# taz.de -- Kabuls Bürgermeister über Taliban: „Wir müssen den Taliban hel… | |
> Kabuls Bürgermeister Mohammad Daud Sultanzoy arbeitet seinen | |
> Taliban-Nachfolger ein. Er erklärt, warum die Regierung neu besetzt | |
> werden muss. | |
Bild: Ein Afghane fährt Fahrrad, während Taliban auf einem Pick-Up patrouilli… | |
taz: Herr Sultanzoy, Sie waren Bürgermeister, [1][bevor die Taliban die | |
Macht übernahmen,] und sind es immer noch. Wie kam das? | |
Mohammad Daud Sultanzoy: Den Taliban wurde mit der Flucht von Präsident | |
Aschraf Ghani eine heiße Kartoffel in den Schoß geworfen. Sie haben mir | |
gesagt, dass sie nicht darauf vorbereitet seien, diese große Lücke schnell | |
zu füllen. Sie dachten, die Verhandlungen würden Monate dauern und sie erst | |
an deren Ende in Kabul einmarschieren. Deshalb baten sie mich zunächst, | |
weiterzumachen. | |
Warum sind Sie nicht wie [2][Präsident Ghani] ins Ausland geflohen? | |
Ich bin in diesem Land geboren und aufgewachsen. Nach der sowjetischen | |
Invasion habe ich wegen der Unterdrückung das Land verlassen. Als ich älter | |
wurde, wurde mir klar, dass wichtige Beamte, die aus ihrer Heimat fliehen, | |
dort ein schädliches Vakuum hinterlassen. Dann vergießen sie Tausende | |
Kilometer entfernt Krokodilstränen über ihr Land und schreiben darüber | |
Essays. | |
Sie entschuldigen sich aber nicht dafür, dass sie vor dem weggelaufen sind, | |
was sie selbst angerichtet haben. So jemand will ich nicht sein. Ich habe | |
nichts zu verbergen oder zu befürchten. Jetzt ist es an Leuten wie uns, den | |
Taliban zu sagen: Wenn ihr dieses Land wirklich regieren wollt, sind wir | |
da. Wollt ihr unsere Erfahrung nutzen, stehen wir euch zur Seite, um | |
Afghanistan zu helfen. | |
Der Talib Hamdullah Normani steht schon als ihr Nachfolger bereit. | |
Er leitet derzeit die Kommission für Gemeinden und gehört auch der | |
Kommission der Stadt Kabul an. Bisher hat er trotz anderslautender | |
Meldungen noch nicht das Bürgermeisteramt übernommen, aber ich gehe davon | |
aus, dass er mich bald ablöst. | |
Wie ist es, mit den Taliban zusammenzuarbeiten? Weisen Sie Ihren Nachfolger | |
in seine Arbeit ein? | |
Ja, wir arbeiten zusammen. Er ist ein netter Mann, verständnisvoll, milde | |
und offen. Wir sprechen über verschiedene Themen, und ich versuche, ihm zu | |
helfen. Er war in den 1990er-Jahren während des letzten Taliban-Regimes | |
schon einmal Bürgermeister von Kabul, als die Stadt noch viel kleiner und | |
einfacher zu verwalten war. | |
Sorgen Sie sich, dass er und die Taliban jetzt genau da weitermachen, wo | |
sie damals aufgehört haben? | |
Wir müssen realistisch sein und angemessene Erwartungen an die Taliban | |
haben. Zugleich erwarten wir, dass sie sich an bestimmte Normen halten. | |
Denn die afghanische Gesellschaft hat sich verändert, und ich hoffe, dass | |
dies berücksichtigt wird. Die Taliban sind als siegreiche Kämpfer in Kabul | |
einmarschiert, jetzt müssen sie eine Regierung im Dienste des Volkes | |
werden. Im 21. Jahrhundert kann der Kampf mit der Waffe allein ein Volk | |
nicht zufrieden stellen. Es muss um Dienstleistungen, Aufbau und | |
Fortschritt gehen. | |
Sie glauben, dass die Taliban heute moderater sind? | |
Ich hatte noch nicht genug mit ihnen zu tun, um mir ein abschließendes Bild | |
machen zu können. Wie andere afghanische Gruppen hat auch diese | |
unterschiedliche Strömungen. Wir wissen noch nicht, wie die neue Politik | |
aussehen wird. | |
Kann man die Taliban nicht schon danach beurteilen, wie sie ihre Regierung | |
zusammengestellt haben? Sie enthält nur Taliban und keine einzige Frau. | |
Nach meinen Informationen handelt es sich um eine vorläufige Regierung. | |
Alle amtieren nur geschäftsführend, um erst mal schnell handeln zu können. | |
Natürlich gibt es bestimmte Posten, die besondere fachliche Fähigkeiten | |
erfordern. Deshalb sollte man bald über Veränderungen in diesem Kabinett | |
nachdenken. Denn diese Regierung wird nicht genügen, schaut man sich die | |
technischen Aspekte der Bedürfnisse des Landes an, ebenso im Hinblick auf | |
die internationalen Beziehungen. | |
Es geht nicht nur darum, dass Frauen in der Regierung vertreten sind, | |
sondern auch um viele technische Aspekte. Wir sollten uns nicht nur auf die | |
Symbolik versteifen. Mein Vorschlag wäre, dass die Taliban die Ämter in | |
Sicherheit, Justiz und vielleicht auch den Posten des Generalstaatsanwalts | |
behalten. Aber es wäre besser, technische Kabinettsposten wie Finanzen und | |
Wirtschaft mit kundigen Technokraten zu besetzen, die keine Taliban sind. | |
Während Jungen wieder in die Schule dürfen, müssen Mädchen im Alter von 13 | |
bis 18 Jahren zu Hause bleiben. Was heißt das für die Rechte von Frauen? | |
Wichtig wird sein, wie die Scharia von den Taliban ausgelegt werden wird. | |
[3][Denn auch in der Scharia haben Frauen Rechte – mehr Rechte, als Sie | |
sich vielleicht vorstellen können.] Ich will den Frauen in Afghanistan | |
nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, aber ich denke, dass 99 Prozent | |
der Frauen hier eine völlig andere Kultur haben als in anderen Ländern. Wir | |
können afghanischen Frauen nicht die westliche Kultur aufzwingen. Aber wir | |
dürfen auch nicht vergessen, dass Frauen gleiche Rechte wie Männer haben, | |
nämlich etwa das Recht zu arbeiten und auf Bildung. | |
Mir wurde gesagt, die Taliban würden gerade Vorschriften ausarbeiten, um | |
den Rahmen zu definieren, in dem Frauen arbeiten und zur Schule gehen | |
können. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass auch Mädchen bald wieder in | |
die Schule dürfen. Wir müssen uns aber auch um die Bedürfnisse von Frauen | |
auf dem Land kümmern, dass sie nicht bei der Geburt ihres Kindes sterben | |
oder ihre Kinder an Unterernährung. | |
Ihr designierter Nachfolger Hamdullah Nomani hat verkündet, dass weibliche | |
Angestellte der Stadtverwaltung nicht mehr zur Arbeit kommen sollen, nur | |
jene, deren Arbeit nicht von einem Mann gemacht werden kann. Die Zeichen | |
der Taliban sind doch deutlich, oder? | |
Ich war nicht dabei und kenne den Inhalt der Pressekonferenz von Herrn | |
Nomani nicht. Darum kann ich das nicht kommentieren. | |
Was beschäftigt Sie und Ihre Mitarbeiter derzeit am meisten? | |
Am dringendsten ist es für uns, die städtischen Dienstleistungen am Laufen | |
zu halten, wie etwa Wasserversorgung und Instandhaltung von Straßen und | |
anderer Infrastruktur. Wir bekommen keine Mittel von der Regierung, und | |
unsere Einnahmen sind beeinträchtigt, weil das Finanzsystem am Boden liegt. | |
Ohne Einnahmen leiden auch unsere Dienstleistungen. | |
Was könnten Länder wie Deutschland tun, um den Menschen in Afghanistan zu | |
helfen? | |
Deutschland ist nicht der Freund von Afghanistans Regierungen, aber des | |
afghanischen Volkes. Und falls diese [4][Taliban-Regierung] dem | |
afghanischen Volk hilft, sollte Deutschland auch der Regierung helfen. | |
Soweit ich weiß, stehen deutsche Stellen seit Jahren mit den Taliban in | |
Kontakt, um den Frieden zu fördern. Das kann jetzt für Gespräche genutzt | |
werden. | |
Halten sich die Taliban an die Rechtsstaatlichkeit, an der es die letzten | |
zwanzig Jahre gemangelt hat, würde uns allein das schon auf den richtigen | |
Weg bringen. Aber wir brauchen auch eine Regierung, die inklusiver ist, | |
ohne dass sie diejenigen einschließt, die in den letzten zwanzig Jahren an | |
der Macht waren. Nur so kann die neue Regierung mit den Nachbarstaaten und | |
der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeiten. Wir dürfen keine | |
Paria-Nation werden, sondern brauchen ein Regime, das auf Interessen | |
anderer Länder Rücksicht nimmt und Teil der internationalen Gemeinschaft | |
werden kann. | |
Und da ist Deutschland unser wichtigster Freund, der eine politische, | |
finanzielle und auch humanitäre Rolle spielen kann. Momentan sind wir in | |
vielen Bereichen vom Rest der Welt abgeschnitten. Unsere Unternehmen können | |
keine Finanztransfers durchführen, und die Kredite reichen nicht ewig. | |
Deshalb könnten unsere Lebensmittelimporte abreißen. Dazu kommen die Dürre | |
und zerstörte Versorgungswege und Transportmittel. Wir stehen vor einer | |
Katastrophe epischen Ausmaßes. | |
Wie sieht die Vision ihres Nachfolgers Hamdullah Nomani für Kabuls Zukunft | |
aus, wie will er die Stadt gestalten? | |
Wir haben das nicht besprochen, weil wir noch keine Gelegenheit hatten, so | |
tief in die Materie einzusteigen. Ich habe elf Regierungs- und | |
Regimewechsel erlebt, vom König bis hin zur aktuellen zweiten Herrschaft | |
der Taliban. Es ist ein sehr kompliziertes Land und eine schwierige Zeit. | |
Ich hoffe, dass wir das Leben von Millionen Menschen nun zum Besseren | |
verändern können. | |
Warum sollte es den Menschen trotz des Taliban-Regimes besser gehen als in | |
den letzten zwanzig Jahren? | |
Ich bin sicher, dass es möglich ist! Wenn es die Taliban ernst meinen, das | |
Leben der Afghanen, die zu den ärmsten Menschen der Welt gehören, zu | |
verbessern, dann haben sie großen Spielraum dafür. Sie müssen nur einen | |
pragmatischen Ansatz für den Wiederaufbau wählen. Das allein wird uns | |
weiterbringen, als wir je waren. Wir müssen Entwicklungsprojekte | |
vorantreiben, die Korruption eindämmen und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen. | |
Das Land ist nicht arm, sondern die Armut wurde ihm durch Missmanagement | |
und Korruption aufgezwungen. Wir müssen den Taliban jetzt helfen. Ich und | |
viele andere sind in diesem Land geblieben, weil wir ihm dienen wollen. Es | |
ist genauso unser Land, wie es das der Taliban ist. Niemand kann unsere | |
Liebe zu diesem Land infrage stellen. Deshalb sind wir bereit, dieser | |
Nation zu dienen, und die Taliban sollten uns den Raum dafür geben. | |
26 Sep 2021 | |
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