wichtigsten Journalismus- und Politikerpaare der Nachkriegszeit. Günter | |
Gaus vor allem, ihr Vater, Spiegel-Chefredakteur und in den siebziger | |
Jahren Diplomat der sozialliberalen Koalition in Berlin, Hauptstadt der | |
DDR, machte sie unempfindlich für linksparteiische Nostalgien – wenngleich | |
sie sich mit politischen Biografien auskannte, die sich vom totalitären ins | |
demokratische Spektrum änderten. | |
Gern erinnerte sie sich an den Ausflug ihrer Familie nach Spjuterum, Öland, | |
einer kargen Insel vor der schwedischen Stadt Kalmar, wo Herbert und | |
Charlotte Wehner allsommers urlaubten. Günter Gaus hatte als Journalist mit | |
dem mächtigen Sozialdemokraten Ende der sechziger Jahre Dinge zu erörtern. | |
Bettina Gaus erzählte viel später davon keine Details, sie wusste sie auch | |
nicht, aber was sie berichtete, mit leichter Wehmut, war die Zärtlichkeit | |
und Empfindsamkeit, mit der sich der als Bärbeiß und politische Heimsuchung | |
für so viele vor allem konservative Politiker bekannte Exstalinist und | |
nunmehrige Sozialdemokrat Herbert Wehner gerade um sie, die kleine Bettina, | |
kümmerte – Geschichten erzählend, als er sie an die Hand genommen hatte bei | |
Spaziergängen durch die Heidelandschaft. Man wüsste so gern mehr aus dieser | |
Zeit, Geschichten, die sie, das wache Kind, wohl in Fülle erlebt hat: „Aber | |
dann haben wir abreisen müssen, der Warschauer Pakt war gerade in Prag | |
einmarschiert …“, auch so ein unvergesslicher Satz von unserer Kollegin und | |
Freundin Bettina Gaus, die empfindsamer war, als ihre strahlende | |
Performance auch nur vermutend angedeutet hätte. | |
Vor allem aber reiste sie gern und war glücklich, wenn sie ihre geliebte | |
Tochter besuchen und Neues erkunden konnte. Dann genoss sie das Leben in | |
vollen Zügen, früher gerne auch in verrauchten, und ist jetzt leider viel | |
zu früh ausgestiegen. Am Mittwoch ist Bettina Gaus im Alter von 64 Jahren | |
nach kurzer, schwerer Krankheit in Berlin verstorben. | |
Mit ihrem Mut zur eigenen Meinung hat sie unendlich viel dazu beigetragen, | |
dass die taz unberechenbar und deshalb lesenswert blieb. So bedauerlich es | |
für unsere Zeitung war, dass diese herausragende Kollegin Anfang des Jahres | |
doch noch zum Spiegel wechselte: Viel trauriger ist es, dass man ihre | |
Gedanken künftig nirgends und nie mehr lesen und hören kann. | |
1 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
Lukas Wallraff | |
Dominic Johnson | |
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