| # taz.de -- Bildungspolitik im Wahlkampf: Streiken und Besetzen | |
| > Bildungspolitik kommt im Wahlkampf zu kurz. Bisweilen liegen gerade hier | |
| > die Parteienvorstellungen weit auseinander. Und es braucht neue Ideen. | |
| Bild: Vieles lässt sich mithilfe von Software aneignen: Digitaler Englischunte… | |
| Ein Thema hat in all diesen [1][Triellen] keine Rolle gespielt: Schule und | |
| Bildung. Und das ist erstaunlich, denn weniges hat ein Jahr lang Millionen | |
| von Familien und Hunderttausende von Lehrern mehr gequält. Und kaum ein | |
| Thema hätte sich besser zum Streiten geeignet. Auf der einen Seite die | |
| nationalmeritokratische Fraktion – etwa der FDP: Wir brauchten „die | |
| weltbeste Bildung“, die früheste Förderung, um „die Leistungsbereitschaft | |
| eines jeden zu entfesseln, damit der Wohlstand in Deutschland zu Hause | |
| bleibt“. | |
| Am entgegengesetzten Pol die ewigen reformpädagogischen Ideen von | |
| Ganztagsschule „mit mehr Zeit zum Lernen, ohne die Angst vorm Scheitern“, | |
| mehr Lehrerinnen und Lehrern, „ganzheitlicher Bildung, wo jedes Kind ein | |
| Instrument erlernen, Theater spielen, Schwimmen lernen kann“. Im Augenblick | |
| fließt Geld für die schnelle Digitalisierung, die als pädagogische | |
| Wunderwaffe propagiert wird. Eine neue Bildungsidee müsste sehr viel weiter | |
| ausgreifen. | |
| Natürlich brauchen wir Grundfertigkeiten und Wissen, um zu verstehen und | |
| gestalten zu können: als Klempnerin oder Sozialarbeiter, Arzt oder | |
| Polizistin, Pfleger oder Ministerin. Vieles von diesem Wissen lässt sich | |
| mit der Hilfe von Software aneignen. Das schafft Raum. | |
| Denn angesichts einer Zukunft voller Engpässe, zunehmender | |
| Verteilungskämpfe, wachsender Ohnmachtsgefühle, angesichts der Angriffe der | |
| Medienindustrie auf Lebenszeit und Gemüt wird es zur vornehmlichen Aufgabe | |
| der Schule, die Fähigkeiten zur Selbstständigkeit, zur Balance von | |
| Selbstsorge und Gemeinwohl zu entwickeln, zum Mut, Neues zu wagen. | |
| Alle Pädagogik seit Sokrates, Comenius, Rousseau und Pestalozzi hat auf die | |
| Schule als Sozialraum gesetzt, als Ort, an dem ich auf Erwachsene treffe – | |
| Lehrer und möglichst auch andere –, die mich fordern, die mich überraschen, | |
| Persönlichkeiten, an denen ich mich abarbeite, die mir etwas vormachen, | |
| vorlegen, vorleben. Die meine Leidenschaft oder meinen Widerstand | |
| entzünden. | |
| Vieles an der Organisation des Lernwesens bremst solche Lehrer aus, | |
| Rahmenpläne sehen so etwas wie Charakterbildung (sorry für das alte Wort) | |
| nicht vor. Das Beste wäre also, so schlägt es Gerald Hüther in seinem | |
| neuesten Buch vor, die Schule würde sich auf das konzentrieren, „was sie | |
| auch bisher schon gemacht (hat): Aufbewahrung, Unterricht, | |
| Leistungskontrollen, Vergabe von Zertifizierungen und Abschlüssen“. Zur | |
| Berufsschule werden also. | |
| Es wäre dann nicht mehr Aufgabe des Lehrers, die Heranwachsenden dazu zu | |
| befähigen, „ein gelingendes, sinnerfülltes und glückliches Leben“ zu | |
| führen. | |
| Wenn die Schule ihr Kerngeschäft ordentlich macht – die begeisterungsfreie | |
| Wissensvermittlung –, dann könnte, so die Konsequenz, alles, was man | |
| klassischerweise Menschenbildung nannte, was jetzt Potenzialentwicklung | |
| heißt, am besten den Kindern selbst überlassen bleiben oder von denen | |
| erledigt werden, die es mit Lust und Liebe und Zeit machen – oder als | |
| Geschäftsfeld entwickelt haben: in den Workshops und Events und Summercamps | |
| der Kreativitätsindustrie. | |
| ## Tingeltangel den Profitsendern überlassen | |
| Die Sparten Wissen und Werte zu trennen, das Schwarzbrot dem Staat und den | |
| Glanz der freudigen Erfahrungen [2][privaten Unternehmern] zu überlassen. | |
| Die Logik, die hinter derlei Abhilfen steht, ist dieselbe, mit der | |
| Wirtschaftsliberale und Großverleger dem öffentlichen Rundfunk oktroyieren | |
| möchten, er solle sich auf das informationelle Schwarzbrot, also auf die | |
| Vermittlung von Kultur, Wissenschaft und Nachrichten beschränken – und die | |
| Unterhaltung, den Fußball und das Tingeltangel den Profitsendern | |
| überlassen. | |
| Aber solches Outsourcen führt dazu, das tragende Institutionen im Kern | |
| immer schlanker werden, das gilt für Krankenhäuser wie für Schulen und für | |
| die Demokratie insgesamt. Gesellschaftliche Erschütterungen werden immer | |
| von Umbrüchen im System der öffentlichen Erziehung begleitet. | |
| Zuletzt war das in den sechziger Jahren der Bonner Republik der | |
| [3][Sputnik-Schock], der mit dem industriekapitalistischen Schreck über die | |
| Unterversorgung mit qualifizierten Arbeitskräften und der | |
| sozialdemokratische Forderung nach Chancengleichheit eine brisante und | |
| folgenreiche Mischung einging. | |
| Wieder stehen wir am Beginn einer neuen Epoche, und ein Bewusstsein, | |
| zumindest ein Gefühl ist weit verbreitet, dass wir ihre Herausforderungen | |
| nicht mit zwei Wochenstunden Nachhaltigkeit und ein wenig weniger | |
| Autofahren, nicht mit zwei Euro mehr für Pflegekräfte, nicht mit moderaten | |
| Mietenstopps und nicht mit der alten Exportstrategie meistern werden. | |
| Eine Schule, die nicht bloß den technopopulistischen Werbesprüchen der | |
| Lehrmittelindustrie folgen will, müsste ihre Neubestimmung aus diesen | |
| Herausforderungen der Epoche gewinnen. Neu erfinden muss man gar nicht so | |
| viel: Es gibt großartige Schulen, nicht nur die Elite-Institute, die gut | |
| ausgestattet sind und weit geöffnet für Erfahrungen, mit Schulleitern, die | |
| ihre Autonomiespielräume nutzen, mit Neuauflagen einer wirklich | |
| humanistischen, also polytechnischen wie musischen Pädagogik. | |
| ## Freitagsstreiks der Schüler haben viel bewirkt | |
| Wo bleibt angesichts dessen eine neue Lehrerbewegung? Der letzte größere | |
| Umbruch in Deutschland begann 1969 mit Streiks. Den [4][Septemberstreiks | |
| bei Hoesch], den Unruhen an den Unis. Aus den Streiks wurden an vielen | |
| Orten Inbesitznahmen: Kritische Universitäten, Laborschulen, Neugründungen, | |
| Jugendzentren. In den vergangenen Jahren haben die Freitagsstreiks der | |
| Schüler viel gedreht. Viele der Aktivsten wissen aber auch, dass dieses | |
| Format sich erschöpft. | |
| Die Bildungsanstalten zukunftstauglich zu machen, mit freundlichen, aber | |
| bestimmten Mitteln, und das nicht nur freitags, sondern auch an den anderen | |
| Wochentagen – das könnte die nächste Stufe sein. Soziale Bewegungen und | |
| Veränderungen der Schule gehen Hand in Hand. Direkt oder subversiv. | |
| 25 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=vUOR5y5ldDo&t=972s | |
| [2] https://hero-society.org/ | |
| [3] https://www.mdr.de/tv/programm/sendung922836.html | |
| [4] https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-007155 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schlagloch | |
| Bildung | |
| Schule | |
| Digitalisierung | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
| Digitalisierung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ergebnisse der U-18-Wahl: Klimawahl? Nicht für alle! | |
| Bundesweit würden Jugendliche am häufigsten Grüne wählen – in Sachsen und | |
| Thüringen sieht das aber gänzlich anders aus. | |
| Junge Leute unter 18 dürfen nicht wählen: Fragt uns! | |
| Natürlich haben viele Jugendliche eine klare politische Meinung. Doch sie | |
| dürfen nicht mitwählen. Die taz hat bei Schüler*innen nachgefragt. | |
| Digitale Strategie für die Schulen: Bald auch per Mail erreichbar | |
| Senatorin Scheeres (SPD) stellt ihr Leitbild für die digitale Schule vor. | |
| Bis 2025 sollen alle Schüler Tablets haben, Lehrkräfte bekommen | |
| Dienstmails. |