# taz.de -- Wie Volt Berlins Politik verändern will: Liberale Steckdose | |
> Das Volt-Programm ist eine Mischung aus Ökologie und Liberalismus. | |
> Mietendeckel und Enteignungen von Wohnungen lehnt die Partei ab. | |
Bild: Europa als Programm und Ideal: Volt-Anhänger*innen in Amsterdam | |
BERLIN taz | Jung und progressiv will Volt sein: Eine Kleinpartei, die sich | |
[1][mit der Flagge der Europäischen Union] schmückt und die sich nach einer | |
Maßeinheit für elektrische Spannung benannt hat. „Es geht darum, neue | |
Energie in die Politik zu bringen“, sagt ihre Berliner Spitzenkandidatin | |
Carolin Behr. | |
Das Ziel der 31-jährigen Ärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die | |
ihren Job aktuell für die Politik ausgesetzt hat: Die [2][Fünfprozenthürde | |
knacken und ins Berliner Abgeordnetenhaus] einziehen. Dort will sie „Ideen | |
aus ganz Europa“ einbringen und so die Politik zum lösungsorientierten | |
Handeln anregen. | |
Gegründet wurde Volt 2016 als Gegenentwurf zum erstarkenden Nationalismus | |
und Rechtspopulismus. Brexit und Trump hätten sie politisiert, erzählt auch | |
Behr. „Ich wollte unbedingt etwas machen“, sagt sie, am Telefon klingt ihre | |
Stimme immer noch schockiert. Da wäre ihr eine Bewegung, die in ganz Europa | |
die gleichen Probleme sehe und versuche, diese gemeinschaftlich zu lösen, | |
gerade richtig gekommen. Behr baute das Hamburger und Berliner Volt-Team | |
auf. | |
Volt ist in 30 Ländern Europas aktiv. „Zuerst wird bei uns das europäische | |
Programm geschrieben, daraus leiten sich dann die nationalen und lokalen | |
Programme ab“, berichtet Behr. 2019 errang die Partei einen Sitz im | |
Europäischen Parlament; seit Anfang dieses Jahres ist sie auch im | |
niederländischen vertreten. Der [3][größte Erfolg in Deutschland]: fast | |
sieben Prozent und fünf Sitze bei den Wahlen zur | |
Stadtverordnetenversammlung in Darmstadt. | |
Doch wofür Volt politisch steht, ist gar nicht so einfach zu beantworten. | |
Die Partei selbst lehnt eine Einordnung im klassischen Links-rechts-Schema | |
ab. „Unser Motto ist Komplexität statt einfache Lösungen“, sagt Behr dazu. | |
Dies sei auch ihr Gegenentwurf zum Rechtspopulismus. Statt die Ängste der | |
Menschen anzuspielen, wolle Volt „konstruktive und langfristige | |
Politikvorschläge einbringen“, sagt sie. | |
Zentral für die Partei ist der Glaube an sogenannte Best Practices, eine | |
aus der Wirtschaftswissenschaft entstammende Bezeichnung für erprobte und | |
deshalb angeblich objektiv beste Lösungen. Volt spreche mit Expert:innen | |
über Probleme und darüber, wo es diese bereits gegeben hat und wie sie dort | |
gelöst wurden, sagt Behr: „Nachdem wir uns den Input geholt haben, | |
diskutieren wir darüber und entscheiden auf Basis unserer Werte.“ Diese | |
seien Menschenwürde, Gerechtigkeit, Freiheit, Nachhaltigkeit, Solidarität | |
und Chancengleichheit. | |
Die Devise lautet also: Sachpolitik statt Ideologie, Lösungsorientierung | |
statt politischer Grabenkämpfe. Doch natürlich hat Volt die Wissenschaft | |
nicht exklusiv gepachtet. Den meisten Parteien stehen wissenschaftliche | |
Einrichtungen nahe, wie die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen oder die | |
Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linken. Neu an Volt ist weniger ihr Verweis auf | |
die Wissenschaft, sondern die Aura des Apolitischen und des | |
Unvoreingenommenen, mit der sich die Partei umgibt. „Mich nervt das | |
Schwarz-Weiß-Denken“, sagt auch Behr. | |
Das aber ist eine Rhetorik, die gelegentlich auch andere Parteien | |
anschlagen: „Die einen suchen den Klassenkampf, die anderen den | |
Kulturkampf. Wir suchen Lösungen“, schreibt zum Beispiel die Berliner FDP | |
auf ihrer Webseite – und formuliert so den neoliberalen Irrglauben an die | |
angeblich unpolitischen Imperative des Marktes. Darauf angesprochen, betont | |
Behr dennoch die Differenzen mit der FDP. | |
Sie verweist auf das Bundesprogramm, in dem Umverteilung gefordert würde, | |
da „wenige Menschen zu viel Macht und Einfluss besitzen“. Tatsächlich | |
fordert das Bundesprogramm einen [4][Mindestlohn von 13 Euro (mehr als die | |
SPD]), die Abschaffung von Minijobs, mehr Sozialhilfe und eine moderate | |
Erhöhung der Erbschaftssteuer – allerdings nur für Vermögen über 480.000 | |
Euro. Ansonsten heißt es dort zum Beispiel, die Klimakrise sei | |
unternehmerisch zu lösen; außerdem will die Partei die | |
Unternehmenssteuersätze senken. | |
Auch das wichtigste Thema im Berliner Wahlprogramm, die Digitalisierung, | |
ist ein liberales Kernthema. Durch Entschlackung und Digitalisierung der | |
Bürokratie soll Berlin zum Beispiel attraktiver für europäische Start-ups | |
werden. Volt will eine „Smart City Berlin“ schaffen, in der städtische | |
Betriebe, Wirtschaft und Wissenschaft besser vernetzt sind. Auch eine | |
digitalisierte Verwaltung würde „überall“ Vorteile schaffen, weil etwa | |
Fördergelder schneller vergeben werden könnten. Um das umzusetzen, schlägt | |
Volt die Einrichtung einer Senatsverwaltung für Digitalisierung vor. | |
Progressiv lesen sich die Forderungen zum Klimaschutz: Die Partei will mehr | |
Fahrräder, sie unterstützt Kiezblocks, um Viertel autofrei zu machen, sie | |
fordert den Ausbau des ÖPNV, mehr Parks und stadtweit Tempo 30. Die | |
Initiative Stadt für Menschen zählte Volt deshalb kürzlich neben den Grünen | |
und der Klimaliste zu den drei grünen Parteien des Wahlkampfs. | |
## Mehr Chancengleichheit | |
Behrs Herzensthema ist derweil die Bildungspolitik: Sie setzt sich für mehr | |
Chancengerechtigkeit ein. Um die sozialen Herkunftsunterschiede | |
auszugleichen, müssten Familien viel breiter unterstützt werden. „In | |
Finnland gilt das Motto: ‚Ein ganzes Dorf erzieht ein Kind‘“, sagt Behr u… | |
verweist auf ein weiteres Best-Practice-Beispiel. „Da sollten wir auch | |
hin.“ | |
Überraschen dürfte progressiv gesinnte Wähler:innen dagegen die Position | |
von Volt beim zentralen Thema Wohnen: Sowohl der Mietendeckel als auch die | |
Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne werden abgelehnt. Damit stellt | |
sich die Partei gegen die beiden wichtigsten Anliegen linker Politik in | |
diesem Wahlkampf. | |
Zwar teile Volt „die Ziele nach mehr dauerhaft günstigem Wohnraum“, sagt | |
Behr. Dann aber wiederholt sie die bekannten Argumente der Immobilienlobby: | |
[5][Enteignung sei rechtlich zu unsicher] und würde dem Stadt wegen der | |
hohen Entschädigungskosten zu teuer kommen. „Durch Vergesellschaftung | |
entsteht keine neue Wohnung“, sagt sie. | |
Der [6][Mietendeckel] würde das Angebot an Mietwohnungen verknappen. | |
Stattdessen will die Partei eine verschärfte Mietpreisbremse, mehr sozialen | |
Wohnungsbau und dessen permanente Preisbindung, mehr Wohngeld, ein | |
Immobilienregister und mehr Neubau und Nachverdichtung. | |
Behr betont, all diese Urteile seien nicht ideologisch, sondern würden rein | |
auf Gesprächen mit Expert:innen beruhen. Das aber ist fragwürdig, weil | |
es eine ganze Reihe Expert:innen gibt, die Vergesellschaftung super und | |
den Mietendeckel notwendig finden. Letztlich kommt es eben darauf an, wen | |
man fragt. Kein Wunder: Die Methoden der Sozialwissenschaften mögen | |
meistens objektiv sein; die von ihr verfolgten Ziele dagegen sind häufig | |
durch und durch politisch. Vielleicht ist das Problem mit den Best | |
Practices von Volt ja, dass sie die Frage ausklammern, für wen etwas am | |
besten ist. | |
17 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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