# taz.de -- Festspiele Bayreuth: Kartendämmerung | |
> Der Kampf um den „Ring“ tobt für gewöhnlich auch an den Hintertüren des | |
> Bayreuther Festspielhauses. Doch in diesem Jahr ist einiges anders. | |
Bild: Das Outfit stimmt, fehlt nur noch das Ticket für die Walküre | |
BAYREUTH taz | Zum Grünen Hügel hinauffahrend, verfluche ich mich: Die | |
Sonne steht schon viel zu hoch am Himmel, die Uhr zeigt halb acht. Vor dem | |
Ticketshop werden sich schon zahllose Festspielanwärter in Stellung | |
gebracht haben. Ab zehn Uhr morgens kann man hier nämlich Karten erwerben – | |
sofern welche zurückgegeben wurden. Will man sich jahrelange Wartezeiten | |
ersparen, ist das die einzige, kleine Chance. | |
Oben angekommen, traue ich meinen Augen nicht: kein Kartensucher weit und | |
breit. Wie in den 47 festspielfreien Wochen des Jahres ruht das | |
mythenumwehte Opernhaus in sich – lautlos, apathisch, rätselhaft. | |
Das Herumstehen nervt, die Pole-Position einer potenziellen Warteschlange | |
zu verlassen, kommt aber nicht infrage. Unweigerlich wandern die Gedanken | |
zu meinem ersten Bayreuth-Abenteuer zurück. Damals, man zahlte noch mit | |
D-Mark, hatten sich hier schon drei Dutzend Unentwegte die Füße wund | |
gestanden. Um Punkt zehn Uhr stürmte dann die ganze Meute in den kleinen | |
Raum. | |
Ich habe das drohende „langsam“, mit dem man uns bremsen wollte, noch genau | |
im Ohr. Trotzdem fielen wir fast auf die Theke, hinter der sich die | |
Glücksgöttinnen der Kartenvergabe verbarrikadiert hatten. Eine der beiden | |
bewachte nun die Gruppe, die andere verschwand ins Off, kam mit einem | |
Objekt der Begierde wieder hervor, hielt es vor sich und fragte: | |
„‚Götterdämmerung‘ 160 Mark, wer will?“ | |
Die Erfahrenen hatten das Geld längst abgezählt und wedelten es der Dame | |
suggestiv entgegen. Doch die behielt den Trumpf noch einen Moment in der | |
Hand: „Wer hat noch überhaupt keine Karte? Wer hat noch gar keine | |
Vorstellung gesehen?“ Kurze, dramatische Pause – ihre Augen suchten die | |
Gruppe nach Gesichtern ab, die diese Kriterien erfüllten. Ein junger Mann | |
in der zweiten Reihe bekam den Zuschlag, leistete noch schnell das von ihm | |
verlangte Gelübde, die Karte keinesfalls weiterzuverkaufen, und verließ | |
triumphierend den Raum. | |
Wer die Verhältnisse kennt, weiß, dass solche Fragespiele keine der Willkür | |
geschuldeten Schikanen sind. Nicht nur leidet Bayreuth immer schon unter | |
einem exzessiven Schwarzhandel. Es gilt auch, die zahllosen Wagner-Fans, | |
die man ruhigen Gewissens als Suchtkranke bezeichnen kann, in die Grenzen | |
zu weisen. Die sind seit der Eröffnung der Festspiele vor Ort, haben schon | |
die eine oder andere Aufführung gesehen, sind aber längst noch nicht | |
zufrieden. | |
Irgendwie ist es dieses Jahr dann doch auch 10 Uhr geworden und ich werde | |
eingelassen. Ein junger Mann in schwarzem Anzug und dazu passender Maske | |
empfängt mich mit unerwarteter Freundlichkeit. Ob es zufällig noch eine | |
Karte für morgen Abend, für die „Walküre“ gebe, frage ich scheu. | |
„Schwierig“ sagt er, während er die vor ihm liegenden | |
Reservierungsunterlagen studiert, „aber nicht unmöglich!“ Ich solle es | |
heute Nachmittag noch mal probieren, oder noch besser: morgen früh. | |
## Schwierig, aber machbar | |
Am Nachmittag bilden dann Teo aus Ljubljana und Ricardo aus Mailand die | |
Schlange vor dem Kartenbüro. Der Italiener ist ein Glückspilz. Neben ihm | |
steht eine Frau in einem froschgrünen Kostüm, die ihm eine ihrer beiden | |
„Tannhäuser“-Karten überlassen will – Selbstkostenpreis 40 Euro. Sie m�… | |
diese jetzt nur noch auf seinen Namen umschreiben lassen. Wegen Corona gilt | |
nun mal ein strenges Reglement mit Kontrolle des Personalausweises und des | |
negativen Schnelltests. Erst dann bekommt man ein Kontrollbändchen ums | |
Handgelenk gelegt, mit dem die Akkreditierung abgeschlossen ist. | |
Als Ricardo wieder herauskommt, leuchten seine Augen. Seit drei Jahrzehnten | |
fährt er jeden Sommer für eine Woche nach Bayreuth – und hat immer die eine | |
oder andere Karte bekommen. Für morgen gibt es aber noch nichts. Immerhin | |
beginne ich zu ahnen, warum so wenige Glücksritter der Festspielwelt auf | |
dem Gelände sind: Weil nur jeder zweite Platz besetzt werden darf und der | |
eigene Name auf der Karte stehen muss, rechnet man sich keine Chancen aus | |
und bleibt zu Hause. | |
Zu beneiden sind meine beiden Mitbewerber auch deshalb, weil sie zu den | |
wenigen gehören, die die ursprüngliche Festspiel-Idee mit Leben füllen. | |
Neben ein paar ausgewählten Journalisten gelingt es ja nur den jedes Jahr | |
hier Schlange stehenden Nobodies, die künstlerischen Entwicklungen in | |
Bayreuth mitzuverfolgen, so wie sich Richard Wagner das seinerzeit | |
vorgestellt hatte. Es ist also gerade die Nicht-Prominenz an den | |
Hintertüren, die seinen griechisch-antiken Festspielgedanken weiterträgt, | |
indem sie ihren Jahresurlaub auf dem Grünen Hügel verbringt. | |
Der Frust, noch immer keine „Walküren“-Karte zu haben, hat sich inzwischen | |
verflüchtigt. Denn gleich beginnt die „Tannhäuser“-Vorstellung, für die … | |
schon eine Karte besitze. Wie ich dazu kam, kann ich jetzt nicht erzählen, | |
der Hergang ist zu komplex. Und der hohe Preis ist schnell vergessen. Denn | |
Akustik, Besetzung und Orchester sind wieder großartig, selbst das Klima | |
ist diesmal erträglich. Die Tatsache, dass 900 der 1.800 Sitzplätze leer | |
bleiben, hat die sonst übliche Raumtemperatur um gefühlte 25 Grad gesenkt – | |
von 45 auf 20 Grad. | |
In der ersten Pause entdecke ich eine ältere Dame, die ein Schild mit der | |
Aufschrift „Suche Karte“ vor sich hält. Als ich wenige Minuten später | |
wieder vorbeikomme, ist sie bereits in Verhandlungen und ich sehe, wie | |
Karte und Geld ihre Besitzer wechseln. Neugierig geworden folge ich ihr und | |
frage, wie ihr Geschäftspartner auf die Idee kommen konnte, schon nach dem | |
ersten Akt nach Hause zu gehen. „Man muss sich doch schließlich sehen | |
lassen, egal ob einem das Programm gefällt oder nicht“, lautet die Antwort. | |
Stimmt, diese Sorte Festspielbesucher gibt es ja auch. Statt sich von einem | |
Musikereignis berauschen zu lassen, sind sie hier auf Trophäenjagd und | |
wollen vor allem eines: dabei gewesen sein, wenn gefeierte Tenöre auf der | |
Bühne stehen. Ganz besonders in Bayreuth, dem prestigeträchtigsten Ort des | |
Opernuniversums. Für den gemeinen Festivaltouristen sind vier Stunden | |
Wagner-Arien natürlich eine Zumutung. „Auch ich bin keine Wagnerianerin“, | |
versichert die gebürtige Ungarin. Die Musik sei ihr zu pathetisch, nicht | |
leicht genug. | |
Ihr selbst scheint es indes an Leichtigkeit nicht zu fehlen: Nicht nur hat | |
sie sich mit der Bühnenhandlung gar nicht erst beschäftigt. Sie findet auch | |
nichts dabei, mit einem Armbändchen in den Saal zu gehen, mit dem sich | |
jemand anders registriert hat. „Schaut doch keiner so genau, und außerdem | |
bin ich ja geimpft“, sagt sie verwegen. | |
In der zweiten Pause treffe ich die pensionierte Lehrerin aus Düsseldorf | |
wieder, die ihr Auto neben meinem geparkt hatte. Nach längerer Durststrecke | |
habe sie im letzten Jahr drei Karten erhalten, womöglich, weil sie in der | |
Zwischenzeit einer Wagner-Vereinigung beigetreten war. Nach der Absage der | |
Festspiele habe sie die bereits bezahlten 890 Euro dann nicht | |
zurückgefordert, wofür sie in diesem Jahr fürstlich belohnt wurde: Sie | |
durfte sich zwölf Karten bestellen – bevor der offizielle Vorverkauf | |
begann! | |
Unfassbar: zwölf Karten für eine einzige Festspielsaison! So viele bekommt | |
man ja nicht einmal über eine ausländische Deckadresse. Die Vergabepraxis | |
ist also so undurchsichtig wie eh und je. Auch früher waren an der | |
Tageskasse plötzlich irgendwelche Karten vorhanden – aufgetaucht aus dem | |
Nichts, heraufgedämmert aus den Nebeln der Desinformation, mit denen | |
Bayreuth seinen Mythos pflegt. | |
Am nächsten Tag, an dem sich entscheidet, ob ich eine Karte für die | |
„Walküre“ ergattere, steige ich um Viertel vor zehn zur Hintertür des | |
Festspielhauses hoch. Zu meinem Schrecken steht die Tür schon | |
sperrangelweit offen. Und tatsächlich, fünf Leute sind vor mir dran. Nach | |
einer gefühlten Ewigkeit darf ich eintreten: „Welchen Platz möchten Sie | |
denn?“, fragt mich der freundliche Herr von Tag zuvor. Es ist kein böser | |
Scherz. Drei Karten stehen zur Wahl und ich darf ihm meinen Impfausweis | |
vorlegen. | |
22 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Fitzthum | |
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