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# taz.de -- Verdrängung von Wohnungslosen: Von wegen Nachbarschaft
> Anwohner*innen und Gewerbetreibende rund um den S Holstenstraße
> wünschen sich eine „gute Nachbarschaft“. Die gilt aber nicht für alle.
Bild: Suchtkranke Menschen sind hier nicht mehr erwünscht: der Hamburger S Hol…
Suchtkranke Menschen sind am S-Bahnhof Holstenstraße und in der weiteren
Umgebung nicht mehr erwünscht. In einem Brief an die Hamburger Fraktionen
fordern Anwohner*innen und Gewerbetreibende eine „gute Nachbarschaft“ –
in der Suchtkranke und Obdachlose augenscheinlich keinen Platz finden.
Wohin sie stattdessen ausweichen sollen, wird nicht erwähnt.
Laut einer Mitteilung der Christuskirche Altona fanden sich am 22. Juni
Anwohner*innen, Gewerbetreibende, Vertreter*innen sozialer
Einrichtungen und politischer Parteien zusammen, um über die Situation rund
um den S-Bahnhof Holstenstraße zu diskutieren. Nach einer einstündigen
Veranstaltung habe man* schließlich schriftlich festgehaltene Forderungen
an die Politiker*innen übergeben. In dem Brief mit dem Titel „Auf gute
Nachbarschaft!“ wünschen sich die Beteiligten unter anderem eine
„gestalterische Neukonzeption bekannter Sammelorte“ von Suchtkranken und
Obdachlosen.
Der Zweck solcher Umbaumaßnahmen wird zwar nicht direkt genannt, lässt sich
aber als Vertreibung der Betroffenen von den genannten Orten deuten.
Weiterhin hoffe man* auf eine konsequentere Verfolgung von Straftaten. Die
konkrete Forderung lautet: „verstärkte regelmäßige oder dauerhafte Präsenz
der Polizei“.
Dass Polizeipräsenz eher zur Vertreibung als zu einer Lösung auf Augenhöhe
führt, weiß Florian Pittner. Er ist Straßensozialarbeiter und steht mit den
suchtkranken Menschen an der Holstenstraße in engem Kontakt. Bevor einige
von ihnen dorthin kamen, gingen sie zum „Drob Inn“ in St. Georg, einem Raum
für kontrollierten Konsum. Einzelberichten zufolge fühlten sie sich von
dort vertrieben, als Polizeikontrollen zunahmen. „Dass die polizeiliche
Repression zugenommen hat, wurde von vielen Seiten bestätigt“, so Pittner.
## Es fehlt ein Konsumraum
Obwohl es in Altona zwei Anlaufstellen für Wohnungslose und Suchtkranke
gibt, bleibt die S-Bahn-Station ein beliebter Treffpunkt. Grund dafür
könnte das Fehlen eines Konsumraumes sein, in dem der kontrollierte Konsum
illegaler Drogen möglich ist, wie es zum Beispiel im „Drob Inn“ angeboten
wird. Pittner arbeitet in einer der Anlaufstellen in Altona, gegründet von
Fördern & Wohnung und Palette e. V. „Wir bieten zwar Essen, eine
Kleiderkammer usw. an, haben aber keinen Konsumraum“, erklärt Pittner. Der
Konsum illegaler Drogen werde sanktioniert. Daher konsumierten die Leute
eben dort, wo sie einen Platz fänden.
Konsumräume hält Pittner generell für sinnvoll: Durch zusätzliche ärztliche
Betreuung könne man* Krankheiten besser in den Griff kriegen und weniger
Menschen müssten schwer erkranken oder sterben. Im öffentlichen Raum würden
sich Passant*innen weniger gestört fühlen: „Die Erfahrung zeigt, dass
das für alle Beteiligten ein Gewinn wäre.“
Der Dialog mit Betroffenen erweist sich als schwierig. Sie bleiben unter
sich, suchen nicht wirklich die Interaktion mit Passant*innen – bei den
andauernden Auseinandersetzungen wenig verwunderlich. Pittner bestätigt,
dass viele Betroffene sehr misstrauisch seien. Häufig hätten sie schlechte
Erfahrungen gemacht und seien teilweise traumatisiert. Als staatlich
anerkannter Suchttherapeut könne er das beurteilen. Man* brauche geschultes
Personal, um Beziehungsarbeit zu leisten. „Gerade ich als
Straßensozialarbeiter kann mit einem sehr geringen Aufwand ziemlich viel
für diese Leute erreichen“, so Pittner.
## Vertreibung funktioniert nicht
Auf Anfrage berichtet das Bezirksamt Altona, dass unter anderem der
sogenannte „Trinker-Kiosk“ am Düppelplatz entfernt worden sei, um die
Situation in der Umgebung weiter zu „befrieden“. Wie das Hamburger
Abendblatt berichtete, ließ der Bezirk den Pachtvertrag auslaufen. Der
Kiosk sei als Treffpunkt in Zusammenhang mit Alkohol bekannt gewesen. Von
„Holstenplatz-Verschmutzung“ war die Rede. Der Bezirk wolle das Areal dort
umgestalten, um eine „bessere Verträglichkeit im öffentlichen Raum zu
fördern“.
Florian Pittner sieht das kritisch: „Wofür ich nicht offen bin, vor allem
aufgrund der Hamburger Geschichte, ist Vertreibung.“ Vor wenigen Jahren
seien am Hauptbahnhof Richtung Kirchenallee [1][alle überdachten Flächen
privatisiert worden], sodass sich dort nur noch Menschen aufhalten könnten,
die das Security-Personal als Reisende wahrnehme. Soziale Randgruppen seien
[2][nach St. Georg verdrängt worden]. Ein weiteres Beispiel sei die
Vertreibung der Dealer*innen rund um den Hauptbahnhof in alle möglichen
Stadtteile 2001 unter Innensenator Olaf Scholz. „Die Menschen werden nicht
verschwinden“, betont Pittner. Das wisse man* in Hamburg bereits.
„Vertreibung funktioniert nie“, sagt auch Gregor Werner, SPD-Vorsitzender
von Altona-Nord-Sternschanze. Die Problematik rund um die Holstenstraße sei
ihm vollumfänglich bekannt. Was die politischen Ziele angehe, wolle man*
Sozialarbeit mehr fördern und eine öffentliche Toilette installieren, damit
die Straßen sauber bleiben. Trotzdem erwarte er auch von der Polizei, dass
sie allen illegalen Handlungen nachgehe: „Wenn Straftaten konsequent
verfolgt werden, erübrigen sich viele der Probleme“, so Werner. „Es soll
kein Raum sein, an dem man Angst haben muss.“
Thérèse Fiedler, Anwältin für Sozialrecht und Bezirksfraktionsvorsitzende
der Linken in Altona, sieht die geforderte Polizeipräsenz kritisch. Auch
sie befürchtet eine Vertreibung der Wohnungslosen. Die Situation am
Holstenplatz zeige deutlich, dass sich der Sozialstaat im Abbau befinde:
„Es ist so, dass insbesondere während der Coronapandemie eine Verelendung
unter den Obdachlosen zu beobachten ist“, sagt Fiedler zur taz. Auch die
Trinkwasserversorgung sei für Menschen ohne Unterkunft im Sommer fatal. Sie
nehme nicht wahr, dass Bezirksamt oder Fachbehörden handelten. Als Partei
kämpfe die Linke für den niedrigschwelligen Ausbau menschenwürdiger
Strukturen und stelle entsprechende Anträge.
Laut Pittner ist die einzige Lösung ein struktureller Ansatz und
Mehrfinanzierung von Sozialarbeit. Suchtkranke seien Menschen, die durchs
soziale Netz gefallen seien und keine Lobby hätten. „Das ist das Resultat
einer jahrzehntelangen nicht-adäquaten Gesundheits-, Drogen- und
Sozialpolitik“, sagt Pittner. Es gehe jetzt darum, den Menschen Stück für
Stück [3][ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen] und die Verelendung zu
stoppen. So etwas gehe nicht über Nacht.
4 Jul 2021
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## AUTOREN
Lukas Door
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