# taz.de -- Afghanistanpolitik der USA: Wunschtraum am Verhandlungstisch | |
> Als die USA 2020 mit den Taliban verhandelten, saßen sie einem | |
> Grundirrtum auf: Sie glaubten, dass die Islamisten ein friedliches Ende | |
> des Krieges wollten. | |
Vermutlich wird der 20. Jahrestag der Anschläge al-Qaidas in den USA – die | |
das US-amerikanische Militär nach Afghanistan brachten – als Beginn des | |
zweiten Islamischen Emirats der Taliban in Erinnerung bleiben. | |
Wie grundfalsch die Strategie des US-Sonderbeauftragten für Afghanistan, | |
Zalmay Khalilzad, in den Verhandlungen mit den Aufständischen war, liegt | |
offen zutage. Geleitet war sie von dem Wunsch der USA, ihre Truppen | |
abzuziehen. Damit hatten sie ihr wichtigstes Druckmittel aufgegeben, noch | |
bevor sie an den Verhandlungstisch kamen. | |
Noch gefährlicher: Sie setzten darauf, dass die Taliban über ein Ende des | |
Krieges verhandeln wollten, statt einen militärischen Sieg anzustreben. | |
Diesem Wunsch und dieser Annahme folgend, gab Khalilzad den Forderungen der | |
Taliban nach, die afghanische Regierung von den Verhandlungen | |
auszuschließen. | |
Aus den Gesprächen ging das im Februar 2020 [1][in Doha unterzeichnete | |
bilaterale Abkommen] zwischen den USA und den Taliban hervor. Um den Handel | |
abschließen zu können, entlockte Khalilzad den Taliban vage Versprechen | |
über ihre Beziehungen zu al-Qaida und anderen Dschihadistengruppen sowie | |
Gespräche mit der afghanischen Regierung. | |
## Nahezu bedingungsloser Truppenabzug | |
Nur eine feste Zusage gab es: dass sie die USA und „ihre Verbündeten“ nicht | |
angreifen würden. Im Gegenzug verpflichteten sich die USA zu einem raschen | |
Zeitplan für den nahezu bedingungslosen Truppenabzug, der Freilassung von | |
5.000 Taliban durch die afghanische Regierung und zur Einstellung von | |
Angriffen auf die Taliban. Zudem erklärten sie sich bereit, für die | |
Aufhebung der UN-Sanktionen einzutreten. | |
Die Vereinbarung von Doha war ein als Friedensabkommen getarntes | |
Abzugsabkommen. Es verpflichtete die USA und die Taliban, sich während des | |
Abzugs der internationalen Truppen nicht gegenseitig anzugreifen. Eine | |
Waffenruhe sollte es nicht geben. Die USA konnten den Taliban lediglich | |
abringen, in den zehn Tagen vor der Unterzeichnung des Abkommens die Gewalt | |
zu reduzieren. | |
Vom 1. März 2020 an durften die [2][Taliban] ihre afghanischen Landsleute | |
wieder angreifen. Zugleich stärkte Khalilzads Strategie die Moral der | |
Taliban. Sie verschaffte ihnen Legitimität auf der internationalen Bühne, | |
die ihnen nicht nur von den USA, sondern von allen anderen Ländern, deren | |
Diplomaten nach Doha strömten, zugesprochen wurde. | |
Die USA schienen nicht einmal in Betracht zu ziehen, dass die Taliban ein | |
doppeltes Spiel treiben könnten: sich auf Verhandlungen einzulassen, | |
während sie in Wirklichkeit eine militärische Lösung anstrebten. Oder dass | |
sie ihre Anstrengungen zur gewaltsamen Eroberung Afghanistans nach dem | |
Truppenabzug verdoppeln könnten. | |
## Systematische Kampagne gezielter Tötung | |
Das letzte Quartal 2020, kurz nachdem in Doha endlich auch | |
„innerafghanische Gespräche“ begonnen hatten, war das gewalttätigste aller | |
letzten Jahresquartale, das von der Unterstützungsmission der Vereinten | |
Nationen in Afghanistan verzeichnet wurde. Im Laufe des Winters gab es in | |
Kabul und anderen Städten eine systematische Kampagne gezielter Tötung von | |
Mitarbeitern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) außer | |
Dienst, Richtern und Anwälten, Regierungsbeamten, Journalisten und | |
Aktivisten, offenbar weitgehend von den Taliban verübt, wenn auch nicht für | |
sich reklamiert. | |
Offensichtlich diente sie dazu, die ANSF und Regierungsbeamte zu entmutigen | |
und ihnen zu demonstrieren, dass es selbst in der Hauptstadt keinen | |
sicheren Ort für sie gibt. Mit der Ermordung von Journalisten und | |
Aktivistinnen sollte im Vorfeld eines Übernahmeversuchs jede zivile | |
Opposition buchstäblich ausgeschaltet werden. | |
Die Annahme, die Taliban strebten einen Verhandlungsfrieden an, prägte | |
nicht nur die Politik der USA, sondern auch die ihrer Verbündeten. Auf | |
internationaler Ebene wurden zahlreiche Institutionen beauftragt, Szenarien | |
für die „Zeit nach dem Frieden“ zu prüfen, Studien befassten sich damit, | |
wie eine künftige Verfassung aussehen könnte, mit Abrüstung, | |
Demobilisierung und Wiedereingliederung, Frauenrechten, Wirtschaft und | |
Entwicklung. | |
Doch die Haltung der Taliban zu den „innerafghanischen Gesprächen“ zeigte, | |
dass sie „die Uhr ablaufen lassen“ und bis zum Abzug der fremden Truppen | |
auf Zeit spielen wollten. Hinter den Kulissen sammelten sie ihre Kämpfer, | |
um Afghanistan zurückzuerobern und ein neues Emirat zu errichten. | |
Als Präsident Biden am 14. April 2021 den vollständigen, raschen und | |
bedingungslosen Abzug der US-Streitkräfte verkündete, knüpfte er dies an | |
ein innenpolitisches Ereignis in den USA – den 20. Jahrestag der Anschläge | |
al-Qaidas vom 11. September 2001. Wie so oft richtete sich die | |
amerikanische Afghanistanpolitik nach dem, was sich für ein einheimisches | |
Publikum gut anhört, und nicht nach den – ob guten oder schlechten – Folgen | |
für Afghanistan. | |
Dies ermöglichte den Taliban einen Zeitplan zum Handeln. Und so werden am | |
11. September 2021 nicht nur die Taliban, sondern auch die verschiedenen | |
gewalttätigen dschihadistischen Gruppen in der Welt den 20. Jahrestag der | |
Anschläge al-Qaidas feiern und sich über die zweite Niederlage einer | |
Supermacht durch afghanische „Mudschaheddin“ freuen. | |
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser | |
31 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Kate Clark | |
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