# taz.de -- Die Wahrheit: Die Geschichte eines mutlosen Erfinders | |
> … und seines ebenso mutlosen Kontrahenten: Wie man Dinge ganz bestimmt | |
> nicht in die Luft bekommt. | |
Bild: Eine lahme Ente will in den sächsischen Himmel steigen | |
Als Victor Caligari rastlos sein Labor und seine Werkstatt durchkramte, den | |
Wohlgeruch der Motoren und Schweißmaschinen genussvoll einatmete und nach | |
seiner Katze Lumpi Ausschau hielt, die in diesem Paradies aus Metall, Öl, | |
Vorschlaghämmern, Teerdrehern und Harnischdehnern traumentzückt irgendwo | |
zwischen Lumpen und Juwelen herumlag, kam ihm eine Idee: Was, wenn er ein | |
Fluggerät erfünde? Erst kürzlich hatte sein Kontrahent Naglosarg | |
selbstklebende Baumharz-Imitate erfunden, ein Welterfolg, den Victor ihm | |
ewig neiden würde. Düster blickte er in seinen leeren Zeichenblock. Er | |
hatte leider nicht die geringste Idee, wie man Fluggeräte entwarf. | |
Doch dann trank er eine Tasse Absinth und schon sprudelten die Einfälle: | |
Irgendwas mit Flügeln käme vielleicht in Betracht, Luftkissen, Rotorblätter | |
oder dressierte Vögel, vielleicht auch Fahrräder oder Fasane. Victor war | |
alles recht, nur schnell sollte es gehen, denn Naglosarg arbeitete | |
Gerüchten zufolge schon an einem Gerät, mit dem man gelbe Materie in | |
schwarze umwandeln könnte. | |
Versonnen ließ Victor seine Blicke über seinen Arbeitstisch schweifen. | |
Schon lange hätte hier mal jemand aufräumen sollen, doch seine Zugehfrau | |
war erst vor Kurzem als FBI-Agentin enttarnt worden und saß seither in | |
Haft. Unschöne Geschichte, die Victor schon seit Jahrzehnten verfolgte – | |
Victor musste tief durchatmen, um wieder Contenance zu gewinnen. Es war | |
letztlich alles viel komplizierter, als es auf den ersten Blick aussah … | |
Victor seufzte. Kopfschüttelnd stand er entschlossen auf. Es galt immerhin, | |
ein Fluggerät zu erfinden! Mit einem Anflug von gerechtem Zorn kramte er in | |
einer Schublade – wie war er nur auf die saublöde Idee gekommen, ein | |
Fluggerät erfinden zu müssen? In der Schublade fand er extrem kurze | |
Kabelbinder. 100 Stück in Grün. „Immerhin ein Anfang!“, murmelte er. Und | |
als hätte er es nicht geahnt: Wo Kabelbinder sind, ist ein Propeller nicht | |
mehr weit. | |
Er erinnerte sich schemenhaft daran, dass er eine alte Scheune besaß, die | |
er seit vierzig Jahren nicht mehr betreten hatte, obwohl sie direkt an sein | |
halb verfallenes Haus grenzte. Die Nachbarn lagen ihm seit Langem damit in | |
den Ohren, dass diese Scheune ein Schandfleck für das ganze Dorf sei, denn | |
aus ihrem Schornstein rankte ein extrem hässlicher Baum, der sich selbst | |
von den renommiertesten Wissenschaftlern der ganzen Erde nicht bestimmen | |
ließ. | |
Bei einem dieser Wissenschaftler war er erst unlängst zum Dinner | |
eingeladen. Die Soße allein hatte angeblich 1.000 Rubel gekostet, dafür | |
schmeckte sie abscheulich. Victor blickte sich um, aber der weitläufige | |
Gartenpark mit dem hübsch arrangierten Schwimmteich kam ihm gänzlich fremd | |
vor. Der vierschrötige und grobschlächtige Gärtner hingegen, der gerade | |
zähnefletschend seine Mistgabel gegen ihn schwenkte und ihm mit einem | |
Schlauch drohte, war ihm seltsam vertraut. Der nämlich, Herr Flassborg, | |
hatte schon im Winter 1973 im Untergrund für den Mittleren Westen | |
gearbeitet, wie er, Victor, nur zu schmerzhaft in Erinnerung hatte. | |
Doch das war ein Thema, das er lieber nicht vertiefen wollte, denn seine | |
eigene Mutter, die schon viele Jahre vor seiner Geburt laut klagend das | |
Zeitliche gesegnet hatte, hatte Fremden gegenüber stets behauptet, dass | |
Herr Flassborg Victors leiblicher Vater sei, was allerdings dummer Unfug | |
war, denn Herr Flassborg sah Victor kein bisschen ähnlich. | |
## Grummelnd | |
Grummelnd nahm Victor seinen Zeichenblock und einen Bleistift zur Hand und | |
begann, ein Fluggerät zu zeichnen. Das Ergebnis sah allerdings eher aus wie | |
ein gefiederter Dackel mit zu langen Ohren an den Pfoten. Kein guter | |
Anfang. Aber immerhin! | |
Ein Fluggerät war kompliziert. Doch Victor wollte auf gar keinen Fall | |
aufgeben. Denn er hatte schon lange auf seinem Arbeitstisch verschiedene | |
Entwürfe liegen, an deren Entstehung er sich nicht mehr genau erinnern | |
konnte, obwohl sie vielversprechend aussahen: | |
Ein Einhorn mit langen Seitenspiegeln war noch das Überzeugendste davon, | |
obwohl die vermaledeiten Wissenschaftler seit vielen Jahren versuchten, das | |
Einhorn als Erfindung einzustufen. Aber um eine Erfindung ging es ja | |
gerade! Victor brach in irres Kichern aus. Wenn er dem Einhorn jetzt noch | |
Flügel andichten würde, dann wäre sein Auftrag ja erledigt, und er könnte | |
beruhigt schlafen gehen. Doch das wagte er nicht, dieser Betrug wäre gar zu | |
dreist und würde vermutlich viele Legenden durchziehen, und das wollte | |
Victor nicht. Tja, ein Fluggerät … Irgendwo krähte eine Krähe. Und Victor | |
dachte nach: | |
## Vielleicht | |
Vielleicht sollte er, bevor er das Fluggerät erfand, erst einmal einen | |
Namen für das Gerät erfinden. Womöglich täte er sich dann leichter mit der | |
ganzen Sache. „Madme,mncvks#2“ schien ihm ein guter Name zu sein, das war | |
leicht zu merken und eingängig für Limonadenkonzerne, die mit seinem | |
Fluggerät später Reklame machen wollten. | |
Doch dann besann Victor sich wieder auf seine Wurzeln, und er dachte | |
abermals nach. Ein Fluggerät konnte doch nicht so schwer sein, selbst | |
Michel und Angelo und ein Klassenkamerad von ihnen hatten so was schon in | |
der Grundschule erfunden. Sein Erzfeind Naglosarg lachte in seiner streng | |
geheimen Höhle in Transsilvanien sicher schon über ihn. | |
Doch plötzlich wich alle Sorge von Victor Caligari. Er erinnerte sich an | |
das kleine verstaubte Bücherregal, das im hintersten Winkel seines alten, | |
längst vergessenen Sommerhauses am Ufer eines kleinen Flusses stand. In | |
eben dem Regal lagen noch die alten Aufzeichnungen seines | |
Ur-Ur-Ur-Großvaters, die der liebenswerte alte Herr zu Zeiten des | |
Westfälischen Krieges gemacht hatte. Vielleicht kam dort eine Bauanleitung | |
für ein Fluggerät vor. | |
## Das | |
Das Telefon schrillte, Victor Caligari nahm den Hörer ab: „Hier Naglosarg, | |
dein Erzfeind! Ich dachte, wir könnten uns vielleicht wieder vertragen und | |
zusammen ein Stück Kuchen essen. Ich würde gerne ein Fluggerät erfinden, | |
hab aber nicht den Funken einer Idee. Hast du Lust?“ | |
Victor schmetterte verächtlich lachend den Hörer auf die Gabel. Keine Idee | |
konnte er auch alleine haben. Er war halt ein Einzelkämpfer. Da kam seine | |
Katze Lumpi ölverschmiert und schnurrend herbeigelaufen. Wie schön! | |
4 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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