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# taz.de -- Streikende Pfleger in Berlin: Noch immer zu wenig Personal
> Seit Jahren klagen Pfleger überall im Land über zu hohe Arbeitsbelastung.
> Geändert hat sich nur wenig. Was könnte sich nach der Wahl ändern?
Bild: Streikende Pfleger am Dienstag beim Demo-Zug in Berlin
„Wir sind hier, weil es so einfach nicht mehr weitergehen kann“, ruft die
Rednerin von der Ladefläche des Lkw, der den Protestzug der streikenden
Pfleger mehrerer Berliner Krankenhäuser anführt. Hunderte Pflegekräfte und
deren Unterstützer laufen am Dienstagnachmittag durch Berlin-Mitte, um von
der Charité und dem Unternehmen Vivantes einen sogenannten
Entlastungstarifvertrag zu fordern, der die chronische Personalnot auf den
Stationen endlich beenden soll. Es ist nicht das erste Mal, dass die
Berliner Pfleger streiken. Die Probleme in der Krankenhauspflege existieren
seit Jahren – und nicht nur in Berlin.
In ganz Deutschland klagen Pfleger über die schlechten Arbeitsbedingungen
in den Kliniken. Zu wenige Pfleger für zu viele Patienten – die Folge sind
Burn-outs und Gefahren für Patienten, denen das Personal oft nicht genug
Aufmerksamkeit widmen kann. Während der Coronakrise applaudierten Bürger
von ihren Balkonen für die Krankenhausmitarbeiter, nun fühlen viele sich im
Stich gelassen.
Bei der Charité existiert zwar eine Vereinbarung für Personaluntergrenzen,
Verstöße hätten jedoch „keine spürbaren Konsequenzen“ gehabt, sagt die
Berliner Krankenhausbewegung, ein Zusammenschluss aus Mitarbeitern mehrerer
Krankenhäuser, die den Streik in der Hauptstadt organisieren. Dennoch gilt
die 2015 zum ersten Mal ausgehandelte Vereinbarung als eine Art Blaupause
für Vereinbarungen mit anderen Kliniken. Die Dienstleistungsgewerkschaft
Verdi hat in 15 Krankenhäusern im ganzen Land bereits
Entlastungstarifverträge durchgesetzt, die auch automatisierte
Sanktionsmechanismen enthalten.
In der Universitätsklinik Augsburg gibt es seit einer entsprechenden
Vereinbarung Ende 2018 zum Beispiel einen zusätzlichen freien Tag für
Pfleger, die innerhalb eines 30-Tage-Zeitraums an mindestens sieben Tagen
auf unterbesetzten Stationen arbeiteten. Das war in der Augsburger Klinik
mit seinen 2000 Mitarbeitern in diesem Jahr durchschnittlich nur neun Mal
pro Monat der Fall. Pflegedirektorin Susanne Arnold zieht ein positives
Fazit: „Die Vereinbarung ist gut, die Entlastung ist im Haus spürbar.“ Die
Rahmenbedingungen in der Pflege hätten sich zudem verbessert, sagt Arnold –
auch dank der vom Bund verordneten Personaluntergrenzen und der
Gegenfinanzierung neuer Pflegestellen.
## Verdi sieht weiteren Handlungsbedarf
Beides sind Maßnahmen, die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
angestoßen wurden. 2018 erließ der CDU-Politiker eine Verordnung, die
Pflegepersonaluntergrenzen in besonders von Unterbesetzung betroffenen
Klinikbereichen vorschrieb.
In der Intensivmedizin gilt nun zum Beispiel der Schlüssel: Tagsüber
maximal zwei Patienten pro Pflegekraft und nachts drei Patienten. 2019 trat
zudem das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz in Kraft, das die Finanzierung von
Pflegestellen teilweise aus dem Vergütungssystem per Fallpauschalen (DRG)
ausgliedert separat zahlt. Das DRG-System vergütet jeweils Behandlungsfälle
und nicht etwa den Personalaufwand oder einzelne Leistungen. Dass
Krankenhäuser nun außerhalb dieses Systems nach Bedarf Pflegepersonal
einstellen können, ermöglichte den Unternehmen, mehr Mitarbeiter
einzustellen.
Bei Verdi sieht man dennoch weiteren Handlungsbedarf – unter anderem bei
den vorgeschriebenen Untergrenzen. „Die sind kein Instrument für
bedarfsgerechte Versorgung, sondern lediglich eine rote Haltelinie nach
unten“, sagt Grit Genster, die den Bereich Gesundheitspolitik bei der
Dienstleistungsgewerkschaft leitet. Verstöße würden zudem nur geahndet,
wenn sie im Monatsdurchschnitt nicht eingehalten werden. „Das Instrument
greift nicht“, konstatiert Genster.
Ein weiteres Problem: Die Untergrenzen gelten nur für bestimmte
Pflegebereiche, wie auch Susanne Arnold von der Augsburger Uniklinik
moniert. Fachkräfte in der Notaufnahme oder im OP seien zum Beispiel nicht
abgedeckt. „Aber diese Bereiche müssen gut besetzt sein.“
## Patienten werden verlegt – um Untergrenzen zu umgehen
Gewerkschafterin Grit Genster spricht zudem von Personalverschiebungen.
„Pflegepersonal wird aus anderen Bereichen versetzt, um die Vorgaben
einzuhalten.“ In der Praxis würden auch Patienten verlegt, um Untergrenzen
zu umgehen.
Verdi plädiert für eine umfassende Reform der Krankenhausfinanzierung. Das
Fallpauschalensystem gleiche einem Flickenteppich und setze die falschen
Anreize, sagt Grit Genster. Gemeinsam mit Deutschem Pflegerat und Deutscher
Krankenhausgesellschaft hat die Gewerkschaft ein Konzept zur
„bedarfsgerechten Personalbemessung in der Krankenhauspflege“ erarbeitet
und Spahn im Januar 2020 übergeben. Doch: „Seitdem blockiert Jens Spahn die
Umsetzung“, sagt Genster.
Bei den anderen Parteien scheint es jedoch Reformbereitschaft zu geben. Die
SPD gelobt, das System der Fallpauschalen „auf den Prüfstand zu stellen“,
die Pauschalen zu überarbeiten und „wo nötig abzuschaffen“. Die
Sozialdemokraten streben stattdessen eine „bedarfsgerechte
Grundfinanzierung der Kliniken“ an.
Das überrascht insofern, als dass die SPD das System der Fallpauschalen
während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders selbst erheblich ausgeweitet
hat. Die Linkspartei will nicht nur die Fallpauschalen abschaffen, sondern
auch private Kliniken vergesellschaften sowie 100.000 neue Pflegekräfte in
Krankenhäusern anheuern, zudem soll es 500 Euro mehr Grundgehalt pro Monat
geben.
Mehr Geld, mehr Pflegekräfte – dafür gehen die Vivantes- und
Verdi-Beschäftigten auch weiter auf die Straße. Verhandlungen mit den
Arbeitgebern haben bisher zu keinem Ergebnis geführt. „Es gibt in beiden
Unternehmen noch keine Lösung, wie wir die Mindestbesetzung für das
Personal festlegen“, sagte Verhandlungsführerin Meike Jäger am Mittwoch.
Also geht der Kampf weiter.
15 Sep 2021
## AUTOREN
Jörg Wimalasena
## TAGS
Vivantes
Krankenpflege
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Pflege
Charité
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