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# taz.de -- Die Wahrheit: Adlige Schwestern von gestern
> Der Landkreis Grafschaft Bentheim wird jetzt gendergerecht – und wirkt
> damit weit in deutsche Lande hinein als Trendsetter.
Bild: Genderneutrale Toilette in Bad Bentheim
Der beschauliche südwestniedersächsische Landkreis Grafschaft Bentheim
macht nur selten von sich reden. Überregional bekannt geworden ist er
hauptsächlich durch eine münsterländische Dessertspezialität
(Vanillepudding mit Sahne, Rum und geraspeltem Knochenschinken) sowie durch
das Bunte Bentheimer Landschwein. Revolutionäre Neuerungen sind von dort
noch nie ausgegangen.
Bis jetzt. Um sich von dem noch verschnachteren Nachbarlandkreis Emsland
abzugrenzen und in Sachen Geschlechtergerechtigkeit zu punkten, hat der
Landkreis Grafschaft Bentheim beschlossen, sich in „Landkreis
Gräf*inschaft Bentheim“ umzubenennen. In Kraft treten soll die Änderung
am 1. Januar 2022.
Diese Entscheidung ist auf scharfe Kritik aus dem Fürstenhaus zu Bentheim
und Steinfurt gestoßen. In einer Stellungnahme heißt es, dass die
Umbenennung „töricht“ sei, weil in der Grafschaft Bentheim immer nur Grafen
regiert hätten und keine Gräfinnen. Auf RTL hat der bekannte
Society-Psychologe Jo Groebel jedoch Zweifel an dieser Darstellung
angemeldet und darauf verwiesen, dass der Graf Ernst Wilhelm zu Bentheim
und Steinfurt (1623–1693) eine Frau gewesen sei und seine Kinder nicht
persönlich gezeugt, sondern sie aus einem Waisenhaus in der Ortschaft
Wietmarschen geraubt habe.
Damit diesem Verdacht nachgegangen werden kann, hat das Bad Bentheimer
Ordnungsamt zahlreiche Exhumierungen genehmigt, die Anfang kommender Woche
im gesamten Landkreis beginnen sollen. Experten rechnen mit extrem
verwickelten Erbschaftsstreitigkeiten für den Fall, dass sich Groebels
These bewahrheiten sollte.
## Gräfinnen in der Sprache
Begrüßt worden ist der Vorstoß des Landkreises unterdessen von der grünen
Kreistagsfraktion in der Grafschaft Bentheim mit den Worten: „Es ist
wünschenswert, dass auch Gräfinnen in der Sprache sichtbar gemacht werden.
Dieser Beschluss bricht die patriarchalen Strukturen in der Gräf*inschaft
Bentheim weiter auf. Sprache ist ein wichtiges Instrument auf dem Weg zu
mehr gesellschaftlicher Teilhabe und Akzeptanz von Gräfinnen. In der neuen
Schreibweise werden sie als unsere adligen Schwestern von gestern
gedanklich inkludiert.“
Nachziehen wollen demnächst die Grafschaften Stain-Niederstotzingen,
Hohenzollern, Ratzeburg, Dülmen, Hückeswagen, Zweibrück und
Reuß-Lobenstein. Und auch in Fürstenau im Landkreis Osnabrück neigt man
dazu, sich dem Trend anzupassen und die Stadt in „Fürst*innenau“
umzutaufen.
Ganz ähnlich denkt man im mittelfränkischen Herzogenaurach, wo es nur noch
eine Frage der Zeit ist, bis die Gemeinde sich den gendersensiblen Namen
„Herzog*innenaurach“ gibt. Auch Grafenwöhr und Gräfenhainichen steht eine
Umbenennung bevor – in „Gräf*innenwöhr“ beziehungsweise
„Gräf*innenhainichen“ –, während die Fürstenfeldbrucker sich noch stur
stellen und die veraltete Schreibung beibehalten wollen.
## Noch radikalere Maßnahmen
Im brandenburgischen Fürstenwalde sinnt man hingegen auf noch radikalere
Maßnahmen. „Es ist an der Zeit, die aristokratischen Zöpfe abzuschneiden“,
sagt Jens-Oliver Mehlhase, der Sprecher der Fürstenwalder Bürgerinitiative
„Weg mit ‚Fürstenwalde‘!“, die sich die Umbenennung ihrer Heimatstadt …
„Arbeitnehmendenwalde“ auf die Fahnen geschrieben hat.
Ein hehres Ziel! Es stößt allerdings auf den Widerstand einer Initiative
von Fürstenwalder Langzeitarbeitslosen, die sich in dem geplanten neuen
Namen der Stadt nicht vertreten sehen, und zwar ebenso wenig wie die
Personen, die sich in Fürstenwalde noch im Vorschulalter oder in der
Ausbildung befinden, einem freien Beruf nachgehen oder bereits in Rente
sind. Bei einem Sternmarsch zum Fürstenwalder Rathaus haben diese
Bevölkerungsgruppen am vergangenen Freitag deshalb ihre Forderung
unterstrichen, dass Fürstenwalde nicht einfach in „Arbeitnehmendenwalde“
umbenannt werden soll, sondern in „Vorschulkinder-, Schüler*innen-,
Studierenden-, Auszubildenden-, Selbstständigen-, Arbeitnehmenden-,
Arbeitslosen- und Verrentetenwalde“.
In diesen Zusammenhang spielt auch die aktuelle Diskussion hinein, ob die
urkundlich erstmals im Jahre 1002 erwähnte fränkische Stadt Erlangen aus
Gründen der Geschlechtergerechtigkeit für die nächsten eintausend Jahre in
„Sielangen“ oder besser in „Eslangen“ umbenannt werden solle. Darüber …
in Erlangen dieser Tage hitzig gestritten. Inzwischen gibt es aber auch in
Erfurt und in Erkelenz Bestrebungen, die in die gleiche Richtung zielen,
und wie man hört, kursiert in den höheren Behörden des Rhein-Erft-Kreises
ein Arbeitspapier, in dem die Alternativschreibungen „Rhein-Sieft-Kreis“
und „Rhein-Esft-Kreis“ erörtert werden.
Fein heraus ist vorläufig immerhin der künftige Landkreis Gräf*inschaft
Bentheim: Nach einem Bericht der New York Times ist er wegen seiner
Umbenennung für den Friedensnobelpreis nominiert worden.
15 Sep 2021
## AUTOREN
Gerhard Henschel
## TAGS
Gendern
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Sprache
Die Wahrheit
Viktor Orbán
China
Jürgen Habermas
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