# taz.de -- Migration nach Sachsen-Anhalt: Neue Burger, alte Probleme | |
> Einst Hugenotten, heute Syrer: Burg in Sachsen-Anhalt hat eine lange | |
> Migrationsgeschichte. Unterwegs in einer Kleinstadt, die mit Vorurteilen | |
> ringt. | |
Die Grundschule Burg-Süd ist eingerüstet. Bauarbeiter blicken die Fassade | |
hinauf, Planen flattern. 400 Fenster sind bereits ausgetauscht, 17 | |
Lüftungsanlagen installiert, sogar ein Lift. Die Schule am Rand der Stadt | |
wird endlich von Grund auf erneuert, der Unterricht läuft trotz Sanierung | |
weiter. Bald wird sie ein farbenfroher Klecks in dem ehemaligen | |
DDR-Plattenbauviertel sein. | |
Noch vor sechs Jahren stand die Schule vor der Schließung. Nur noch 26 | |
Kinder waren eingeschult worden. In diesem Jahr sind es 50, von ihnen | |
kommen 19 aus Migrantenfamilien. | |
Alle Eingemeindungen eingerechnet, leben in Burg, einer Kreisstadt im dünn | |
besiedelten Norden Sachsen-Anhalts, 23.200 Einwohner. Davon sind 1.518 | |
Ausländer, sowohl EU-Bürger als auch sogenannte Drittstaatler. Das Jahr | |
2015 mit seinem großen Zuzug von Geflüchteten, viele aus Syrien, | |
Afghanistan, dem Sudan, hat auch Burg verändert. | |
Die Grundschule Burg-Süd kann sich glücklich schätzen. Nach Jahren der | |
Unsicherheit steht ihr Fortbestehen fest. Die Lehrer müssten erleichtert | |
sein. Und vorbereitet. Doch weit gefehlt, wie zur Einschulung Anfang | |
September offenbar wurde. | |
Akribisch hatte die Schulleitung alle Erstklässler mit arabisch klingenden | |
Namen [1][von den deutschen und anderen Kindern getrennt] und in einer | |
eigenen Klasse separiert. Aus Gründen der Sprachförderung, wie es hieß. Ein | |
syrischer Vater war entsetzt und postete auf Facebook: | |
„Apartheid-Mentalität im deutschen Bildungssystem“. Wenn die Kriterien | |
allein Herkunft und Name waren, was kann so etwas anderes sein als | |
Rassismus in einer staatlichen Schule in Deutschland?, fragte er. Viele der | |
Kinder, schreibt der Vater, seien in Deutschland geboren oder lebten schon | |
lange hier. | |
Burg hat sich längst verändert, ist eine andere Stadt geworden. Aber was | |
für eine? | |
Habas, wie gefällt’s dir in Burg? „Für mich ist es schön hier.“ Und wie | |
sieht’s in der Schule aus? „Alles gut. Keine Probleme.“ Cool klingt es, w… | |
Habas das sagt, ein schlaksiger Typ mit weißen Sneakers aus der neunten | |
Klasse des Burger Roland-Gymnasiums. Der Flaum an seinem Kinn wird langsam | |
zum Bart, älter als 15 wirkt er trotzdem nicht, sprachkundiger schon. | |
„Cappuccino“ hat er eben in ein Kreuzworträtsel eingetragen. Das | |
Lösungswort für italienische Kaffeespezialität in elf senkrecht. Und zehn | |
waagerecht, orientalisches Süßgebäck? „Baklava“. Das kennt er von zu Hau… | |
Und ein anderes Wort für Erstsprache, acht senkrecht? „Muttersprache“. | |
Welche ist deine? „Farsi.“ | |
„Stadtrallye“ heißt der Spaziergang, der etwa 30 Jugendliche auf die | |
„Spuren von Migrant*innen in Burg gestern und heute“ führt. Er ist Teil | |
der Interkulturellen Woche, die jedes Jahr im Herbst in ganz Deutschland zu | |
Veranstaltungen einlädt. | |
Stephan Meisel, 38, nimmt als Anführer der „Stadtrallye“ immer wieder | |
Anlauf, um bei den Halbwüchsigen Interesse zu wecken, wie sehr Zuwanderer | |
Burg bis heute prägen. Er hält vor dem Bahnhof, deutet auf Friedhöfe, | |
verteilt Zeitungsartikel, redet gegen den Herbstwind an und ruft: „Burg war | |
schon immer eine Zuwanderungsstadt!“ Und nebenbei, als intellektuelles | |
Bonbon, soll sich das Kreuzworträtsel mit den Lösungswörtern füllen. | |
Jetzt steht Meisel vor einem sowjetischen Panzer. Der T-34 erinnert daran, | |
dass die Region als eine der letzten Anfang Mai 1945 von der Roten Armee | |
erobert wurde. Bis 1994 gehörten sowjetische Soldaten zum Alltag, und | |
Meisel bezieht den nicht ganz so geordneten Abzug der Russen aus der Burger | |
Garnison in das Thema Migration ein. Bald nach dem Abzug der letzten | |
Soldaten brachte der Landkreis in den leer stehenden Kasernen Asylsuchende | |
unter. Ein Kommen und Gehen. | |
Und Ari, wie findest du Burg? „Mir gefällt es hier auch“, pflichtet er | |
Habas bei. Ari kommt aus Syrien, hat dichtes Haar und wirkt etwas stabiler | |
als sein Freund. Weiße Sneakers trägt auch er. „Neonazis muss man aber aus | |
dem Weg gehen“, sagt er noch, und es klingt so, als ginge es um Pfützen. | |
Beiläufig erzählt er, dass die beiden schon von rechten Jugendlichen | |
verfolgt wurden. „Dahinten.“ Er weist mit der Hand in die Ferne. | |
Habas nickt. Ist das der Grund, warum er eine Kampfsportakademie in | |
Magdeburg besucht? „Nein. Kampfsport ist einfach meine Leidenschaft.“ Dann | |
nennt er seine Idole, Größen der Mixed-Martial-Arts-Szene, und erzählt, | |
dass er mindestens dreimal, oft fünfmal in der Woche trainiere. | |
Profikämpfer ist sein Traumberuf. | |
Ist Burg seine Zukunft? „Nein!“ Habas schüttelt den Kopf. In wenigen Wochen | |
zieht die Familie fort. In Lindau am Bodensee, einer Stadt so groß wie | |
Burg, will sie sich niederlassen, dort, wo die Verwandtschaft seit Jahren | |
lebt. Seine Mutter, erzählt Habas, arbeite in der Pflege, sein Vater war | |
bis zur Pandemie in einem Hotel beschäftigt. In Lindau will er sich | |
selbstständig machen. Dann wird Burg nur eine der zahlreichen Stationen | |
sein auf dem Weg, der für die Familie 2014 in Kandahar im Süden | |
Afghanistans begann, die Habas so mühelos aufzählen kann: Irak, Köln, | |
Rüsselsheim, Kassel, Halberstadt und bald eben auch Burg. Zukunft gibt es | |
woanders. Ari entgegnet, dass seine Familie in Burg bleiben will. Die | |
Aussicht, dass beide Freunde demnächst getrennte Wege gehen, scheint sie | |
nicht zu betrüben, jedenfalls nicht sichtbar. | |
Die Klassenbildung an der Grundschule Burg-Süd wurde am ersten regulären | |
Schultag wieder zurückgenommen. Das Landesschulamt in Halle, das „aus | |
schulfachlicher Perspektive“ zunächst nichts zu beanstanden fand, ließ die | |
„Migrantenklasse“ auflösen und auf die beiden Parallelklassen verteilen. | |
Zudem entschuldigte es sich bei den betreffenden Eltern, weil sie im | |
Vorfeld nicht informiert wurden. | |
Zwei Sozialkundelehrerinnen des Roland-Gymnasiums haben den Ausführungen | |
von Heimatkundler Stephan Meisel besonders aufmerksam gelauscht. Auf die | |
Grundschule Burg-Süd angesprochen, zeigt eine der beiden Verständnis für | |
die Kolleginnen. Das Hauptproblem bei Migrantenkindern sei doch nach wie | |
vor die deutsche Sprache. Ihre eigene Schule sei davon weniger betroffen: | |
Die Kinder von Migranten, die es auf ein Gymnasium schafften – viele seien | |
es nicht –, beherrschten die deutsche Sprache natürlich. Doch im Grunde | |
genommen würden die Schulen mit den Problemen der Integration | |
alleingelassen, ist sie überzeugt. | |
Auf die Politik mag der Vorwurf zutreffen. Im Regierungsprogramm zur | |
Landtagswahl im Juni sprach die CDU Sachsen-Anhalt zwar von Sprache als | |
Schlüssel zur Integration. Ansonsten aber war viel von | |
Integrationsobergrenze die Rede, von Leitkultur und kultureller | |
Assimilation, auch von Abschiebung. Vom Willkommensein kein Wort. Die | |
Partei von Ministerpräsident Reiner Haseloff dürfte keine große Hilfe sein, | |
zu sehr hockt ihr die AfD im Nacken. Auf fast 20 Prozent kamen die Rechten | |
bei der Bundestagswahl hier im Land, landeten nur knapp hinter der CDU auf | |
Platz drei. | |
Doch es gibt andere zivilgesellschaftliche Akteure wie das Landesnetzwerk | |
Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt (Lamsa) in Halle, einen | |
Zusammenschluss von über 90 Organisationen. Es hat eine Servicestelle für | |
interkulturelles Lernen eingerichtet, jede Schule kann sich beraten lassen. | |
Dabei geht es darum, im Unterricht Spielerisches auszuprobieren, Grußworte | |
in anderen Sprachen etwa, es geht um andere Bräuche, Feiertage, auch | |
geografische Kenntnisse, um Lieder. Kinder sollen vorbereitet sein auf ein | |
Leben in einer heterogenen Gesellschaft. Es geht um ein friedvolles | |
Zusammenleben. Und nicht nur Kinder sollten Chancen erkennen, auch Städte. | |
Interkulturelles Lernen müsste in der Grundschule Burg-Süd doch ein Thema | |
sein? Die Schulleiterin, so ist zu hören, hat sich nach dem Desaster | |
krankheitsbedingt abgemeldet. Es fanden sich in der Stadt beschmierte | |
Wahlplakate mit heftigen verbalen Ausfällen gegen sie. Ihre Sekretärin | |
lehnt Auskünfte ab und verweist auf das Landesschulamt. Der Sprecher des | |
Landesschulamts erklärt, dass zur Grundschule Burg-Süd gerade eine | |
parlamentarische Anfrage eines Abgeordneten der Linkspartei beantwortet | |
werde, möchte dieser Antwort nicht vorgreifen und wiegelt ab. Weil die | |
Kinder doch bereits am ersten regulären Schultag neu aufgeteilt worden | |
seien, habe es die Klassenbildung „in der Praxis so ja nicht gegeben“. | |
Anruf bei der Stadt Burg. Sie ist die Trägerin der Schule. Auch der | |
Stadtsprecher bittet, das Landesschulamt anzurufen, aber so viel sagt er | |
dann doch: „In Kitas und Hort haben wir schon immer gemischte Gruppen.“ | |
Inmitten der allgemeinen Herumdruckserei wirkt das Statement schon wie | |
Kritik. Dabei ist es eine Selbstverständlichkeit. Die Stadt Burg trägt seit | |
2009 den Titel „Ort der Vielfalt“. | |
Stephan Meisel hat den Pulk der Stadtrallye zu einem echten Ort der | |
Migration geführt: Wer sich vom Erfolg von Zuwanderung überzeugen will, | |
sollte die französische Kolonie mit reformierter Kirche und | |
Hugenottenkabinett besuchen. Die Glaubensflüchtlinge, die um 1700 aus | |
Frankreich kamen, prägen die Stadt bis heute. Ganze Gewerke gehen auf sie | |
zurück, ihre Nachfahren leben heute noch hier. | |
Doch zum Besuch des Hugenottenkabinetts kommt es nicht. Es sind die beiden | |
Lehrerinnen, die die Rallye abbrechen. Lächelnd versprechen sie, alle | |
weiteren Stationen im Unterricht zu behandeln, verabschieden sich und | |
ziehen davon. Und die Gymnasiasten? Tun es ihnen gleich. Habas und Ari | |
ziehen fort, Schulter an Schulter. Die Zettel mit dem Kreuzworträtsel | |
stecken in den Taschen. | |
„Das Schulamt hätte die Klassenbildung verhindern müssen“, sagt Thomas | |
Lippmann am Telefon. „Es war von Anfang an Murks.“ Der 59-Jährige hat die | |
parlamentarische Anfrage gestartet und ist einer von gerade einmal zwei | |
Abgeordneten im Landtag, die sich zur Klassenbildung zu Wort gemeldet | |
haben. Lippmann, bildungspolitischer Sprecher der Linken, hat sofort nach | |
Bekanntwerden eine Anfrage an die Landesregierung gerichtet und die genaue | |
Zusammensetzung der drei Klassen öffentlich gemacht: Die Klasse 1a wäre mit | |
19 Kindern rein deutsch gewesen. Die 18 Kinder der 1b wären mehrheitlich | |
deutsch gewesen, dazu je zwei Kinder aus Polen und Russland, eines aus der | |
Türkei und eines aus Afghanistan. Und die 13 Kinder der 1c hätten die | |
„arabische“ Klasse gebildet. | |
Lippmann, der selbst Schulleiter war, treibt die Frage um, wie das | |
Landesschulamt auf die Idee kommen konnte, diese erkennbare Diskriminierung | |
aus „schulfachlicher Perspektive“ abzusegnen. Er erläutert, dass sich bei | |
der Schuleingangsuntersuchung eigentlich feststellen lässt, welchen | |
Entwicklungsstand jedes einzelne Kind hat. Dann könne man sich darauf | |
einstellen. „Natürlich ohne die Kinder zu trennen. Das ist pädagogisch | |
völlig abseitig.“ | |
Wenn das aber wegen Corona gar nicht möglich war, wie die Schulleitung | |
erklärte, man also gar nicht wusste, welchen Sprachbedarf es bei den | |
Kindern gibt, und einfach nach Herkunft und Namen trennt, dann muss man | |
sich nicht wundern, wenn einem Rassismus vorgeworfen wird. „Es ist nicht | |
nur eine Fehlleistung der Schule, sondern auch des Landesschulamts.“ | |
Der zweite Abgeordnete, der sich geäußert hat, ist Hans-Thomas | |
Tillschneider, AfD-Mitglied und, wie seine Fraktion betont, „habilitierter | |
Arabist“. Tillschneider lobt die Absichten der Burger Grundschule. Sie habe | |
damit die Forderung der AfD umgesetzt, „Sonderklassen für | |
Flüchtlingskinder“ zu schaffen. Leider sei das Landeschulamt „unter dem | |
Druck der Migrantenlobby“ eingeknickt, bedauert Tillschneider, der sich | |
aktuell auch um die „verwurzelten“ deutschen Einzelhändler in den | |
Innenstädten sorgt. | |
Das Zentrum von Burg wird von der Schartauer Straße bestimmt. Sie ist die | |
Ladenmeile mit Geschäften, Sparkasse, einigen Cafés und Restaurants. An | |
diesem Nachmittag dominieren Ältere mit Einkaufstaschen, Schulkinder auf | |
dem Nachhauseweg und Vorschulkinder, die ihre Fahrradkünste testen. Auch | |
Mütter mit Kinderwagen ziehen vorüber, nicht wenige von ihnen tragen | |
Kopftuch. | |
Es ist kein Vergleich zu dem Gedränge der DDR-Jahre, als die Bürgersteige | |
voll waren mit Einheimischen und zwischendrin sowjetischen Offiziersfrauen | |
mit schicken Pelzkappen – kaum einer, der sie nicht als „Russenweiber“ | |
verunglimpfte. Die Straße hat an Bedeutung verloren, so wie Burg massiv | |
Einwohner eingebüßt hat. In der eigentlichen Stadt, ohne die umliegenden | |
Dörfer, leben keine 20.000 Menschen mehr, 10.000 weniger als 1990. | |
„Damaskusstraße.“ Wie bitte? „Damaskusstraße! Haben Sie das noch nicht | |
gehört?“ Ewa Kozlowska-Voigt lacht kurz über diese Ahnungslosigkeit. | |
„Schauen Sie sich um.“ Es gebe viele neue Geschäfte, Barbiere, | |
Änderungsschneider, Dönerläden, und es werden mehr. Gleich nebenan lädt das | |
Istanbul-Frühstücks-Haus zum Verweilen, und gegenüber bietet ein Laden Obst | |
und Gemüse an, im Schaufenster arabische Schriftzeichen. Eigentlich gehört | |
das Eiscafé Venezia, wo Ewa Kozlowska-Voigt Platz genommen hat, auch in die | |
Kategorie Nichtdeutsch. Das italienische Café wird von portugiesischen | |
Zuwanderern geführt. Es offeriert opulente Eiskreationen. Kozlowska-Voigt | |
lehnt die Kalorienbomben ab. | |
Sie selbst ist auch zugewandert, beginnt sie. Vor 32 Jahren ist sie aus | |
Polen nach Burg gekommen. Sie stamme aus Lublin. „Wissen Sie, da war das KZ | |
Maidanek.“ Ihre Stimme ist klar, ein bisschen prüfend. Wahrscheinlich hat | |
das mit ihrem Beruf zu tun. Sie ist Dozentin für Deutsch als Fremdsprache, | |
hat schwarzes, kurzes Haar, ist von schlanker, hochgewachsener Gestalt, | |
Anfang 60. Sie habe schon ganze Generationen von Flüchtlingen unterrichtet, | |
sagt sie. Mal seien es die Großeltern, mal die Eltern der Kinder gewesen, | |
die jetzt eingeschult würden. | |
Derzeit unterrichte sie vor allem Frauen. Warum? 2015 seien zunächst die | |
Männer gekommen. Diese hätten ihre Ehefrauen später nachgeholt. „Und wenn | |
man sich lange nicht gesehen hat“, sagt sie, macht eine kurze Pause, blickt | |
sich fragend um und fährt fort, „dann kommen Kinder!“ Und jetzt, wo der | |
Nachwuchs aus dem Gröbsten raus sei, hätten sie Zeit, die deutsche Sprache | |
zu erlernen. | |
Kozlowska-Voigt ist eine erfahrene Dozentin. Seit 2002 lehrt sie | |
freiberuflich an verschiedenen Einrichtungen, eine davon ist die Burger | |
Volkshochschule. Kozlowska-Voigt will nicht nur Integration lehren und die | |
deutsche Sprache vermitteln, sondern ihren Kursteilnehmerinnen auch | |
Selbstvertrauen einflößen. „Wie viel Zeit habt ihr für euch am Tag, nur f�… | |
euch?“, hat sie neulich gefragt. Die Antwort: Schweigen. „Und wie viel Zeit | |
haben eure Männer?“ – „Viel!“ – „Sagt euren Männern, dass ihr tä… | |
halbe Stunde nur für euch haben wollt. Mindestens.“ | |
Hat sie Erfolg? Die Menschen, Männer wie Frauen, blieben weiterhin ihren | |
Vorstellungen verhaftet, sagt sie. Und bei den Einheimischen fänden die | |
sich ja auch, wie die verkorkste Einschulung beweise. Wie man auf so eine | |
Idee kommen könne, sei ihr schleierhaft. „Kinder lernen doch ganz anders | |
als Erwachsene. Sie lernen am besten von anderen Kindern!“ So aber könnten | |
Menschen nicht zueinanderkommen, nicht die kleinen, nicht die großen. „Die | |
Integration ist gescheitert“, sagt Kozlowska-Voigt vernehmbar, als würde | |
sie gerade unterrichten. Jeder könne ihre Worte hören, fügt sie an und | |
geht. | |
Ewa Kozlowska-Voigt ist nicht die Einzige, die die Einkaufsmeile inzwischen | |
eher für eine Straße in Damaskus hält. „Wenn ich durch die Burger | |
Innenstadt gehe, sehe ich nur noch Kopftücher“, hatte Markus Kurze im Juni | |
2018 bedauert. Der 50-Jährige ist nicht irgendwer. Er sitzt seit 2002 für | |
die CDU im Landtag von Sachsen-Anhalt, holt sein Mandat im Wahlkreis Burg | |
stets direkt, zuletzt im Juni mit 38,5 Prozent. Kurze ist | |
CDU-Kreisvorsitzender, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Kreistag und | |
Vorsitzender des Stadtrates. Was Kurze sagt, hat Gewicht. Doch den Satz mit | |
den Kopftüchern hielt selbst der AfD-Kreisvorsitzende für übertrieben. | |
Andere offenbar weniger. Anfang März 2020 versuchten Unbekannte, im | |
Lebensmittelgeschäft Al-Salman in der Schartauer Straße, das vom 37 Jahre | |
alten Syrer Ali A. geführt wurde, Feuer zu legen. In der Nacht hatten sie | |
Brandbeschleuniger ins Parterre geworfen und entzündet. An die Eingangstür | |
schmierten sie ein Hakenkreuz. Ein Feuer breitete sich in dem | |
Mehrfamilienhaus nicht aus, zum Glück. Der Staatsschutz ermittelte gegen | |
unbekannt. Das Verfahren wurde im November 2020 eingestellt. | |
Wenige Tage nach dem Brandanschlag drückte das Bündnis Burg gegen Rechts | |
sein Entsetzen aus, rief zur Solidarität mit Ali A. auf und distanzierte | |
sich von Ausgrenzung und Rassismus. „Wir wollen, dass sich alle Menschen | |
sicher und willkommen fühlen“, schreiben die zum Bündnis gehörenden | |
Personen und Gruppen. Ali A. hat sich nicht umstimmen lassen. Seine Familie | |
ist weggezogen, der Laden steht leer. | |
„Ausländer raus! Geht nach Hause!“ – solche Parolen waren ans Schaufenst… | |
geschmiert. Ashwaq Al-Obaidi winkt ab. Was habe es nicht alles an | |
Beschimpfungen gegeben, als sie 2015 das erste Geschäft für orientalische | |
Lebensmittel eröffnete. „Es war eine schlimme Zeit.“ Diese Zeit ist | |
offenbar vorüber. Der Döner Burg, den sie inzwischen betreibt, ist eine | |
angesagte Adresse in der Schartauer Straße. Immer wieder schaut jemand zur | |
Tür herein, ihr Sohn nimmt Bestellungen auf. Für den großen Hunger gibt es | |
den „XXL Döner Burg“. Er sei einer der Favoriten, erzählt sie. Die Burger | |
mögen es üppig. Al-Obaidi ist eine zierliche Frau mit weißem Kopftuch, die | |
gern lacht. | |
Vor 23 Jahren kam sie hierher. Jetzt sind ihre Kinder groß, drei von ihnen | |
wurden in Burg geboren. Sie helfen mit oder haben ihren eigenen Laden | |
eröffnet. Al-Obaidi hat in Burg Wurzeln geschlagen. Sie hat die deutsche | |
Staatsbürgerschaft erhalten und ist ehrenamtlich engagiert. Seit Langem | |
unterstützt sie Arabisch sprechende Geflüchtete. Al-Obaidi dolmetscht bei | |
Ärzten, hilft auf Behörden. Und hat für die Deutschen auch schon | |
Arabisch-Einführungskurse angeboten. So eingespannt ist sie, dass sie ihre | |
geschäftliche Aktivität reduziert hat. Den Lebensmittelladen, sagt sie, | |
habe sie aus der Hand gegeben. Sie lacht. | |
Heute hat Ashwaq Al-Obaidi den Tisch fürstlich gedeckt. In der Mitte steht | |
ein Teller, breit wie ein Zuber und beladen mit Reis, Kartoffeln, | |
Fleischstückchen und Rosinen, dazu Linsen, Börek, Zaziki, Salat. Viel zu | |
viel für Birgit Kiel und Jürgen van Wieren vom Bündnis gegen Rechts, die | |
hier als Freunde empfangen werden. | |
„Erzähl, dass dich der Bundespräsident eingeladen hat!“, ruft Birgit Kiel | |
über den Tisch. – „Du warst auch dabei!“, entgegnet Al-Obaidi lachend. S… | |
Jahren sind die beiden Frauen befreundet und ergänzen sich perfekt. Kiel | |
ist mit der deutschen Mentalität bestens vertraut, und Al-Obaidi weiß | |
genau, wie es ist, wenn man allein und ohne Sprachkenntnisse hier | |
aufschlägt. | |
Die Arbeit des Duos hat sich herumgesprochen. Im November 2017 wurden die | |
beiden für ihr Engagement mit dem Integrationspreis des Landes | |
Sachsen-Anhalt geehrt, und im Februar 2018 kam es zum Empfang bei | |
Frank-Walter Steinmeier. Es lässt sich kaum ermessen, welche Bedeutung | |
solche Bilder haben: als Anerkennung – und als Versicherung. | |
So, wie sie dasitzen, essen und flachsen, kann man sich gut vorstellen, | |
dass die beiden von den Geflüchteten oft einfach „Mama“ genannt werden. | |
Heute ist es aber Jürgen van Wieren, der als „Papa“ angerollt ist. Van | |
Wieren, seit zwei Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen, hat die | |
fünfjährige Kiana aus dem Iran mitgebracht. 60 Jahre ist van Wieren alt und | |
vor sieben Jahren aus Ostfriesland nach Burg gekommen. Er ist Pfarrer der | |
kleinen Hugenottengemeinde, die sich auffallend in der Flüchtlingsarbeit | |
engagiert. Seit Jahren gewährt die Gemeinde Menschen, die von Abschiebung | |
bedroht sind, Kirchenasyl. Derzeit sind es Kianas Familie sowie zwei Syrer, | |
die im Gemeindehaus untergekommen sind. | |
Es liegt an ihrer eigenen Vergangenheit, an der blutigen Bartholomäusnacht | |
von 1572, den Religionskriegen und schließlich dem Exodus der französischen | |
Protestanten in das Kurfürstentum Brandenburg. Van Wieren hat ein bisschen | |
ausgeholt, um zu erklären, warum seine Gemeinde so engagiert ist. | |
Eine Begebenheit aus dem Jahr 2015, so bekennt er, hat sich ihm besonders | |
tief eingebrannt. Als die Flüchtlingszahlen immer weiter stiegen und die | |
Gemeinde über Kirchenasyl nachdachte, habe sich bei ihm eine betagte Frau | |
gemeldet, ihren Pfarrer bestärkt und bekräftigt: Wir sind ja auch | |
Flüchtlinge gewesen. Jürgen van Wieren dachte in dem Moment an Flucht und | |
Vertreibung im Kriegsjahr 1945. Weit gefehlt. „Es war die Flucht aus | |
Frankreich!“ Van Wieren, dessen Vorfahren aus den Niederlanden stammen, sei | |
sprachlos und dankbar zugleich gewesen. Eine Rettung, die länger als 300 | |
Jahre zurückliegt, habe diese alte Frau in ihrem Herzen bewahrt. Was für | |
ein Schatz! Ein Schatz, der lebendig bleibe. | |
Mehr als schade, dass die Stadtrallye vorm Hugenottenkabinett endete. Dort | |
hätten die Jugendlichen erfahren, dass die Hugenotten hier auf wenig | |
Gegenliebe trafen. Willkommenskultur? Fehlanzeige. Die Geflüchteten aus | |
Frankreich waren nichts als Konkurrenten. Und heute? Sei es nicht anders, | |
sagt van Wieren. „Dass die Leute hier im Stadtbild erscheinen, das gibt | |
auch Konflikte.“ | |
Die Neuen, sie träfen auf Unverständnis, auf Missachtung, auf Neid. „Die | |
Leute sind selbstbewusst“, sagt van Wieren. Die ließen sich doch nicht von | |
Deutschen sagen, wann sie ihr Geschäft schließen sollen. Sie ließen sich | |
auch von einer Schulleiterin nicht mehr diktieren, wie die Klasse | |
zusammengesetzt wird, in der ihre Kinder lernen, wenn sie darin keinen Sinn | |
sähen. Oder nur Ausgrenzung. | |
Es gibt auch eine muslimische Gemeinde. Jürgen van Wieren hat gemeinsam mit | |
dem Iman schon zu Gottesdiensten eingeladen. Er weiß, dass das nicht | |
unumstritten ist. Ihn ficht das nicht an. „Wir können miteinander essen, | |
tanzen. Aber zu Gott beten, das geht nicht?“ Derzeit, erzählt er, träfen | |
sich die Muslime in Kellerräumen zum Gebet. Irgendwann würden sie eine | |
Moschee errichten wollen. Das dürfte zu heftigeren Diskussionen führen als | |
bei einer gescheiterten Klassenbildung. Integration, sagt van Wieren, finde | |
eben auch über Konflikte statt. „Sogar, wenn sie verweigert wird.“ Er nennt | |
es „Integrationsparadox“. | |
Die Interkulturelle Woche, die im Jerichower Land von der Arbeiterwohlfahrt | |
koordiniert wird, lädt am Abend zum nächsten Ereignis. Ein Klezmertrio | |
präsentiert in einer mächtigen Kirche jüdische Lieder, gewürzt mit | |
chassidischen Weisheiten und jüdischem Humor, dazu gibt es Wein. Der Abend | |
ist kurzweilig. Als er zu Ende geht, steht ein schlanker, schwarzhaariger | |
Mann beim Pfarrer. Es ist Aras Badr, der Vater, der die Klassenbildung in | |
Burg-Süd bekannt gemacht hat. | |
Badr, der ein Gespräch mit Medienvertretern abgelehnt hatte, redet nun doch | |
kurz mit der taz. Er ist ein junger, aufmerksamer Mann Ende 20. Badr bittet | |
noch einmal um Verständnis, dass er die Auseinandersetzung jetzt nicht | |
weiterführen wolle. Er suche nach einer Lösung, sagt er, nicht nur für | |
seine Tochter, verabschiedet sich und fährt mit seiner Frau nach Hause, wo | |
die Kinder schon schlafen. | |
24 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Schulen-in-Deutschland/!5796061 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
## TAGS | |
Migration | |
Integration | |
Sachsen-Anhalt | |
Geflüchtete | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Der Hausbesuch | |
Kolumne Transit | |
Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Reaktion auf rechte Bürgerwehr: Protest für ein Recht auf Asyl | |
Rechtsextreme laufen an der Grenze zu Polen Streife, um Geflüchtete zu | |
vertreiben. Dagegen fand in Guben eine Mahnwache statt. | |
Der Hausbesuch: Drübergucken ist erwünscht | |
In einer Notunterkunft lernten die Mohammeds 2016 Morian Samuel kennen. | |
Heute sind beide Familien gut befreundet – und Kleingartennachbarn. | |
Schulen in Deutschland: Die Chance der Mehrsprachigkeit | |
In Sachsen-Anhalt wurden an einer Grundschule Kinder nach Muttersprache | |
getrennt. Auch andernorts wird das Potenzial von Mehrsprachigkeit | |
übersehen. | |
Heiligenskulptur in Sachsen-Anhalt: Kaiser Otto und der Schwarze Ritter | |
Er ist Schwarz, kommt aus Afrika und wohnt seit 800 Jahren in Magdeburg | |
gegenüber dem Landtag. Mauritius und seine Verehrung sind ein Lichtblick. |