# taz.de -- Public Viewing bei der EM: Nicht für die Türkei, gegen Deutschland | |
> Unseren Autor lässt das deutsche Ausscheiden bei der EM kalt. Weniger | |
> geht es dabei um nationale Identität oder „Integration“: Es geht um Oben | |
> und Unten. | |
Bild: Achtelfinale im Kölner Biergarten: Deutschland fliegt raus – und nicht… | |
Früher waren nationale Fußballturniere sehr wichtig für mich. Heute weiß | |
ich, dass es nur vordergründig um das Nationale ging – woran ich wieder | |
denken musste, [1][als Deutschland im Achtelfinale] der Europameisterschaft | |
gegen England ausschied. | |
Während die aus dem Wembley-Stadion übertragene Trauer über die Niederlage | |
grenzenlos schien – „Die Tränen von Kimmich sind echt“, so der Kommentat… | |
– hielt sie sich beim [2][Public Viewing am Kreuzberger Späti] | |
(Flachbildschirm auf Bierbank, Bierbank auf Bierkästen) in Grenzen. Der | |
(post-)migrantische Teil des Publikums zeigte keine Gefühle. Ein Mann | |
schrie beim ersten englischen Tor sogar vor Freude auf. Warum? Haben | |
schließlich nicht auch wir verloren? | |
Zwei Ereignisse fielen mir dazu ein: Das 1:0 der Türkei gegen Deutschland | |
beim EM-Qualifikationsspiel am 10. Oktober 1998 in Bursa. Und das 2:0 von | |
Italien gegen Deutschland in Dortmund bei der Weltmeisterschaft 2006. | |
Nie bin ich so stolz durch die Gänge meiner Grundschule gegangen wie nach | |
dem Kopfballtor von Hakan Şükür, der in der 70. Minute den großen Oliver | |
Kahn bezwang. Immer musste ich mir den deutschen Spott anhören. Nach diesem | |
Spiel verspottete ich die anderen. | |
Nicht weil Nationalismus voll mein Ding war, sondern weil nationale | |
Differenz früher eine Stütze war. Etwas, an dem ich mich festhalten konnte, | |
wenn Mitschüler und Trainer Wortwitze mit meinen für sie fremd klingenden | |
Namen gemacht haben, oder wenn ein Lehrer mir mit einfühlsamen Worten eine | |
handwerkliche Ausbildung nahelegen wollte, weil er mir das Abitur nicht | |
zutraute. | |
## Deutschland oben, Türkei unten | |
Dass es um konkrete nationale Identität geht, habe ich ein paar Jahre | |
später erlebt, während des deutschen Sommermärchens 2006. Am 4. Juli | |
standen Italien und Deutschland im Halbfinale. [3][Ich saß mit | |
türkeistämmigen Freunden] wie selbstverständlich bei unseren | |
italienischstämmigen Freunden im italienischen Café, nur wenige Meter | |
entfernt von der deutschen Kneipe, wo die deutschen Kids aus den großen | |
Häusern in höheren Lagen am Stadtrand das Spiel schauten. | |
In der italienischen Kneipe jubelten die türkischen, italienischen und | |
kroatischen Jungs und Mädels, als Grosso in der 119. und Del Piero in der | |
120. Minute den schwarzrotgoldenen Rausch beendeten. | |
Man konnte also türkische Eltern haben und für Italien fiebern. Oder | |
italienische Eltern haben und Kroatien anfeuern, wenn die gegen Deutschland | |
gespielt haben. Das war so, weil Deutschland für die Kinder von | |
migrantischen Arbeiter:innen Gymnasiasten waren, die auf Hauptschüler | |
und die Ausnahmen auf ihrer Schule herabblickten; oder Lehrer, die an ihrem | |
Intellekt und ihrer Zivilität zweifelten; oder Demütigungen, die ihre | |
Eltern in Fabriken erfahren haben. | |
Das war so, weil Deutschland oben war, Türkei, Italien und Kroatien waren | |
unten. Und deshalb war auch ich wohl diese Woche sehr gefasst, als | |
Deutschland ausschied. | |
2 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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