# taz.de -- Abgeordnetenhauswahl in Berlin: Raus aus der zweiten Reihe | |
> Bettina Jarasch ist grüne Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl. | |
> Doch ihre härteste Konkurrentin Franziska Giffey hat aufgeholt. | |
Bild: Bettina Jarasch hat das Berliner Rote Rathaus fest im Blick. Aber ob das … | |
BERLIN taz | Ein betongrauer Parkplatz ist Schauplatz des ersten | |
gemeinsamen Auftritts von Bettina Jarasch und Annalena Baerbock in diesem | |
Wahlkampf. Der Ort nahe dem Klinikum Charité mitten in Berlin lässt sich | |
nur als urbane Hölle bezeichnen – die es so aber nicht mehr lange geben | |
wird. Als Ausgleich für einen Bau des Bundestags im Tiergarten, Berlins | |
größtem Park, soll der Parkplatz entsiegelt werden und verschwinden. | |
Parkplätze zu Grünflächen – das ist eine klassisch grüne Botschaft, den | |
sich sowohl die Berliner wie die Spitzenkandidatin der Grünen im Bund auf | |
die Fahne schreiben. „Wir wollen die Stadt umbauen“, sagt die 52-jährige | |
Jarasch, die in Augsburg aufwuchs, zum Philosophiestudium nach Berlin kam | |
und blieb. Einen ganz ähnlichen Satz formuliert die Brandenburgerin | |
Baerbock, 40 Jahre alt, bei dem Wahlkampftermin Anfang August kurz darauf | |
fürs ganze Land. | |
Was bezogen auf die Republik vielleicht noch überzeugen mag, gilt in Berlin | |
nur bedingt: Hier regieren die Grünen schließlich seit fast fünf Jahren in | |
einem Bündnis mit SPD und Linken mit. Und sie stellen mit der Verkehrs- und | |
Umweltsenatorin genau jene Politikerin, die diesen Stadtumbau vorantreiben | |
müsste. | |
Doch selbst Jarasch geht das bislang nicht rasch genug voran: „Wir müssen | |
schneller werden beim Stadtumbau, und wir können schneller werden“, sagt | |
sie einige Tage später und greift damit die immer wieder geäußerte Kritik | |
vieler umwelt- und verkehrspolitischer Initiativen auf. | |
## Giffey legt langsam, aber stetig zu | |
Deren Unterstützung brauchen die Grünen auf jeden Fall, wollen sie ihr Ziel | |
erreichen: erstmals das Rote Rathaus erobern, den Sitz des Noch-Regierenden | |
Bürgermeisters Michael Müller (SPD). | |
Eigentlich stehen die Chancen dafür gut: Müller tritt nicht mehr an, und | |
seit zweieinhalb Jahren führten die Grünen die Umfragen mit bis zu 25 | |
Prozent teilweise deutlich an, stets etwas vor der CDU und deutlich vor der | |
SPD. Und der Wahlkampf dümpelte lange vor sich hin. | |
Doch nun, eineinhalb Monate vor der Wahl, legt Franziska Giffey, | |
Spitzenkandidatin der Berliner SPD und bis vor Kurzem | |
Bundesfamilienministerin, langsam, aber stetig zu. Und je mehr | |
Präsenztermine coronakompatibel möglich sind, je präsenter ist Giffey. | |
Die SPD-Spitzenkandidatin kannten im Juni in Umfragen fast 90 Prozent der | |
Berliner*innen. Noch nicht mal ein Drittel der Befragten konnte hingegen | |
etwas mit dem Namen der grünen Spitzenkandidatin anfangen. Bundesweit kam | |
sie bisher nur einmal in die Schlagzeilen: Als sie bei einem | |
Grünen-Landesparteitag als frühen Berufswunsch „Indianerhäuptling“ angab | |
und sich dann für den Ausdruck entschuldigte. | |
## Gespaltene Berliner Grüne wieder zusammengebracht | |
Der Druck auf Bettina Jarasch wächst. Und sie muss ja auch noch mehr | |
Zielgruppen erreichen als die grüne Kernklientel. | |
In dieser Hinsicht ist die Lage der beiden grünen Spitzenkandidatinnen im | |
Bund und in Berlin ähnlich. Überhaupt haben sie viel gemeinsam. Beide sind | |
eher überraschend Spitzenkandidatinnen geworden. Bei den Bundes-Grünen galt | |
lange Robert Habeck als gesetzt, in Berlin war die Ausgangslage etwas | |
komplizierter. | |
Mit Wirtschaftssenatorin Ramona Pop, die bei der Abgeordnetenhauswahl 2016 | |
Nummer eins der Grünen war, haben die Grünen eine versierte | |
Fachpolitikerin, die sich die erneute Spitzenkandidatur gut vorstellen | |
konnte. Nur: An der Basis gilt sie als etwas zu liberal. Hinter ihr die | |
Partei zu vereinen, war kaum vorstellbar. | |
Und so präsentierte eine sechsköpfige Auswahlkommission der Partei im | |
Oktober 2020 Bettina Jarasch. Die Überraschung war geglückt, zumal nichts | |
vorher nach draußen gedrungen war. Das nehmen die Grünen als Beleg dafür, | |
wie geeint die Partei sei. Andere sagen: Wie verzweifelt muss die | |
Personalsuche gewesen sein, dass weder Linke noch Realos Sinn darin sahen, | |
die letztlich gefundene Kompromisskandidatin Jarasch durch eine | |
Indiskretion noch zu verhindern. | |
## Jarasch ist vieles, was untypisch für die Berliner Grünen ist | |
Egal wie, Jarasch hat für diese aktuelle Einigkeit der Berliner Grünen die | |
Grundlage gelegt. Sie war von 2011 bis 2016 Co-Landeschefin. In ihre | |
Anfangszeit fiel die Fast-Spaltung der Fraktion im Abgeordnetenhaus, | |
nachdem die damalige Spitzenkandidatin Renate Künast einen schon sicher | |
geglaubten Einzug ins Rote Rathaus verspielt hatte. | |
Bettina Jarasch gelang es, den gespaltenen Landesverband zusammenzuführen. | |
Obwohl – oder gerade weil – sie so vieles ist, was als untypisch für die | |
Berliner Grünen gilt. Die gebürtige Bayerin ist katholisch, eine | |
Konfession, die in der Stadt kaum eine Rolle spielt. Mehr noch: Sie ist | |
viele Jahre im tiefsten Kreuzberg Vorsitzende eines Pfarrgemeinderats | |
gewesen. Und ins Berliner Abgeordnetenhaus zog sie nicht für die | |
rebellischen Kreuzberger Grünen, sondern für die eher bürgerlichen aus | |
Pankow im Osten. | |
Damit verschwand sie 2016 aber auch aus der ersten Reihe der Partei und | |
Politik. Dass sie dort im Oktober wieder fulminant auftauchte, irritiert | |
viele Beobachter*innen bis heute. Und die Frage, ob nicht eine andere | |
dank größerer Bekanntheit bessere Chancen hätte, wird immer wieder gestellt | |
– ähnlich wie aktuell bei Annalena Baerbock. Selbst wenn das nur eine | |
theoretische Frage ist: Sie kann, wie sich zeigt, eine Spitzenkandidatin | |
schwächen, vielleicht sogar entscheidend schwächen. | |
Andererseits: Ist die Bekanntheit einer Person ein relevanter Faktor bei | |
der Entscheidung der Wahl in Berlin? [1][Werden in der Stadt nicht eher die | |
Parteien gewählt?] Das sind Fragen, die bis zum 26. September unbeantwortet | |
bleiben. | |
## Kann Jarasch Regierende Bürgermeisterin? | |
Es geht freilich auch um Jaraschs Auftreten. Im Gespräch im kleinen Kreis | |
präsentiert sie sich offen, ernsthaft neugierig, hat vielleicht weniger | |
Sorge, auch mal Fehler zu machen. Doch vor größeren Gruppen wirkt sie oft | |
ein bisschen steif, verliert sich beim Reden bisweilen in Details, ihr | |
breites Lächeln wirkt dann aufgesetzt. Das fällt gerade beim gemeinsamen | |
Termin mit Annalena Baerbock auf, die souverän die aktuellen grünen Thesen | |
aneinanderreiht. | |
Bei ihrer Vorstellung als Spitzenkandidatin im Oktober 2020 konnte man noch | |
sagen: Die wird sich noch machen, die wird da reinwachsen. Doch auch als | |
Jarasch Ende Juli bei einer großen Pressekonferenz ihr Ja zu Enteignungen | |
großer Immobilienunternehmen offenbart und ein Konzept zu mehr | |
gemeinwohlorientiertem Wohnraum vorstellt, liest sie ihr komplettes | |
Eingangsstatement ab. | |
Das lässt viele Beobachter*innen zweifeln: Kann Jarasch Regierende | |
Bürgermeisterin? | |
Die Frage nach der Eignung, eine Stadt zu lenken, stellt sich auch, weil | |
sie bei [2][ihrer schärfsten Konkurrentin Franziska Giffey] gar nicht erst | |
aufkommt. Einst Stadträtin in Berlin-Neukölln, Bürgermeisterin des Bezirks, | |
drei Jahre Bundesfamilienministerin – und nach allen Stationen überwiegt | |
das Lob die Kritik an ihrer jeweiligen Arbeit. Selbst die jüngste Affäre um | |
Plagiate in ihrer Doktorarbeit, die zum Entzug des Titels und zu ihrem | |
Rücktritt als Ministerin führte, kratzt nicht an ihrem Image. | |
## Giffey setzt auf populistische Thesen | |
Giffey, deren Kleiderwahl bekanntermaßen eher klein- als großstädtisch ist, | |
setzt auf Bürgernähe und polarisierende, bisweilen populistische Thesen. | |
Kaum ein Mensch, an dem sie vorübergeht, ist vor einer direkten Ansprache | |
sicher – und oft entwickelt sich daraus ein längeres Gespräch. | |
Sie fordert den Ausbau des U-Bahn-Netzes, um den Verkehrsfluss zu | |
entlasten, wohl wissend, dass der mehrere Jahrzehnte dauern würde. Auf | |
Plakaten wirbt sie für die Digitalisierung in Schulen, wobei die SPD schon | |
seit 25 Jahren die Bildungssenator*in stellt. Und doch scheint es, | |
glaubt man den Umfragen, zu verfangen. | |
Das Thema Führung ist vielleicht der größte Unterschied zwischen der | |
SPD-Frau und der Grünen: Während Giffey ihre Partei auf sich eingeschworen | |
und ihrem starken linken Flügel klargemacht hat, dass sie die Chefin ist | |
und die Führung des SPD-Landesverbands mit konservativen Positionen gerade | |
beim Thema Innere Sicherheit übernommen hat, sieht das bei Jarasch anders | |
aus. „Ich bin eine Brückenbauerin“, recycelte sie bei ihrer Vorstellung im | |
Oktober eine Selbsteinschätzung aus dem Jahr 2017. | |
Das überraschte, denn in jenem Jahr und mit einer Rede mit ebendiesem Satz | |
scheiterte sie beim Kampf um die damalige Spitzenkandidatur der Berliner | |
Grünen für die Bundestagswahl. Auf die fehlende Erfahrung in öffentlichen | |
Ämtern angesprochen, sagte Jarasch im taz-Interview: „Es ist ein überholtes | |
Politikverständnis, dass sich Können, Macht und Einfluss immer nur von | |
Ämtern ableiten.“ Doch kann sie das auch den Wähler*innen verdeutlichen? | |
## Jarasch will „mehr Bullerbü“ wagen | |
Zuletzt versucht sie, ihr Profil und das der Grünen zu schärfen, sich | |
stärker von den Noch-Regierungspartnern abzugrenzen. Wann, wenn nicht jetzt | |
eigene Positionen zuspitzen, heißt es auch aus der Partei. Auch, was den | |
Stadtumbau angeht. So will Jarasch zum Beispiel das letzte Teilstück der im | |
Ausbau befindlichen Stadtautobahn A 100 mit Radwegen und Grünflächen | |
säumen. „Mehr Bullerbü“ wagen, nennt sie das. Und Immobilienkonzernen | |
fordert sie mehr soziales Engagement ab, sonst bliebe nur die Enteignung. | |
Der gemeinsame Auftritt von Jarasch und Baerbock auf dem Betonparkplatz | |
endet eine Stunde später in einem nahen kleinen Park gegenüber der Zentrale | |
des Bundesnachrichtendienstes, auch die ein beträchtlicher Betonklotz. Ob | |
es Jarasch ins Rote Rathaus schafft, hängt auch von ihrer jüngeren | |
Parteifreundin ab. Doch in ihrem Team ist man froh, dass trotz Baerbocks | |
jüngster Patzer die Umfragewerte für die Berliner Grünen nicht so stark | |
gesunken sind. Jarasch weiß: Es kommt mehr denn je auf sie als | |
Spitzenkandidatin an. | |
16 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
Stefan Alberti | |
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