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# taz.de -- Homeschooling in Russland: Die russische Schulfreiheit
> Lernen von zu Hause? Oft ein Graus, zeigt sich in der Pandemie. Aber
> nicht für alle: Ein Besuch bei russischen Homeschooler*innen.
Bild: Feier zum Schuljahresbeginn in Moskau. Eine Schulpflicht gibt es in Russl…
Mytischtschi taz | Jegor hatte es versucht. Er hatte die Vorbereitungskurse
besucht, wie nahezu alle russischen Kinder ein Jahr vor Schulbeginn, hatte
Gefallen an der Vorstellung „Schule“ gefunden. Die Enttäuschungen folgten
bald: eine nicht bestandene Eingangsprüfung für die erste Klasse, der erste
Schulwechsel, der zweite, der dritte, der vierte. Jegors „Ich hasse die
Schule“ kam immer häufiger. „Er war vollkommen verloren“, sagt seine Mut…
Lara Pokrowskaja heute in ihrem Wohnzimmer in Mytischtschi, einem Vorort
von Moskau, wenn sie sich an die Schulzeit ihres Sohnes erinnert.
Nach aufreibenden Jahren wagte sie schließlich einen Schritt, der ihr
zunächst unvorstellbar erschien: Jegor wurde zum Homeschooler, und sie, die
ausgebildete Ökonomin samt Psychologiezusatzdiplom, zur Managerin seines
Bildungsprozesses. Eine Form, die immer mehr Schüler*innen in Russland
nutzen. „Semejniki“, also Familienlerner, werden die Kinder genannt, deren
Eltern sich für alternatives Lernen einsetzen, weil „Schule, wie sie hier
oft gepflegt wird, sinnlos ist“.
Jegor wurde ab der sechsten Klasse ein Semejnik. Er lernte Russisch mit
einer Nachhilfelehrerin, Mathematik mit seiner Großmutter, brachte sich
selbst Englisch bei. Am Ende jedes Schuljahrs schrieb er die Prüfungen mit,
die Schüler*innen an staatlichen Schulen jährlich absolvieren müssen –
und bestand ausnahmslos. „Es wurde stressfreier“, sagt seine Mutter, die
will, dass Eltern-Kind-Beziehungen nicht vom System Schule ins Wanken
gebracht werden. Bis zu 200.000 Semejniki soll es in Russland geben, eine
handfeste Statistik fehlt jedoch.
Russland hat keine Schulpflicht, im Bildungsgesetz von 1992 wird lediglich
auf die Bildungspflicht jedes Kindes verwiesen. Wie es zu dieser Bildung
kommt, bleibt den Familien überlassen. Formen des Lernens gibt es zuhauf.
## Patriotismusunterricht und einheitliche Geschichtsbücher
Die gängigste ist freilich die staatliche Schule, die immer einengenderen
Maßnahmen unterliegt: Patriotismusunterricht, einheitliche Bücher, die die
offizielle Sicht auf die Geschichte des Landes als Geschichte der Sieger
propagieren, Gesetzesneuerungen, die internationale Kooperationen
erschweren. Disziplin, nicht das Hinterfragen von Vorgegebenem, steht hier
im Vordergrund.
Privatschulen bieten mehr Wahlmöglichkeiten, sind aber oft mit weiten Wegen
verbunden und finanziell nicht für jeden zu packen. Manche Kinder bleiben
an der Schule angemeldet, bekommen den Unterrichtsstoff nach Hause und
schreiben die Prüfungen im Klassenraum mit. Manche gehen nur zu bestimmten
Fächern in die Schule oder an bestimmten Tagen.
Andere melden sich an einer Onlineschule an, haben dort eigene
Mentor*innen oder schauen sich Unterrichtsstoff per Video an. Manche
sind nirgendwo angemeldet und leben das Unschooling, das Freilernerprinzip:
Das Kind entscheidet, was und wie es lernen will. Einen Lehrplan haben sie,
anders als die Homeschooler*innen, nicht.
Manche Eltern organisieren sich in Gruppen, unterrichten die Kinder selbst
oder stellen Nachhilfelehrer*innen an. Die Mittelstufenprüfung und
das Abitur können die Homeschooler*innen extern ablegen. So sucht sich
jede Familie aus dem Baukasten von Bildungsangeboten das für sich Passende
aus.
## Kein Quatschen in der Pause
Jegor ist heute 19. Er arbeitet als Programmierer für ein Start-up und
sagt: „[1][Schule] ist eine einzige Pflichterfüllung, der einzelne Mensch
spielt dabei keine Rolle.“ Seine elfjährige Schwester Sascha stellt sich
Schule als „Uniform, viele Hausaufgaben und seltsam schmeckendes Essen in
der Kantine“ vor. „Quatschen mit Freundinnen in der Pause fände ich aber
toll“, sagt sie.
Eine Schule hat sie nie besucht, sie nimmt den Stoff zu Hause durch, hat
ein bis zwei Mal die Woche Russisch, Mathematik, Englisch, tanzt seit
sieben Jahren und trainiert Eiskunstlauf. Die Abschlussprüfungen der
vierten Klasse habe sie „gerade erst bestanden“, wie sie einer Nachbarin im
Treppenhaus selbstbewusst erzählt. „Das Lernen aber geht jetzt noch
weiter.“
Dass Hausunterricht in den vergangenen Jahren in Russland in Mode gekommen
ist, liegt laut Expert*innen an mehr Wissen über [2][kindliche
Entwicklung] in der Gesellschaft. Eltern hinterfragen ihre eigene
sowjetische Erziehung, die zu großen Teilen auf Beschämung und Schuld
setzte, wollen, dass ihr Kind eine Wahl hat, und orientieren sich an den
Bedürfnissen des Kindes. Homeschooling ist für sie eine Lebensphilosophie.
„Wir nutzen diese Freiheit, solange sie uns vom Staat gelassen wird“, sagt
Alexandra Iwlijewa, eine 32-jährige Juristin, die nun auch Kindergärtnerin
ist – im eigenen Kindergarten. Als ihre Tochter Alissa drei Jahre alt war,
machte sie sich auf die Suche nach der passenden Einrichtung – und fand
keine in der Nähe. Die Familie hat genug Auskommen, wohnt in einer der
Villensiedlungen im Moskauer Nobelviertel Rubljowka.
## Konzepte, die auf Zwang hinauslaufen
Iwlijewa studierte in Harvard, schätzt, wie sie betont, die Freiheit in der
Wissenschaft und im Leben. Ihr Kind sollte „Raum für sich haben, eine
glückliche Kindheit“. Sie störe das sowjetische nado (man muss) – Konzept…
die auf Zwang hinauslaufen. „Man muss“ beim Eintritt in die Schule fließend
lesen können, „man muss“ das Bild so ausmalen, wie es die Erzieherin
vorgegeben habe, „man muss, man muss, man muss“. „Aber für wen ist das d…
ein nado? Für die Kinder sicher nicht“, sagt Iwlijewa.
Vergangenes Jahr startete sie etwas, was geradezu revolutionär ist in einem
Land, in dem manche Erzieher*innen – ohne damit einen Skandal
auszulösen – Kinder bis heute in die Ecke stellen oder ihnen die Arme nach
hinten drehen, um das Mittagessen in sie hineinzulöffeln: Sie gründete den
landesweit ersten reinen Spielkindergarten. Für viele in Russland ist das
eine grässliche Vorstellung: „Aber da lernen sie ja nichts!“
Ihr Sadik-Scharik, der „Kugel-Kindergarten“ in der Siedlung Maloje
Sarejewo, 30 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum entfernt, ist schon durch
seine kugelartige Form auffällig. Zwölf Kinder besuchen das zweistöckige
Gebäude, bis zu sechs Erzieher*innen kümmern sich um sie. 80.000 Rubel
im Monat zahlen die Eltern für die Betreuung von 9.30 bis 18.30 Uhr
(umgerechnet knapp 900 Euro).
„Ich sehe, wie die Kinder aufblühen, wenn man sie ernst nimmt und ihnen
vertraut, und ich wünsche mir, dass ein solches Vorgehen auch immer mehr
staatliche Einrichtungen erreicht“, sagt Alexandra Iwlijewa. Noch aber
stehe das Kind nicht im Mittelpunkt der Bildungseinrichtungen, sagt Xenia
Marsowa von InternetUrok (Internetstunde).
## Prinzip Begeisterung
Die Onlineschule profitiert vom rigiden System der Staatlichen – indem sie
den Unterricht freier gestaltet. Ab umgerechnet 30 Euro im Monat bietet sie
Homeschooler*innen, Unschooler*innen, aber auch Schüler*innen der
staatlichen Schulen die Möglichkeit, sich Wissen anzueignen. Im eigenen
Tempo, zur eigenen Wunschzeit. Hausaufgaben, Prüfungen und Noten gibt es
auch bei InternetUrok. „Aber wir orientieren uns am Kind und pflegen die
Prinzipien: Staunen, Spaß, Begeisterung, Erfolg“, sagt Xenia Marsowa.
17.500 Schüler sind bei der Onlineschule angemeldet. Es sind Kinder, die in
staatlichen Schulen gemobbt wurden, wegen Wettkämpfen oder Auftritten oft
unterwegs sind oder aufgrund ihres Handicaps keinen Zugang zu
konventionellem Unterricht haben. Es sind auch Kinder aus kleinen Dörfern
ohne eine Schule in Laufnähe oder aus überfüllten Großstadtklassen.
Wieder andere haben mit ihren Familien Russland verlassen, sollen aber
dennoch den Zugang zur russischen Sprache und zum russischen
Unterrichtsstoff erhalten. Auch religiöse Familien, die von staatlichem
Einfluss auf ihren Nachwuchs nichts halten, profitieren von Russlands
freiem Bildungsgesetz.
„Für Homeschooling muss man bereit sein und darf das Kind keineswegs als
sein eigenes Projekt sehen“, sagt Oxana Aprelskaja aus Chimki bei Moskau.
Sie sei zunächst zu verbissen an die Aufgabe herangegangen, der Tochter
Bildung beizubringen. „Erst einmal muss man mit sich selbst klarkommen,
bevor man dem Kind etwas aufhalsen will.“
## Für Sascha top, für Dima flop
Zwei Jahre lang habe sie ihrem Mann, der das Kind nicht an einer
staatlichen Schule anmelden wollte, „Widerstand geleistet“, wie sie sagt.
Dann habe sie Bücher zur kindlichen Entwicklung gelesen, sich mit
verschiedenen Schulkonzepten beschäftigt. „Mir ist klar geworden, dass die
Schule, wie wir sie kennen, stark entfernt ist vom Leben eines Kindes“,
sagt die Journalistin, die heute Online-Lernplattformen für Unis
erarbeitet.
Ihre heute 14-jährige Tochter Sascha hat nie eine Schule besucht. Die
ersten vier Schuljahre war sie Freilernerin, hatte keinen allzu geregelten
Tagesablauf, machte aber die Abschlussprüfungen. Seit der fünften Klasse
ist sie an einer Onlineschule angemeldet, stellt sich ihren Stundenplan
selbst zusammen, schreibt die Prüfungen, wenn sie bereit dafür ist.
Daneben besucht sie außerschulische Angebote. „Unsere Tochter ist bestens
sozialisiert, der Vorwurf, Homeschooler seien unsoziale Wesen, die nie
gelernt hätten, mit unterschiedlichen Menschen Konflikte zu lösen, ist fern
der Realität“, sagt Aprelskaja. Für Sascha sei diese Form des Lernens
„genau die ihre“, für ihren Sohn Dima dagegen „absolut nicht geeignet“,
berichtet die Mutter. Der Achtjährige besucht eine Waldorfschule. „Wir
brauchen mehr Bildungsprojekte – alternative, klassische –, damit jeder das
für sich Passende aussuchen kann“, sagt die 36-Jährige.
Auch Alexandra Iwlijewa vom Kugel-Kindergarten wünscht sich, dass Kinder
anders an die Sachen herangehen, als sie es noch selbst gelernt habe.
Freier. „Vielleicht ändert sich dann auch das System hier.“ Die
Kindergartenzeit von Tochter Alissa geht bald zu Ende. Alexandra Iwlijewa
plant nun eine Schule – nach dem Unschoolingprinzip.
17 Jun 2021
## LINKS
[1] /Schulstart-trotz-Corona-in-Russland/!5710457
[2] /Bildungsbericht-der-OECD/!5535050
## AUTOREN
Inna Hartwich
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Homeschooling
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Schwerpunkt Coronavirus
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