| # taz.de -- Die Wahl für Niedrigverdiener: 12 Euro reichen nicht | |
| > Grüne, Linke und SPD wollen den Mindestlohn deutlich erhöhen. Die Union | |
| > behandelt das Thema dagegen nur am Rande. | |
| Bild: Handfeste Ankündigung: SPD-Kandidat Olaf Scholz verspricht mehr Geld | |
| Wenn mit einer Bestellung etwas schiefgelaufen ist, muss Matthias Köhler | |
| oft die Wut der Kunden ertragen. In dem Lunch-Restaurant mit Lieferservice, | |
| in dem Köhler die Außer-Haus-Bestellungen koordiniert, haben schon mehrere | |
| Mitarbeiter geweint, weil Kunden sie anschrien – und das alles bei einem | |
| Job, in dem man weniger als 10 Euro in der Stunde verdient. „Niemand sollte | |
| für so wenig Geld solche Scheißjobs machen“, sagt der Mittzwanziger aus | |
| Hessen, der eigentlich anders heißt – aber aus Bange vor | |
| Auseinandersetzungen mit seinem Arbeitgeber lieber nicht genannt werden | |
| möchte. | |
| Seit fünf Jahren arbeitet Köhler hier, fast durchgängig zum gesetzlichen | |
| Mindestlohn. Als es ihm im vergangenen Jahr gelang, eine magere | |
| Gehaltserhöhung von 50 Cent pro Stunde herauszuschlagen, stieg wenig später | |
| der Mindestlohn wieder an, ohne dass sein Arbeitgeber seine Bezüge | |
| entsprechend erhöhte. Nun verdient er 9,85 Euro pro Stunde – also wieder | |
| nur wenige Cent mehr als die Lohnuntergrenze von 9,60 Euro, die der | |
| Gesetzgeber vorschreibt. | |
| Rund 27 Stunden pro Woche arbeitet der Studienabbrecher. 850 Euro netto | |
| landen am Ende des Monats auf seinem Konto. Fast die Hälfte davon geht für | |
| die WG-Miete drauf. Eine eigene Wohnung kann Köhler sich nicht leisten. | |
| Jede größere Ausgabe muss sorgfältig geplant werden. „Man kommt durch, aber | |
| in manchen Monaten wird es eng“, sagt er. | |
| Fast [1][20 Prozent der deutschen Vollzeitarbeitnehmer sind im | |
| Niedriglohnsektor] tätig – das heißt, sie verdienen weniger als zwei | |
| Drittel des mittleren Lohns. Insgesamt geht es um fast vier Millionen | |
| Menschen. Im Friseurgewerbe liegt der Niedriglohnanteil sogar bei knapp 92 | |
| Prozent der Beschäftigten. Ganze Branchen zahlen ihren Mitarbeitern so | |
| wenig Gehalt, dass es kaum zum Überleben reicht. | |
| In den USA spricht man von den „Working Poor“, von Menschen, die trotz | |
| Arbeit arm sind. In Deutschland fehlt es zwar an entsprechenden gängigen | |
| Vokabeln, doch das Phänomen ist auch hierzulande bekannt. Insgesamt acht | |
| Prozent der Arbeitnehmer – vor allem die mit geringen Studenlöhnen – sind | |
| armutsgefährdet und werden das in vielen Fällen auch bis zu ihrem | |
| Lebensende sein. Denn Jobs im Niedriglohnsektor verstetigen nicht nur die | |
| ökonomische Unsicherheit in der Gegenwart, sondern führen langfristig zu | |
| Altersarmut. | |
| Es ist ein Problem, das man offenbar auch im moderaten bis linken | |
| Parteispektrum wahrgenommen hat. SPD, Grüne und Linkspartei wollen den | |
| Mindestlohn von 9,60 Euro drastisch erhöhen – Grüne und SPD auf 12 Euro, | |
| die Linke sogar auf 13 Euro. Vor allem Olaf Scholz, der laut aktuellen | |
| [2][Wahlumfragen] gute Chancen hat, eine künftige Bundesregierung | |
| anzuführen, hat die [3][Forderung nach einer Mindestlohnerhöhung] zu einem | |
| seiner wichtigsten Wahlkampfthemen gemacht und will als möglicher Kanzler | |
| ein entsprechendes Gesetz „sofort auf den Weg bringen“. | |
| Schon nach der historischen Wahlniederlage seiner Partei bei der | |
| Bundestagswahl 2017 hatte Scholz – damals vermutlich noch davon überzeugt, | |
| die nächsten vier Jahre in der Opposition zu verbringen – das Thema | |
| gesetzt. Interessanterweise spielte die Forderung in den nachfolgenden | |
| Koalitionsverhandlungen mit der Union kaum eine Rolle mehr. Doch dieses Mal | |
| scheint Scholz nicht von seinem Vorschlag abrücken zu wollen. Aus | |
| SPD-Kreisen ist zu vernehmen, dass die Mindestlohnerhöhung der wichtigste | |
| Eckpunkt in etwaigen Koalitionsverhandlungen sei. | |
| Die Forderung ist in den vergangenen Jahren allerdings weniger weitreichend | |
| geworden. Der Mindestlohn betrug 2017 noch 8,84 Euro, inzwischen liegt er | |
| bei 9,60 Euro, weil die von der Bundesregierung berufene | |
| Mindestlohnkommission die Lohnuntergrenze immer wieder anhebt und sich | |
| dabei unter anderem an der Tarifentwicklung orientiert. | |
| ## Forscher:innen für Erhöhung | |
| Doch während die Linkspartei ihre Mindestlohnforderung analog zur | |
| Entwicklung der Tariflöhne und einem Richtlinienentwurf der EU-Kommission | |
| auf 13 Euro erhöht hat, bleibt die SPD bei 12 Euro. Der deutsche | |
| gesetzliche Mindestlohn erreicht nur 48 Prozent des mittleren Einkommens. | |
| In Frankreich kommt man mit dem Mindestlohn auf mehr als 61 Prozent. Raum | |
| nach oben ist im EU-Vergleich also durchaus gegeben. | |
| Doch welchen Effekt hätte eine sprunghafte Erhöhung des Mindestlohns? | |
| Können Arbeitgeber es sich überhaupt noch leisten, ihre Mitarbeiter zu | |
| bezahlen, wenn diese auf einen Schlag bis zu 25 Prozent mehr Lohn bekommen? | |
| Einige Wirtschaftswissenschaftler sprechen sich gegen große Sprünge beim | |
| Mindestlohn aus. Jens Südekum von der Universität Düsseldorf befürwortet | |
| zwar den aktuellen Mindestlohn, aber bei 12 Euro „gehen wir in den | |
| kritischen Bereich“. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung ist in | |
| ihrer in der vergangenen Woche veröffentlichten [4][Studie] dagegen zu dem | |
| Schluss gekommen, dass die angedachte Lohnerhöhung vor allem Vorteile | |
| biete. | |
| Acht Millionen Beschäftigte würden unmittelbar profitieren und die | |
| Produktivität in den Unternehmen steigern. Auch die Staatseinnahmen würden | |
| aufgrund der höheren Löhne um 20 Milliarden Euro jährlich steigen. Einem | |
| etwaigen Rückgang der Minijobs würde ein ebenso großer Anstieg | |
| sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse gegenüberstehen. | |
| ## Erinnerung an 2015 | |
| Es wirkt wie ein Déjà-vu. Denn die unterschiedlichen Auffassungen spiegeln | |
| die ökonomischen Debatten wider, die vor der Einführung des Mindestlohns | |
| 2015 geführt wurden. Vor allem Wissenschaftler aus dem Umfeld des | |
| wirtschaftsnahen Ifo-Instituts hatten sich damals deutlich gegen den | |
| Mindestlohn ausgesprochen und prognostizierten erhebliche | |
| Beschäftigungsverluste. | |
| Auch die „Wirtschaftsweisen“ sprachen sich mehrheitlich gegen die | |
| Lohnuntergrenze aus. Doch die Einführung des Mindestlohns von damals 8,50 | |
| Euro hatte kaum erkennbare Effekte auf die Beschäftigungsverhältnisse im | |
| Niedriglohnsektor. Die Zahl sozialversicherungspflichtiger Teilzeitjobs | |
| stieg dagegen an. Vor allem prekär beschäftigte Frauen profitierten. Im | |
| unteren Einkommensdezil sank der Gender-Pay-Gap von 22 auf 15 Prozent. | |
| Sechseinhalb Jahre nach seiner Einführung ist der Mindestlohn in der | |
| Bevölkerung äußerst populär und selbst die FDP will ihn nicht mehr | |
| abschaffen, warnt aber vor einem „Überbietungswettbewerb“ bei der Höhe. B… | |
| der Union kommt das Thema fast gar nicht vor. CDU und CSU wollen lediglich | |
| die Minijob-Grenzbeträge von 450 auf 550 Euro anheben. Ansonsten versucht | |
| man das Lieblingsthema des Koalitionspartners weitgehend auszuklammern. | |
| ## Zu wenig für eine armutsfeste Rente | |
| Eine Erhöhung der Lohnuntergrenze auf 12 Euro befürworten laut einer | |
| Umfrage im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbunds 78 Prozent der | |
| Deutschen. | |
| Die Auseinandersetzung zu Vorzügen und Nachteilen des Mindestlohns spiegelt | |
| auch die Rivalität ökonomischer Denkschulen wider. Die diskursdominierenden | |
| Neoklassiker gehen davon aus, dass die Verteuerung von Arbeit durch | |
| staatliche Eingriffe zu Entlassungen führe, weil es sich für Arbeitgeber | |
| bei einem höheren Lohnniveau nicht mehr rechne, Mitarbeiter zu | |
| beschäftigen. | |
| Die Gegenseite – zum Beispiel die Forscher des Böckler-Instituts – gehen | |
| dagegen davon aus, dass höhere Mindestlöhne zu mehr Beschäftigung führen | |
| können. Arbeitnehmer werden demnach durch bessere Löhne animiert, sich | |
| einen Job zu suchen, und arbeiten innerhalb bestehender | |
| Beschäftigungsverhältnisse mit einer höheren Motivation. In der | |
| Vergangenheit haben die Mindestlohnbefürworter offenkundig recht behalten. | |
| Die Einführung der Lohnuntergrenze 2015 gilt als Erfolgsmodell. | |
| Die Frage ist vielmehr, ob 12 Euro überhaupt ausreichen. Die | |
| Böckler-Stiftung, die übrigens vor einer Erhöhung des Mindestlohns auf mehr | |
| als 13 Euro warnt, [5][berechnete] im vergangenen Jahr, dass selbst 12 Euro | |
| Stundenlohn gerechnet auf ein jahrzehntelanges Arbeitsleben in vielen | |
| Fällen nicht ausreichen, um armutsfeste Rentenansprüche zu erwerben. Wer | |
| über 40 Erwerbsjahre 38,5 Wochenstunden arbeitet, benötigt demnach einen | |
| Lohn von mindestens 13,45 Euro, um Rentenansprüche oberhalb der | |
| Grundsicherung zu erwerben. | |
| Im Gespräch mit der taz am wochenende warb die Grünen-Kanzlerkandidatin | |
| Annalena Baerbock deshalb für eine Anhebung der Rentenbeiträge für | |
| Arbeitgeber auf einen Betrag, der einem Stundenlohn von mindestens 15 Euro | |
| entspräche. Das böte immerhin einen marginalen Anreiz für Lohnerhöhungen | |
| auf über 12 Euro. Für Matthias Köhler wären aber auch 12 Euro bereits ein | |
| großer Schritt. „Mit zwei Euro mehr könnte ich jeden Monat 50 oder 100 Euro | |
| zurücklegen“, malt er sich aus. Damit wäre zumindest ein wenig Druck weg. | |
| Und vielleicht auch mal ein Urlaub drin. | |
| 13 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-ein… | |
| [2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/bundestagswahl-2021-umfragen-100.html | |
| [3] https://www.spd.de/zukunftsprogramm/ | |
| [4] https://www.boeckler.de/fpdf/HBS-008099/p_imk_study_73_2021.pdf | |
| [5] https://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2020_06_05.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Jörg Wimalasena | |
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