# taz.de -- Die Wahrheit: Im Disneyland der Süffelrentner | |
> Wer frühreif und bereit ist, ein Leben als Moselrentner zu führen, der | |
> kann von Glück reden, eine emphatische Beifahrerin dabei zu haben. | |
Bild: Es ist die letzte Gelegenheit, einen Baum zu umarmen | |
Bis anhin hatte das Moselland in meiner Welt keine allzu große Rolle | |
gespielt, ja es war für mich nicht einmal abschließend geklärt, ob es denn | |
wirklich existierte oder ob es sich bei all den Jugendstil-Türmchen | |
zwischen den schon beinahe lächerlich schönen Weinbergen nicht doch nur um | |
das Ergebnis aufwendiger CGI-Animationstechnik für ZDF-Vorabendfilme | |
handelte. Vielleicht war es ja auch eine Art Disney-Land für Deutschlands | |
rüstige Süffelrentner, ein künstliches Promilleparadies. | |
So schien an diesem gleißend hellen Tag dann auch kaum ein Jemand ohne | |
merklich ergraute Haarpracht durch die pittoresken und doch durchaus echt | |
wirkenden Gassen nahe der Mosel zu schlurfen, walken oder sich anderweitig | |
von A nach B zu bewegen. Wären meine Freundin und ich nicht auf der | |
Durchreise gewesen, sie dankenswerterweise am Steuer und ebenso | |
erkundungsfreudig wie ich. | |
Zwischen Ritterrüstungen und Desinfektionsmittelspender verspeisten wir | |
unweit des Eingangsbereichs eines Gasthauses je etwas von der Tageskarte | |
und ich orderte pflichtbewusst einen Moselwein dazu. Sorte: rot. Unmoselig, | |
so viel weiß ich, aber Weißen bekomme ich nicht herunter, ohne mindestens | |
einen Schluck Roten gleich hinterherzuschütten. | |
Erstes Fazit: Alles sah zum Fotografieren gut aus, aber welchen meiner | |
wenigen, dafür durch und durch urbanen, diskurs- wie stilsicheren Follower | |
hätte ich mit den Geo- und Hashtags #Mosel, #Traben-Trarbach oder | |
#Bernkastel-Kues beeindrucken sollen? Damit, das war klar, raubte ich mir | |
die letzte Credibility, dachte ich und trank im sicheren Wissen darum, dass | |
„das Netz“ sich hier wohl nicht tummelte, ich also folglich ich sein | |
durfte. | |
Sah ich mich so um, war ich zwar eindeutig noch ein paar Jahre, Kilo und | |
den Kauf von Trekkingsandalen davon entfernt, dazuzugehören, dennoch befiel | |
mich tückisch ein Gefühl von Heimeligkeit, ja beinahe Glück. Etwas | |
Liebliches steckte in der Art, wie einen die mittags schon knallrot | |
glühenden Rentner-Birnen anhauten, um sich freundlich aggressiv Bestätigung | |
einzuholen, dahin gehend, dass es hier doch wohl wirklich ausnahmslos schön | |
sei. Alles soff sich fröhlich, wie einst schon Tucholsky, den Fluss hinab, | |
und ich tat mit. | |
Später dann, auf der Rückfahrt, da schoss es mir in den Sinn und ich | |
gestand mir und meiner Begleitung: Ja, ich bin frühreif. Bereit, fortan ein | |
Leben als Moselrentner zu führen. Sechs im Überschwang erstandene Flaschen | |
Spätburgunder im Kofferraum sollten mein Rüstzeug für den Eintritt in eine | |
neue Lebensphase sein. | |
Ein gar nicht pittoreskes Kopfschmerzgewitter später und unter Beobachtung | |
eines zerknautscht dreinblickenden Spiegelbildes wurde mir klar, dass noch | |
einiges an Training nötig war, um die Mischung aus Sonne und Wein einmal so | |
wegzustecken wie meine Vorbilder im Ruhestand. Doch dann, immerhin: War das | |
da nicht ein neues graues Haar? Das Glück, es rückt näher. | |
24 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Fabian Lichter | |
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