# taz.de -- Surfer über Lage in Afghanistan: „Ein Vehikel für Freiheit“ | |
> Afridun Amu trat für Afghanistan bei der Surf-WM an. Er beklagt: | |
> Deutsches Wahlkampfkalkül habe eine lebensbedrohliche Lage am Hindukusch | |
> geschaffen. | |
Bild: Der afghanische Surfer Afridun Amu nach dem Training in Berlin | |
taz: Herr Amu, Sie machen sich für die Petition [1][„Luftbrücke für | |
Afghanistan: Rettung ALLER gefährdeten Menschen jetzt!“] stark. Unter | |
anderem werden in diesem Aufruf an die Bundesregierung Sportler:innen | |
als Gefährdete aufgeführt. Im Jahr 2012 haben Sie in Afghanistan den | |
Surfverband gegründet, Sportstrukturen mitaufgebaut. Was wissen Sie über | |
die Gefährdungslage von Sportler:innen vor Ort? | |
Afridun Amu: Mir ist es ganz wichtig, erst einmal klarzustellen, dass für | |
mich aktuell der Sport in Afghanistan sekundär ist. Es geht um | |
Menschenleben und darum so viele gefährdete Menschen wie möglich da | |
rauszuholen. Allzu viel möchte ich dazu aber auch deshalb nicht sagen, weil | |
das für die Betroffenen zu gefährlich sein könnte. | |
Sie sind in Kabul geboren und in Deutschland aufgewachsen. Wie kamen Sie | |
auf die Idee, das Surfen in Afghanistan zu fördern? | |
Meine Eltern sind in Afghanistan sozialisiert worden. Bei uns zu Hause | |
wurde die afghanische Identität sehr kultiviert und gelebt. Das hat mich | |
stark geprägt. Ich bin studierter Jurist und Kulturwissenschaftler und | |
wollte danach schon immer in der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan | |
tätig sein. Ich habe festgestellt, dass ich [2][mit meiner Passion dem | |
Surfen] viel bewirken kann beim Aufbau ziviler Strukturen. Andere | |
Organisationen haben zuvor gezeigt, dass man gerade über den Sport in | |
Afghanistan sehr viel erreichen kann. Kindern wird ein Raum gegeben, Kind | |
sein zu dürfen. Und über den Sport können auch Bildungsangebote gemacht | |
werden. | |
Welche Bedeutung hat der Sport in Afghanistan? | |
Viele kennen noch die Bilder aus der Zeit zwischen 1996 und 2001, als die | |
Taliban schon einmal in Afghanistan regiert haben. Fußballstadien wurden | |
für Exekutionen genutzt. Sport, selbst das Fußballspielen auf der Straße, | |
war verboten. Danach hat es eine Gegenbewegung gegeben. An jeder Ecke | |
Afghanistan wurde Sport getrieben. Alle afghanischen Athletinnen und | |
Athleten wurden unterstützt. Sport wurde ein Stück weit auch als Normalität | |
gesehen in diesem Land, das so lange in einem Ausnahmezustand, im Krieg, in | |
der Isolation gelebt hat. | |
Der Sport war also auch ein Medium, den Freiheitsdrang auszuleben. | |
Definitiv. Das sieht man gerade am Beispiel von Sportlerinnen, bei denen | |
der Sport besonders stark als Vehikel für Freiheit dient. Das ist nicht nur | |
in Afghanistan, sondern auch in Iran und vielen anderen Ländern so. Damit | |
wird ein Stück weit Freiheit erkämpft und symbolisiert. | |
Wie erfolgreich war der Versuch, das Surfen in Afghanistan zu etablieren. | |
Wie viele Mädchen konnten für den Sport begeistert werden? | |
Bei den ersten national anerkannten Meisterschaft 2015 waren sechs | |
Teilnehmerinnen dabei. Das war ein guter Start. Am Anfang waren die | |
Interessentinnen vor allem Exilafghaninnen. Aber das Interesse und der | |
Austausch war von Beginn an sehr groß. Wir haben versucht, das Schritt für | |
Schritt aufzubauen. Wir waren mit höchsten Sportfunktionären der ehemaligen | |
Regierung, wie man leider nun sagen muss, in Kontakt. Aber jetzt geht es | |
nicht um den Sport, wir müssen so viele Menschenleben wie nur möglich | |
retten. In Deutschland wurden möglich Vorkehrungen bewusst verschlafen. | |
Wie meinen Sie das? | |
Die Verantwortlichen in der Regierung hatten die Hoffnung, dass die | |
Einnahme Afghanistans durch die Taliban erst nach der Bundestagswahl | |
stattfinden wird, damit man im Wahlkampf um das Thema herumkommt. | |
Es wird [3][von einer Fehleinschätzung] gesprochen. Man habe nicht | |
vorausgesehen, dass die Taliban so schnell das ganze Land einnehmen würden. | |
Es war klar, dass es zu der Katastrophe kommen wird, man hat nur gehofft, | |
dass es nach der Wahl passiert. Alle Informationen lagen vor. Das weiß ich | |
mit Gewissheit. Während meiner Zeit in der Entwicklungszusammenarbeit hatte | |
ich sehr viel Kontakt mit deutschen Diplomat:innen. Man weiß ja heute | |
auch, dass die deutsche Botschaft in Afghanistan schon vor diesem Szenario | |
gewarnt hatte. Jetzt sind alles so überrascht, weil systematisch beschönigt | |
wurde. | |
Inwiefern? | |
Schon seit Jahren, vor allem aber in den letzten Wochen wurde ein falsches | |
Bild von Afghanistan erstellt. Ich weiß, dass es Druck innerhalb des | |
Auswärtigen Amts gab, dass diejenigen, die für die Lageberichte zuständig | |
waren, nicht ganz so negativ oder krass formulieren. Die Zuständigen folgen | |
dem, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Im Endeffekt passiert das, was | |
Alexander Gauland beim Einzug der AfD in den Bundestag gesagt hat. | |
Nämlich? | |
Dass man die anderen Parteien vor sich hertreiben werde und das Land aus | |
der Opposition heraus verändern werde. Die Bundesregierung hat aus der | |
Angst heraus nicht gehandelt, der AfD könnte im Wahlkampf ein Thema | |
zugespielt werden. | |
Die Bundesregierung verweist darauf, andere hätten die Lage auch falsch | |
eingeschätzt. | |
Wir müssen schauen, über welches Versagen wir sprechen. Dass Afghanistan | |
den Bach runtergeht nach 20 Jahren ist ein Versagen der ganzen | |
Weltgemeinschaft. Wenn es um die Rettung der Ortskräfte geht, geht es vor | |
allem um ein deutsches Versagen. Die Amerikaner haben schon seit Wochen | |
angefangen, mehr und mehr Ortskräfte rauszuholen, die Kanadier haben genau | |
das umgesetzt, was unsere Petition fordert. Die Franzosen haben gerade | |
Sammelstellen in Afghanistan, wo die Ortskräfte zusammenkommen, damit sie | |
dann von da aus zum Flughafen kommen. | |
In den letzten Tagen hat man begonnen zu handeln. | |
Es gibt aber noch keine richtige Luftbrücke, wie es dargestellt wird, | |
sondern es werden sporadisch Flugzeuge von Taschkent nach Afghanistan | |
verschickt, aber das reicht noch lange nicht. Es müssten deutlich mehr | |
Bemühungen stattfinden. Es sollte doch zumindest die Aufgabe der | |
Bundesregierung sein, den Leuten, die seit Jahren, Jahrzehnten geholfen | |
haben, da zu arbeiten, wenigsten denen zu helfen. Das ist schon eine | |
moralische Verpflichtung. | |
Wie wird das Geschehen von den Menschen, mit denen Sie in Afghanistan in | |
Kontakt stehen, wahrgenommen? | |
Die Leute sind panisch. Zu Recht! Den Versprechungen der Taliban, die sich | |
an so vielen Verbrechen schuldig gemacht haben, kann man nicht vertrauen. | |
Ich habe Freunde, die versuchen, Fotos, Dateien zu löschen. Sie löschen | |
alles Mögliche, aus dem hervorgehen könnte, dass sie mit westlichen | |
Organisationen kooperiert haben, damit sie untertauchen können. Auf der | |
anderen Seite geht damit die Möglichkeit verloren, falls es doch noch zu | |
größeren Rettungsaktionen kommen sollte, nachzuweisen, dass sie für | |
ausländische Organisationen tätig waren. Und es passieren traurige Dinge. | |
Zum Beispiel? | |
Ein ehemaliger Arbeitskollege von mir, eine Ortskraft in Afghanistan, bat | |
mich erst, neben seiner Familie auch seine alleinstehende Schwester auf | |
eine Liste für die Luftbrücke aus Afghanistan aufzunehmen, weil Frauen | |
unter den Taliban nur mit männlicher Begleitung auf die Straßen dürfen. Ein | |
paar Stunden später schickte er mir eine Nachricht, ich solle seine | |
Schwester doch nicht auf die Liste schreiben. Er wollte für den Fall, dass | |
nur wenige gerettet werden können, nicht den Platz von seiner Frau und | |
seinen Kindern gefährden. | |
21 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.change.org/p/heikomaas-bmvg-bundeswehr-luftbr%C3%BCcke-f%C3%BCr… | |
[2] /Surfen-Richtung-Olympia/!5701182 | |
[3] /BND-mit-Fehlanalyse-zu-Afghanistan/!5789911 | |
## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
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