Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt: Das Magdeburger Knäuel
> Die CDU hat die Wahl in Sachsen-Anhalt gewonnen. Doch der Weg zum
> Regieren ist steinig, die Mehrheit mit der SPD ist knapp. Was tun? Ein
> Vorschlag.
Bild: Der Wahltriumph von Reiner Haseloff könnte viel von seinem Glanz verlier…
Die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt haben ein erstaunlich klares Ergebnis
für die CDU erbracht. Die Union könnte sogar mit den weiter geschrumpften
Sozialdemokraten eine Zweierkoalition bilden.
Und doch findet sich die Landespolitik in einer recht verknäulten Situation
wieder. CDU und SPD haben im neu gewählten Landtag gemeinsam nur eine
Stimme Mehrheit. Da dabei weder die Grünen noch die FDP als überflüssiges
Anhängsel ohne Verhandlungsmacht mitspielen wollen, haben sie eine Kenia-
beziehungsweise Deutschland-Koalition zunächst ausgeschlossen.
Wie Armin Laschet aktuell in NRW beweist, könnte Reiner Haseloff mit einer
Stimme Mehrheit in Magdeburg passabel regieren. Einerseits. Anderseits hat
die Verfassung vor das Regieren die Wahl des Ministerpräsidenten gesetzt.
Und diese Wahl ist geheim. Dass die Kombination von knappen Mehrheiten und
geheimen Abstimmungen für allerlei Kabale und Leimruten taugt, wissen wir
spätestens seit der Wahl Thomas Kemmerichs zum Thüringer
FDP-Kurzzeitministerpräsidenten.
Am Dienstag tritt erstmals der neue Landtag zusammen. In der neuen
Unionsfraktion sitzen ein von Haseloff entlassener Ex-Innenminister und
zwei Abgeordnete, die zu einem Flirt mit der AfD aufgelegt waren und wohl
auch aus diesem Grund zu Ex-Fraktionsvizes degradiert wurden.
Mit etwas Fantasie lässt sich also ein echter Nervenkrimi für Haseloffs
Wahl durch eine mögliche CDU/SPD-Koalition erwarten. Falls Haseloff diese
Wahl überstehen würde – der politische Alltag im Magdeburger Landtag wäre
berechenbarer. In der Gesetzgebung wird ja offen abgestimmt und jeder
Abgeordnete, der dem „Retter der CDU“ von der Stange geht, müsste dafür
schon sehr überzeugende Argumente parat haben.
## Schon wieder – die AfD
Scheitert Haseloff bei der Wahl – sein eindrucksvoller Wahltriumph würde
viel von seinem Glanz verlieren. Die Vieldeutigkeit der möglichen
Abweichungsmotive würde alle Debatten über die Nähe der CDU zur AfD
revitalisieren, die ja eigentlich mit dem Wahlergebnis vom Tisch sein
sollten.
Passierte dies auch noch vor der Bundestagswahl, wäre Sachsen-Anhalt
bundespolitische Aufmerksamkeit gewiss. Gut also, dass man jüngst die enge
Frist zur Wahl des Ministerpräsidenten (zwei Wochen nach der
konstituierenden Sitzung des Landtags) aus der Landesverfassung gestrichen
hat. Man kann sich Zeit lassen.
Was tun? Haseloff könnte versuchen, die Grünen oder die FDP doch zu einer
„übergroßen“ Koalition zu überreden. Allerdings sähe das entlarvend aus…
man beide bei der Gesetzgebung nicht bräuchte und Haseloff so sein
Misstrauen in die eigene Fraktion eingestehen würde. Jede
Dreierkonstellation bedeutet zwar ein größeres Stimmenpolster als die
Einstimmenmehrheit von CDU und SPD. Doch mit CDU und Grünen an einem
Kabinettstisch wäre erneuter Koalitionskrach vorprogrammiert.
## Bloß nicht wieder eine Zwangskoalition
Nach Corona fehlt zudem das Geld, inhaltliche Gräben zuzuschütten. Auch das
größere Stimmenpolster von Jamaika oder Kenia könnte schnell dahin sein,
wenn sich bei Haseloffs Wahl genügend CDU-Abgeordnete im Geheimen darüber
ärgern, dass sie sich zu früh über das Ende der ungeliebten Zusammenarbeit
mit den Grünen gefreut haben.
Aktuell erscheint eine Koalition von CDU und SPD mit einer
verständnisvollen und Zugeständnissen nicht abgeneigten FDP am
wahrscheinlichsten. Dass dabei, wie kolportiert wird, der FDP als
eigentlich überflüssiger Partei vertraglich zugesichert werden soll, in der
Koalition nicht überstimmt zu werden, wäre ein Novum in der deutschen
Koalitionspolitik. Vermutlich gibt es in der Staatskanzlei erste Entwürfe,
wie dies in eine „Stabilität und Verantwortung für
Sachsen-Anhalt“-Erzählung eingebettet wird.
Ein weiterer Ausweg bestünde darin, die Geheimniskrämerei bei der Wahl des
Ministerpräsidenten abzuschaffen. Der Politikwissenschaftler Frank Decker
hat nach der Wahl Kemmerichs in Thüringen zu Recht daran erinnert, dass
dies ein alter undemokratischer Zopf ist, mit dem sich wie auch immer
angetriebene Abgeordnete der Rechenschaftspflicht gegenüber ihren Wählern
entledigen können.
## Gefragt ist Erfindergeist
Abschneiden kann man diesen Zopf in Sachsen-Anhalt aber nur mit einer
verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit. Dies dürften aber gerade die
Abgeordneten links und rechts der CDU verhindern, die Haseloff das
Magdeburger Knäuel von Herzen gönnen.
Schließlich wäre Erfindergeist bei der Suche nach Mehrheiten hilfreich.
Sachsen-Anhalt zeigt unter dem Brennglas, dass man sich in der rigiden
Koalitionslogik eines zersplitterten Parteiensystems schnell verheddern
kann – selbst nach einem vermeintlich deutlichen Wahlergebnis. In deutschen
Koalitionen entscheiden die Partner unter Kompromisszwang alles gemeinsam
und schließen die Opposition vollständig aus. Vor allem in ideologisch
überdehnten Bündnissen wie Kenia lassen sich viele dieser Kompromisse den
eigenen Wählern nur schwer verkaufen.
Es würde der Handlungsfähigkeit der Politik in Sachsen-Anhalt und der
Profilschärfe der Parteien guttun, diese überholte Praxis aufzulockern.
Haseloff könnte mit SPD, FDP und Grünen auch fallweise zusammenarbeiten,
statt sich mit ihnen ins Koalitionskorsett zu zwängen. Mit Projekten mit
den Grünen könnte Haseloff zeigen, dass es ihm mit der Klimapolitik ernst
ist. Die Digitalisierung des Landes könnte mit der FDP vorangetrieben
werden.
Die Möglichkeit, nicht nur alles von den Oppositionsbänken zu kommentieren,
sondern ein wenig Politik im Sinne des eigenen Markenkerns beeinflussen zu
können, könnte für FDP und Grüne ein Grund sein, einen
experimentierfreudigen Ministerpräsidenten zu wählen. Mit Kenia hat
Haseloff im Jahr 2016 bereits einmal eine neue Koalition erfunden.
Vielleicht gelingt es ihm mit einer grundsätzlicheren Innovation der
Koalitionspolitik, das Magdeburger Knäuel zu entwirren.
6 Jul 2021
## AUTOREN
Christian Stecker
## TAGS
Sachsen-Anhalt
Reiner Haseloff
Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
CDU
Deutschland-Koalition
Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
FDP
Jamaika-Koalition
Fahrrad
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt: Schwarz-Rot-Gelb in Magdeburg steht
Mit dem Ja der Liberalen ist die Koalition aus CDU, SPD und FDP in
Sachsen-Anhalt perfekt. Am Donnerstag soll Reiner Haseloff erneut zum
Regierungschef gewählt werden.
„Deutschlandkoalition“ in Sachsen-Anhalt: Ein Aufbruch ist das nicht
CDU, SPD und FDP einigen sich in Sachsen-Anhalt auf eine Koalition.
Klimaschutz bleibt Nebensache, das Umweltministerium wird sogar
zerschlagen.
Mögliche Koalition in Sachsen-Anhalt: SPD will regieren
Kann die Koalition zwischen CDU, FDP und SPD kommen? Landtagsvorstand und
Kreisverbände der SPD sagen ja. Doch die Partner*innen müssen noch
entscheiden.
Sondierungsgespräche in Sachsen-Anhalt: CDU will Koalition mit SPD und FDP
In Sachsen-Anhalt deutet viel auf eine „Deutschland-Koalition“ hin. Über
diese schwarz-rot-gelbe Allianz wollen die Parteien in Magdeburg nun
verhandeln.
Sachsen-Anhalt nach der Wahl: Sondierungen in Magdeburg
Der neue Landtag Sachsen-Anhalts hat sich konstituiert. Die Grüne fliegen
wohl aus der Regierung, eine Deutschland-Koalition ist absehbar.
Radpolitik in Sachsen-Anhalt: Keine Garantie für Wahlerfolg
Die Kenia-Koalition in Sachsen-Anhalt hat die Mittel für den Radwegebau
dank der Grünen versechsfacht. Aber das war immer noch zu wenig.
Rechtsextremismus-Experte über AfD: „Wähler machen Radikalisierung mit“
Sachsen-Anhalts AfD habe sich professionalisiert sagt David Begrich. Die
neue Strategie könne die Partei noch gefährlicher machen.
CDU-Krise in Sachsen-Anhalt: Zeit der Entscheidung
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff feuert seinen Innenminister
Stahlknecht. Doch die Krise der CDU ist damit noch lange nicht vorbei.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.