# taz.de -- Corona und Armut in Berlin: Pandemische Ungleichheiten | |
> Die Landesarmutskonferenz sammelt die Erfahrungen sozialer Träger in der | |
> Pandemie. Vorher bestehende Probleme haben sich demnach verschärft. | |
Bild: Auf die Pandemie nicht vorbereitet: Obdachloser im Winter 2020/21 in Berl… | |
„Die Pandemie hat die Schwachstellen im System gut sichtbar gemacht und | |
nochmal verstärkt“ – mit diesem Satz fasst Susanne Gerull, Professorin an | |
der Alice Salomon Hochschule für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, | |
die Ergebnisse einer von der [1][Landesarmutskonferenz Berlin (LAK)] | |
durchgeführten Befragung von 13 sozialen Trägern zusammen. Befragt wurden | |
etwa die Caritas, die Berliner Stadtmission oder der Arbeitskreis | |
Wohnungsnot, wie sie in ihrem konkreten Arbeitsalltag die sozialen Folgen | |
der Pandemie wahrnehmen. | |
Aus ihren Antworten geht unter anderem hervor, dass sich die Anzahl von | |
hilfsbedürftigen oder von Armut betroffenen Menschen erheblich erhöht hat. | |
Genaue Zahlen konnten auf der digital stattfindenden Diskussion der | |
Ergebnisse am Montagabend nicht präsentiert werden. Die Träger berichteten | |
aber von vermehrten Nachfragen etwa bei Tafeln oder bei Beratungsangeboten. | |
Daraus ließe sich ableiten, dass sich die Not der Menschen vergrößert habe. | |
Besonders hart für Betroffene sei die Schließung von etwa Jobcentern, | |
Sozialämtern und Jugendämtern gewesen, heißt es im Bericht. Menschen ohne | |
Internetzugang hätten „buchstäblich vor geschlossen Türen“ gestanden, wi… | |
Tobias Bellinghausen aus der Zentralen Beratungsstelle für Menschen in | |
Wohnungsnot zitiert. Insbesondere für migrierte Menschen habe der rein | |
digitale Kontakt zudem weitere Sprachbarrieren geschaffen, ergänzte Achim | |
Wuster von der Stadtmission. | |
Vielerorts hätten Psycho- und Suchttherapien nicht gestartet werden können, | |
was reguläre Hilfsverläufe unmöglich gemacht habe. Barbara König (SPD), | |
Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und | |
Gleichstellung, hob in einer zugesandten Stellungnahme zudem die besondere | |
Belastung von Frauen hervor. So seien 86 Prozent aller Alleinerziehenden | |
weiblich. Zudem würden Frauen verstärkt in systemrelevanten Berufen | |
arbeiten und wären häufiger von häuslicher Gewalt betroffen, so König. | |
In vielen Fällen seien die sozialen Folgen der Pandemie noch gar nicht | |
absehbar, führte Gabriele Schlimper von der LIGA der Freien | |
Wohlfahrtspflege Berlin am Beispiel der Berufsagenturen aus, die | |
Karriereberatungen für Jugendliche ohne Schulabschluss durchführen. Bei den | |
Beratungen handele es sich um „den Nukleus, um künftige Armutskarrieren zu | |
verhindern“, so Schlimper. Während der Pandemie seien diese aber | |
eingestellt worden, es sei noch völlig unklar, wie viele Jugendliche dabei | |
durchs Raster gefallen seien. Auch die anwesende Sozialsenatorin Elke | |
Breitenbach (Linke) erklärte, beim Herunterfahren der Angebote von | |
Jugendberufsagenturen oder Jobcentern seien Menschen „verloren gegangen“. | |
Der Bericht ist ein „Praxischeck“ einer im Mai 2020 veröffentlichten | |
Stellungnahme von Wissenschaftler:innen der Alice Salomon Hochschule. | |
Schon damals hatten Forscher:innen aus den Bereichen Soziale Arbeit, | |
Gesundheit, Erziehung und Bildung vor neuen Ungleichheiten gewarnt. Sie | |
forderten unter anderem, der strukturellen Benachteiligung von Frauen* | |
entgegenzuwirken, die Soziale Arbeit als systemrelevant anzuerkennen oder | |
Menschen in existenziellen Armutslagen besser zu beschützen. Kommen sahen | |
sie etwa „erhöhte Erkrankungsrisiken für bestimmte Bevölkerungsgruppen“ … | |
„langfristige Effekte auf Bildungsbiografien und damit die Verminderung von | |
Chancengleichheit“. | |
Im Wesentlichen scheinen sich die Befürchtungen der | |
Wissenschaftler:innen bestätigt zu haben. Der Bericht der LAK leitet | |
eine Reihe von – recht naheliegenden – Forderungen ab: etwa Einsparungen zu | |
stoppen und Gelder aufzustocken, die stetige Erreichbarkeit von Ämtern wie | |
dem Sozialpsychologischen Dienst oder der Jobcenter sicherzustellen, die | |
Bereitstellung technischer Hilfsmittel etwa für Geflüchtete und die | |
Anpassung der Arbeitsbedingungen an die Bedürfnisse von Familie und | |
Homeoffice. | |
Die anschließende Diskussion drehte sich auch um die Möglichkeit kommender | |
Sparmaßnahmen. In Forderungen, diese zu verhindern, sah Sozialsenatorin | |
Breitenbach „Sätze zeitloser Schönheit“. Bisher liege nur ein Entwurf des | |
Haushaltsplans vor, der nach den Wahlen wohl noch verändert würde. Mehrere | |
Repräsentant:innen der sozialen Träger hoben die Notwendigkeit hervor, | |
sich politisch einzumischen, um Einsparungen zu verhindern. | |
29 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.landesarmutskonferenz-berlin.de/ | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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