# taz.de -- Forscher über Kraniche: „Migration als Kulturelement“ | |
> Im Herbst ziehen Kraniche nach Süden. Oft pausieren sie auf | |
> Norddeutschlands Moorwiesen. Bernhard Wessling beobachtet die Vögel seit | |
> Jahrzehnten. | |
Bild: Kennt sich mit Feldern gut aus: ein Kranich | |
taz: Herr Wessling, Sie sind von Beruf Chemiker und Unternehmer. Wie sind | |
Sie auf den Kranich gekommen? | |
Bernhard Wessling: Ich bin sehr naturbegeistert – als ich nach Bargteheide | |
gezogen bin und auf einmal Vögel gesehen und Rufe gehört habe, die ich | |
nicht kannte, war das interessant. Und weil Kraniche damals extrem selten | |
waren, war ich, zack, im Kranichschutz. Dabei sind mir dann viele Dinge im | |
Verhalten der Kraniche aufgefallen, die man so nicht erwarten würde. | |
Zum Beispiel? | |
Wie sie Probleme lösen: Ein Kranichpaar hatte einmal eine verspätete | |
Nachbrut. Eigentlich führen die Eltern die Jungen dann aus dem Nest. Aber | |
das Gras war höher als die Jungvögel, die so Gefahr liefen, in einem | |
unbeobachteten Moment vom Fuchs geholt zu werden. Ich vermute, dass eins | |
der Elterntiere auf der Nachbarwiese einen mähenden Trecker gehört hat. Es | |
hat einen Erkundungsflug gemacht und als es wieder zurückkam, ist die ganze | |
Vogelfamilie zu der Wiese losmarschiert, die nun gemäht und nicht mehr | |
gefährlich war. Das hat mich dazu gebracht, zu erforschen, was Kraniche | |
können. | |
Deshalb haben Sie auch angefangen, Tonaufnahmen der Vögel zu machen. | |
Ja. Kraniche haben keine charakteristische Zeichnung, man kann nicht einmal | |
Männchen und Weibchen auseinander halten. Deshalb bin ich auf den Gedanken | |
gekommen, ihre Rufe aufzunehmen und zu analysieren. Daraus ist ein | |
gigantisches Projekt geworden. | |
Sie haben auch ein Auswilderungsprojekt in den USA begleitet, bei dem ein | |
Ultraleichtflugzeug junge Kraniche in ihr Winterquartier leitet. | |
Der Plan war, sie von Wisconsin nach Florida zu begleiten, damit sie dort | |
wild werden und nach der Rückkehr im Frühjahr in Wisconsin dann eine neue, | |
wilde Population begründen, die sich von Menschen fern hält. Am Anfang | |
wurden sie aber nicht wild – weil Menschen versucht haben, mit ihrem Mund | |
ähnliche Lockrufe zu machen wie die Kranicheltern. Ich dachte: Man sollte | |
das nicht mit Lippe und Stimmband machen, sondern mit den Aufnahmen echter | |
Kranichlaute. Das war ein kompliziertes Projekt, auch weil es von den | |
Schreikranichen zu dieser Zeit nur noch 160 Exemplare gab, die auf einer | |
Fläche von 500 Quadratkilometern verteilt waren. | |
Was haben Sie mit dieser Methode über Kraniche gelernt? | |
Das Überraschendste ist vielleicht, dass das Beziehungsleben der Kraniche | |
viel dynamischer ist, als man denkt. Es sieht oft so aus, als ob die | |
Kraniche immer wieder in das gleiche Brutrevier kommen. Die meisten | |
Brutpaare haben aber mindestens einmal im Leben ihr Revier gewechselt, über | |
die Hälfte auch den Partner. | |
Sie sprechen davon, dass Kraniche eine Kultur haben. | |
Mithilfe von Sendern kann man beobachten, dass Kraniche nicht mechanisch im | |
Herbst von Norden nach Süden und im Frühling wieder zurück ziehen. | |
Stattdessen sind die Flugrouten und Überwinterungsgebiete sehr flexibel. | |
Vielleicht haben die Kraniche einfach Lust auf die Erkundung besser | |
geeigneter Überwinterungsgebiete. Es heißt ja immer, die Migration von | |
Vögeln sei genetisch kontrolliert. Die Gene, die dafür zuständig sein | |
sollen, hat man bisher aber nicht gefunden. Meine Annahme ist, dass sich | |
die Migration als eine Art Kulturelement herausgebildet hat, als sich die | |
Gletscher wieder zurückbildeten und neue Landschaften entstanden. | |
Unterschätzen wir die Intelligenz von Vögeln? | |
Ich hoffe sehr, dass andere in diesem Bereich noch weiter und tiefer | |
forschen. Durch meine Forschung habe ich nur zufällig herausgefunden, dass | |
Kraniche viel intelligenter sind, als wir lange dachten. Ein Grund dafür | |
ist sicher, dass wir an Intelligenz noch oft mit menschlichen Maßstäben | |
herangehen. Für uns ist Intelligenz, wenn Tiere etwas können, was wir auch | |
können. Wenn Tiere etwas können, aber wir nicht, bezeichnen wir das gerne | |
als Instinkt oder genetische Prägung. Auch Verhaltensbiologen sagen, dass | |
man Intelligenz nicht nach menschlichen Maßstäben definieren sollte. | |
Sondern? | |
Intelligenz misst sich daran, wie flexibel sich ein Lebewesen unter seinen | |
jeweiligen Bedingungen verhält. Im Grunde müssen wir für jede Tierart | |
herausfinden, in welche Richtung diese Art jeweils intelligent ist. Meine | |
Kritik an der Intelligenzverhaltensforschung bei Vögeln ist auch, dass sie | |
meist im Labor gemessen wird. Krähen bekommen die gleichen Aufgaben wie | |
dreijährige Kinder. Es ist aber völlig uninteressant, ob Vögel Farben | |
erkennen und dreieckige Bauklötze in dreieckige Löcher stecken können. Für | |
Kraniche ist es viel wichtiger, Käfer von Kieselsteinen unterscheiden zu | |
können und aus der Luft zu erkennen, was ein guter Ort zum Übernachten sein | |
könnte. | |
Haben Sie ein Beispiel, wie sich Kraniche in ihrer Umgebung intelligent | |
verhalten? | |
Bei einer Expedition bin ich sehr früh morgens auf ein Kranichpaar | |
gestoßen, das auf dem Festland stand, obwohl Kraniche eigentlich knietief | |
im Wasser übernachten. Am Tag vorher gab es auf einer Fläche in der Nähe | |
eine Brandrodung. Als es hell wurde, sind die Vögel dann tatsächlich auf | |
dieses Gebiet gegangen. Sie haben direkt neben diesem ungewöhnlichen Ort | |
übernachtet, weil sie wussten, dass es am Tag nach einem Brand gegrillte | |
Heuschrecken gibt. | |
Wo beobachten Sie die Vögel am liebsten? | |
Ich gehe zum Duvenstedter oder Klein-Hansdorfer Brook. Dort begann vor | |
vierzig Jahren auch meine Forschung zu den grauen Kranichen, als 1981 das | |
erste Paar zum Brüten kam. | |
Warum erst 1981? | |
In der DDR gab es damals sehr viele Kraniche. Anders als im Westen wurden | |
auf den Äckern Wasserflächen mit Büschen erhalten. Irgendwann waren alle | |
verfügbaren Biotope in der DDR besetzt und die Kraniche haben sich auf die | |
Suche nach neuen Revieren gemacht. | |
Sind Kraniche in Deutschland ein Beispiel für erfolgreichen Naturschutz? | |
Wir haben immer noch viel zu wenig Feuchtgebiete und Moore. Das bisschen, | |
was in der Hinsicht in den letzten Jahren passiert ist, hat den Kranichen | |
aber gut getan – und ist ein gutes Beispiel dafür, dass man noch mehr tun | |
muss. Nicht nur für die Kraniche. | |
19 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Teresa Wolny | |
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