| # taz.de -- Wahl in Tschechien: Noch lange nicht weg | |
| > Der amtierende Regierungschef Andrej Babiš verliert die Wahl zum | |
| > Abgeordnetenhaus. Trotzdem könnte er am Ende wieder Ministerpräsident | |
| > werden. | |
| Bild: Glücklicher Verlierer: Der amtierende Ministerpräsident Babiš am Samst… | |
| Das Treiben in der Prager Markthalle am Moldauufer im nördlichen Stadtteil | |
| Holešovice scheint an diesem Samstag Vormittag emsiger als sonst. Die | |
| Stände mit Biohühnchen aus südböhmischen Freilaufgehegen gähnen schon kurz | |
| nach zehn Uhr vor Leere, die eisigen Auslagen der Fischhändler bieten nur | |
| noch ein paar Stückchen Lachs, drei Päckchen Crevetten und Seealgen. Umso | |
| länger die Schlangen vor den Tischen mit frischen Kräutern, neuen | |
| Kartoffeln oder usbekischen Spezialitäten. | |
| „Ich muss noch wählen“, meint Pepa, der an einem der Dutzenden Gemüsestä… | |
| darauf wartet, seinen Hokkaidokürbis zu bezahlen. „Mein Wahllokal liegt auf | |
| dem Heimweg“, lacht Pepa, ein 61-jähriger Prager, der „irgendwas im | |
| mittleren Management“ in einem der größeren Versicherungskonzerne des | |
| Landes macht: „Ich weiß allerdings immer noch nicht, wen ich wählen soll, | |
| auf jeden Fall aber gegen Babiš“, sagt Pepa, eigentlich Josef, der seit | |
| über 20 Jahren in diesem ehemaligen Hafenviertel lebt, das sich inzwischen | |
| zu einem der beliebtesten Kieze der Moldaumetropole entwickelt hat. | |
| Auf jeden Fall gegen Babiš: hat das Prager Bürgertum, wie weite Teile des | |
| tschechischen juste milieu, den politischen Aufstieg des Oligarchen Andrej | |
| Babiš vor zehn Jahren noch mitgetragen, fühlte sich die Ernüchterung, die | |
| sich dort spätestens nach der Kür Babiš’ zum Regierungschef 2017 | |
| eingestellt hatte, umso bitterer an. | |
| Die Maske des Selfmade-Milliardärs, der den Staat wie eine Firma zu Größe | |
| lenken vermag – immerhin gehört die Agrofert-Holding, die Babiš nach der | |
| Wende aufgebaut hat, zu den größten Düngeproduzenten Europas –, begann mit | |
| dem ersten Wahlerfolg des slowakischen Oligarchen 2013 zu bröckeln. | |
| ## Kreuzzug gegen Korruption | |
| In den Wahlen damals errang die ANO-Bewegung, die der heute 67-jährige | |
| Babiš 2011 gegründet hatte, aus dem Nichts und auf dem Ticket der | |
| Korruptionsbekämpfung, den Rang eines Juniorpartners in einer gemeinsamen | |
| Koalition mit Sozial- und Christdemokraten. | |
| Sein Kreuzzug als Finanzminister gegen die Korruption fand ihren Höhepunkt | |
| dann in der Einführung einer elektronischen Registrierkasse und der Praxis, | |
| mittelständischen Firmen auf bloßen Verdacht hin Überfallkommandos ins Haus | |
| zu schicken, die erst die Produktion dichtmachten und dann begannen, Fragen | |
| zu stellen. | |
| Die Glaubwürdigkeit Babiš’ war in den großen Städten schnell erschöpft. | |
| Umso mehr, als seine Vergangenheit als kommunistischer Nachwuchskader | |
| bekannt wurde, der seine bevorzugte Stellung und Bildung als | |
| Diplomatensohn, Delegat des tschechoslowakischen Außenhandels und | |
| Mitarbeiter der tschechoslowakischen Staatssicherheit nutzte, um in der | |
| Privatisierungswelle der 1990er Jahre Herrschaft über einen Teil der | |
| tschechoslowakischen Chemie- und Lebensmittelindustrie zu erringen. | |
| In diese Zeit reicht auch seine Bekanntschaft mit Präsident Miloš Zeman, | |
| damals Chef der tschechischen Sozialdemokratie und Ministerpräsident | |
| zwischen 1998 und 2002. | |
| Kurz vor den Wahlen 2013 erstand die Agrofert unter Babiš’ Leitung von der | |
| Rheinisch-Bergischen Verlagsgesellschaft den Zeitungsverlag Mafra. Seitdem | |
| sorgt sich die „Holding“, wie Babiš seine Firma, die er 2017 in einen | |
| Treuhandfonds überschreiben musste, fast zärtlich nennt, in Tschechien auch | |
| ums Fressen wie um die Moral: Teil des Konzerns (Jahresumsatz 6,6 | |
| Milliarden Euro) sind sowohl mehrere Billigfleischfabriken wie auch | |
| Leitmedien, zum Beispiel die Tageszeitungen MF dnes oder Lidové noviny und | |
| Illustrierte vom Typ Friseursalon oder Wartezimmer. | |
| Und Babiš sorgt selbst für Schlagzeilen: [1][„Storchennest“-Affäre], | |
| Stasi-Prozesse in der Slowakei, Pandora Papers. Seinem Anspruch, ein | |
| Staatsmann zu werden, über den man in den Salons weltweit mit Anerkennung | |
| spricht, konnte Babiš, der Oligarch, nie gerecht werden. | |
| Verpönt in Prag und anderen größeren Städten des Landes, setzte Babiš in | |
| diesem Wahlkampf von Anfang an auf seine traditionellen Hochburgen in den | |
| wirtschaftlich ärmeren Grenzgebieten. Dabei schien er vor allem um die | |
| Gunst von Rechtsaußen zu buhlen. Mit einfachen Sätzen gegen Migranten, | |
| Green Deal und für höhere Renten punktete er dort wie erwartet. | |
| Nicht in Prag. „Ich habe die Bürgermeisterpartei gewählt“, erzählt Pepa, | |
| der beim Urnengang seinen Kumpel Martin getroffen hat, mit dem er jetzt | |
| gegenüber dem Wahllokal im Biergarten sitzt. Dort gibt es für Wähler egal | |
| welcher Partei 20 Prozent Nachlass auf Getränke. „Es ist wichtig, dass in | |
| diesen Wahlen viele mitmachen“, erklärt Wirtin Eva. „Wir müssen Babiš | |
| loswerden“. | |
| „Ich habe eingekreist“, sagt Pepa zufrieden. Das heißt, dass er auf der | |
| gemeinsamen Kandidatenliste von Piraten und Bürgermeistern, kurz PirStan, | |
| vier Kandidaten der Bürgermeisterpartei eingekreist hat. Eine Art | |
| Direktwahl, die das tschechische Wahlsystem ermöglicht. „Ich habe das auf | |
| Facebook so gesehen, da haben viele Fotos von ihren Wahlscheinen geschickt, | |
| auf denen Kandidaten eingekreist waren.“ | |
| ## Gesundheitsfreak mit Dreadlocks | |
| Die Piratenwähler haben sich dabei eher an das Gentlemen’s Agreement | |
| gehalten und das Bündnis als Ganzes gewählt. In Folge haben die Piraten 18 | |
| ihrer bislang 22 Abgeordneten verloren, die Bürgermeister dafür 33 | |
| gewonnen. | |
| „Ich wollte die Piraten nicht wählen. Wenn das mit dem Einkreisen nicht | |
| wäre, hätte ich SPOLU gewählt“, sagt Pepa. Die Piraten gelten noch nicht | |
| als regierungsfähig, das Image der jungen, wilden, Linken, das Parteichef | |
| Ivan Bartoš, ein drahtiger Gesundheitsfreak mit Dreadlocks, allzu sehr | |
| gepflegt hat, kommt nicht überall in der Mittelschicht an. | |
| Die Bürgermeisterpartei, ein Zusammenschluss aus Kommunalpolitikern und | |
| Parteilosen, vergleichbar mit den Freien Wählern, appelliert dagegen an das | |
| Bürgertum in den Städten wie kleineren Gemeinden. „Ich denke an Václav | |
| Havel“, schrieb der Oberbürgermeister, Parteichef Vit Rakušan, in seinem | |
| Kommentar nach dem Wahlerfolg auf Facebook. | |
| Andrej Babiš hingegen gab den schlechten Verlierer. Mit seiner typischen | |
| emotionalen bis ins Vulgäre reichenden Offenheit, mit der er die einen in | |
| seinen Dunstkreis der Macht zog und für andere eine Duftmarke setzte, die | |
| abstieß, erklärte Babiš am Samstagabend in Prag seine Niederlage: „Wir | |
| haben nicht damit gerechnet, aber wir haben verloren“, erklärte er gefasst, | |
| flankiert von seiner geschockt dreinblickenden Ehefrau Monika und einer bis | |
| ins Unkenntliche verbittert schauenden Vizepartei-Chefin. | |
| ## Natürlicher Partner | |
| Dabei sei er ja der Gewinner der Wahlen, meinte Babiš weiter. Denn das | |
| Wahlbündnis SPOLU sei ja schließlich ein Zusammenschluss aus drei Parteien. | |
| Deshalb sei er noch immer Leader der stärksten Partei, der ANO, und werde | |
| sich deshalb um die Regierungsbildung kümmern, erklärte Babiš. | |
| Als erstes werde er Wahlsieger SPOLU ansprechen. Babiš hat nie einen Hehl | |
| daraus gemacht, dass er die ODS, die Stärkste im Triumvirat, als seinen | |
| natürlichen Partner in der Politik betrachtet. Petr Fiala, ODS-Chef und | |
| Politolgie-Professor mit Kinnbart und Pfeife, lehnt eine Zusammenarbeit mit | |
| der ANO aber kategorisch ab. „Das kann ich unseren Wählern nicht antun.“ | |
| Muss er auch nicht, denn das Schreckgespenst der Wahlen, Rechtspopulist | |
| Tomio Okamura, hat an Grauen verloren. Mit seinen 21 Abgeordneten wird er | |
| der ANO und deren 71 Mandaten keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus schaffen | |
| können. Weitere potenzielle und ehemalige Koalitionspartner der ANO wurden | |
| abgestraft: Bei einem Wahlergebnis von unter fünf Prozent für sowohl | |
| Sozialdemokraten wie auch Kommunisten bedeuten diese Wahlen auch das Ende | |
| dieser beiden über einhundert Jahre alten Parteien in der tschechischen | |
| Politik. Den Kommunisten sind die Wähler weggestorben, den Sozialdemokraten | |
| die Themen. | |
| Im Parlament auf der Kleinseite fehlen Babiš die Partner. Und Präsident | |
| Miloš Zeman wird gerade von seinem Lebenswandel eingeholt. Nach einem | |
| Treffen mit Andrej Babiš am Sonntagvormittag wurde der Präsident ins | |
| Krankenhaus eingeliefert, angeblich hing er dabei leblos in seinem | |
| Rollstuhl. Während die Burg sich in Schweigen hüllt und jedem mit Klagen | |
| droht, der im Zusammenhang mit Zeman Begriffe wie Leberzirrhose oder Demenz | |
| erwähnt, ist klar, dass der alte Mann seines Amtes nicht mehr fähig ist. | |
| Ist Zeman aus dem Spiel, gehen seine Vollmachten größtenteils an den | |
| Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses über, ANO-Mann Radek Vondracek, teils | |
| stärken sich damit auch die Vollmachten des Regierungschefs. Andrej Babiš | |
| mag verloren haben. Aber er ist nicht weg. | |
| 10 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alexandra Mostyn | |
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