# taz.de -- Das Aufsteigerparadox: Wenn Urlaub einfach Urlaub wäre | |
> Für viele bedeutet Urlaub einfach Entspannung. Für den Aufsteiger ist es | |
> die Zeit, in der er schonungslos mit seinen Widersprüchen konfrontiert | |
> wird. | |
Wie schön wäre es, [1][wenn Urlaub einfach Urlaub wäre]. Und nicht | |
ausgerechnet die Zeit, in der der Aufsteiger so schonungslos wie in keiner | |
stressigen Arbeitswoche mit seinen Widersprüchen konfrontiert wird. Ein | |
besonders lästiger Widerspruch, mit dem er sich vom ersten arbeitsfreien | |
Tag an herumschlagen muss, ist das Aufsteigerparadox. | |
Weil es dieses gibt, tut sicher der Aufsteiger, der immerzu nach etwas | |
streben muss (mehr Wissen, mehr Anerkennung, endlich genug Geld), nicht | |
leicht mit Ferien. Denn selbst in den Freizeitmodus zu kommen wird ihm zur | |
anstrengenden Arbeit. | |
Das Aufsteigerparadox erkennt man daran, dass der Aufsteiger weiß, dass er | |
den Bildungsaufstieg nicht geschafft hat, weil er besonders klug und | |
fleißig ist, sondern weil er das Glück hatte, zur richtigen Zeit am | |
richtigen Ort gewesen zu sein, dort die richtigen Leute getroffen zu haben. | |
Der Aufsteiger weiß, dass er ein Glückspilz ist, einer von wenigen unter | |
vielen, die das Abitur genauso wie er hätten schaffen können, weil sie | |
mindestens genauso viel wie er draufhaben. | |
Er weiß, dass er sich nichts auf seinen Weg einbilden sollte, dass Demut | |
statt Hochmut angebracht ist. Und trotzdem neigt der Aufsteiger manchmal zu | |
narzisstischen Gefühlen. Denn es ist auch so, dass er in Schule und Studium | |
immer 150 Prozent geben musste und auch gegeben hat, weil er mit einem | |
Rückstand in den Wettbewerb eingestiegen ist. | |
## Hartes und weiches Wissen | |
Und es ist so, dass er sich nicht nur den Unterrichtsstoff und die | |
akademische Lektüre unter erschwerten Bedingungen einprägen musste und | |
dabei auf sich alleine gestellt war, [2][weil seine Eltern sich nicht | |
auskannten und kein Geld für Nachhilfe hatten]. Neben hartem Wissen musste | |
er sich auch das weiche aneignen: Wie tritt man auf, wie spricht man | |
richtig, wie macht man auf sich aufmerksam, ohne dass es aufdringlich | |
wirkt? | |
Das irritierende Resultat dieses Paradoxons ist, dass der Aufsteiger so | |
einerseits an die Früchte individueller Leistung glaubt, weil er selbst | |
erlebt hat, wie er mit Mühe und Ehrgeiz schaffen kann, was nicht viele | |
schaffen, die so sind wie er. Andererseits verspottet er diesen Glauben, | |
weil er weiß, dass sein Glück niemals in seinen eigenen Händen gelegen hat, | |
sondern schon immer in den Händen der Verhältnisse und des glücklichen | |
Zufalls. | |
Das Resultat aus diesem Zusammenspiel von Gesellschaft und Biografie ist, | |
dass der Aufsteiger nichts mehr verabscheut als die Leistungsgesellschaft | |
und ihre Ideologie, weil er Bücher darüber gelesen hat, aber trotzdem davon | |
überzeugt ist, dass er niemals wäre, wo er heute ist, hätte er sich nicht | |
so reingehängt. Das Resultat ist, dass er es auch nicht beim | |
Studienabschluss belassen kann, sondern weitermachen muss, bis Geld | |
vielleicht irgendwann wirklich kein Thema mehr ist – wofür sonst haben | |
seine Eltern all die Opfer erbracht? Und deshalb innerlich immerzu | |
getrieben ist, auch wenn er äußerlich gerade Urlaub macht. | |
16 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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