# taz.de -- Verschiebung der Olympischen Spiele: Trainieren ohne Gewähr | |
> Turner Andreas Bretschneider, Turmspringerin Elena Wassen und Schwimmerin | |
> Laura Riedemann erzählen, was die Coronapandemie verändert hat. | |
Bild: Dosierte Belastung: Andreas Bretschneider darf seinen Körper für Olympi… | |
Welch ein Glück! Keine Olympischen Spiele! Die Erleichterung war bei | |
Andreas Bretschneider immens, als die Olympischen Spiele im März | |
vergangenen Jahres verschoben wurden. Wochenlang versuchte er sich davor in | |
seiner Wohnung in Chemnitz irgendwie fit zu halten. Allein, ohne Geräte und | |
ohne Trainer. Nur mit der Angst, dass die vielen Jahre voller harter | |
Arbeit, so kurz vor dem großen Ziel, doch umsonst gewesen sein könnten. | |
Andreas Bretschneider ist Turner. Er trainiert in einer Sportart, mit der | |
man vor allem einen hohen Trainingsaufwand und waghalsige Elemente | |
verbindet. Ein paar Wochen ohne Training können da, gerade in der | |
Olympiasaison, das Aus bedeuten. Das wäre fatal gewesen, hat er doch noch | |
eine Rechnung von den letzten Spielen in Rio de Janeiro zu begleichen. | |
Damals war der Reckspezialist gestürzt und ausgeschieden. Um nur einen | |
Zentimeter verpasste er die Reckstange. Es war ein Zentimeter, der über | |
eine Olympiamedaille oder eben sein Ausscheiden entschied. Doch so bitter | |
das auch war – nur kurz danach stand für ihn schon fest, dass das nicht das | |
Ende seiner Karriere und Olympiaträume gewesen sein sollte, auch wenn in | |
den vergangenen Jahren vermehrt körperliche Beschwerden aufgetreten sind. | |
„Es ist immer schwieriger geworden“, gesteht sich der 31-Jährige ein. | |
„Zeitweise habe ich da natürlich an mir gezweifelt, ob ich das noch | |
hinkriege.“ | |
Mal war es die Schulter, ein anderes Mal die Achillessehne, die ihn zu | |
Pausen zwangen. Insgesamt sechs Operationen musste er sich wegen dem Turnen | |
schon unterziehen. Nach den Spielen in Rio 2016 wurde der Sportsoldat an | |
den Schultern operiert, musste zeitweilig mit zwei verbundenen Armen | |
auskommen. „Macht sich auf Toilette nicht besonders gut“, kommentiert er | |
trocken. | |
## Chemnitzer Missstände | |
Der Student für Steuerfachrecht hat häufig einen lockeren Spruch auf den | |
Lippen. Er spricht aber auch darüber, wie er die angespannte Situation am | |
Turnstandort Chemnitz gerade miterlebt. Im vergangenen November hatte | |
Pauline Schäfer, 2017 Weltmeisterin am Schwebebalken, gemeinsam mit ihrer | |
Schwester Helene, Vorwürfe der psychischen Gewalt [1][gegen die Chemnitzer | |
Trainerin Gabriele Frehse] erhoben. Andreas Bretschneider, der seit 24 | |
Jahren in Chemnitz turnt, kennt beide Parteien bestens, Frehse, seitdem er | |
turnt. Ebenso ist er aber auch der Freund von Pauline Schäfer, wohnt seit | |
einiger Zeit mit ihr zusammen. | |
Um Schäfer zu unterstützen und die Missstände am Chemnitzer Stützpunkt zu | |
klären, führte auch Bretschneider einige Gespräche mit den | |
Entscheidungsträgern des Deutschen Turnerbundes (DTB). „Da ist aber nichts | |
passiert. Das kann man ganz einfach so sagen: Nichts! Obwohl die Vorwürfe | |
bekannt waren“, wettert er los. | |
Nur DTB-Präsident Alfons Hölzl habe mittlerweile den Ernst der Lage | |
verstanden. Man merkt ihm an, Schäfers Situation der letzten Jahre hat auch | |
ihm zugesetzt. „Natürlich war das auch schwieriger, meinen eigenen Sport | |
auf die Reihe zu bekommen. Aber was soll ich machen? Ich unterstütze sie da | |
natürlich“, erklärt der einstige WM-Fünfte am Reck. „Ich habe von Anfang | |
angesagt, dass ich dabei bin, wenn sie sich dagegen auflehnt.“ | |
Parallel dazu ist er damit beschäftigt, seine Verletzungen endlich in den | |
Griff bekommen. In den vergangenen zehn Jahren sei er nämlich nie länger | |
als eineinhalb Jahre am Stück gesund geblieben. | |
Nach der damaligen Verschiebung der Olympischen Spiele stellte er deshalb | |
seinen Trainingsplan um. Wie sonst, „draufloszubolzen und sich körperlich | |
zu zerschießen“, hätte für den vergangenen Sommer womöglich noch gereicht, | |
nicht aber für ein weiteres Jahr. Sein Training gestaltet er nun | |
körperschonender – bislang auch mit Erfolg: Seit der Umstellung blieb | |
Bretschneider fit. Und für Olympia, da bereitet er sich derzeit auf eine | |
Reckübung vor, die sogar noch schwieriger ist als damals in Rio de Janeiro. | |
## Endlich über Wettkämpfe sprechen | |
Auch Elena Wassen war in Brasilien dabei. Sie ist Wasserspringerin, wohnt | |
und trainiert in Berlin. Mit gerade einmal 15 Jahren war sie 2016 die | |
jüngste Teilnehmerin im deutschen Olympia-Aufgebot. In ihrer | |
Paradedisziplin, die 10 Meter vom Turm, kam sie bis ins Halbfinale und | |
wurde Siebzehnte. | |
„Damals konnte ich es ehrlicherweise noch nicht so richtig wahrhaben, dass | |
ich bei den Olympischen Spielen bin“, erzählt sie. Noch im gleichen Jahr | |
wurde Wassen Juniorenweltmeisterin. Spätestens seitdem gilt sie im | |
Deutschen Schwimmverband (DSV) als größte Nachwuchshoffnung, will bei den | |
Olympischen Spielen in Tokio unbedingt ins Finale. | |
Wenn die heute 20-Jährige im Kinderzimmer in ihrem Aachener Elternhaus, das | |
sie damals mit zwölf Jahren gegen ein Berliner Sportinternatszimmer | |
eintauschte, so von ihren Erfolgen und Zielen erzählt, hat sie ein Lächeln | |
auf den Lippen. Immer wieder rückt sie ihre silberne Halskette mit den | |
olympischen Ringen dabei zurecht. Wassen, die ihre Leidenschaft selbst in | |
der Nationalmannschaft mit ihrer großen Schwester Christina teilt, wirkt | |
glücklich, endlich wieder über Wettkämpfe sprechen zu können. | |
Denn Anfang 2019 musste Wassen am Handgelenk operiert werden, fiel knapp | |
neun Monate lang aus. Als sie wieder fit wurde, sprang sie gerade einmal in | |
zwei Wettkämpfen mit, ehe die Zwangspause durch den ersten Lockdown kam. | |
Kurz danach wurden die Olympischen Spiele verschoben. Zunächst hat sie das | |
aber nicht wirklich getroffen. „Ganz am Anfang hatte ich noch andere Sachen | |
im Kopf, weil ich mitten im Abi gesteckt habe“, erinnert sie sich. | |
Nachdem sie das bestand und ein Studium des Wirtschaftsingenieurwesens | |
begann, realisierte sie erst, was die Verschiebung der Spiele wirklich | |
bedeutete. Weder Wettkämpfe, Trainingslager oder Aussichten auf Normalität | |
gab es lange Zeit. | |
## Finanzielle Fragen | |
Finanziell hatte das für Wassen, anders als bei vielen anderen | |
Sportler:innen, keine Konsequenzen. Viele Sponsorenverträge waren nur | |
bis Ende 2020 datiert. Nach der Olympia-Verschiebung mussten deshalb einige | |
Sportler:innen neben der Verschiebung privater Pläne sehen, wie sie ein | |
zusätzliches Jahr Leistungssport überhaupt noch finanziert bekämen. | |
Für Wassen steht allerdings fest, auch nach Olympia mit dem Wasserspringen | |
in diesem Umfang weiterzumachen. Parallel zum Studiumsbeginn trat Elena | |
Wassen deshalb in die Sportfördergruppe der Bundeswehr ein – finanziell | |
gesehen ein Privileg im Leistungssport. Dort ist sie abgesichert, erhält | |
ein monatliches Grundgehalt und kann sich voll auf den Sport fokussieren. | |
Umso mehr brennt sie darauf, endlich wieder Wettkämpfe zu bestreiten. | |
[2][Beim Weltcup vor wenigen Tagen in Tokio sicherte sie sich mit ihrer | |
Schwester die Olympiaqualifikation] für die Sommerspiele am gleichen Ort. | |
Lange war unklar, ob der Wettbewerb überhaupt stattfindet. „Da kam die | |
Motivation nicht so schnell wieder“, erzählt Wassen. | |
Diese Unsicherheit, das nervt sie. Man merkt ihr an, dass das an ihr zehrt. | |
So zermürbend die aktuelle Zeit auch ist, Wassen hat sie genutzt, um | |
weiterzukommen. Genau wie vor den Spielen in Rio hat sie auch jetzt einen | |
neuen Sprung gelernt. Bei den Olympischen Spielen will sie nun mit einem | |
dreieinhalb Delfin gehockt bis ins Finale springen. | |
So weit will Deutschlands derzeit schnellste deutsche Rückenschwimmerin | |
Laura Riedemann nicht denken. Die Bestzeit der 22-Jährigen aus Halle an der | |
Saale über 100 Meter liegt nur vier Hundertstel über dem Deutschen Rekord. | |
Doch anders als Bretschneider und Wassen ist Riedemann in Tokio erstmals | |
bei Olympischen Spielen dabei. | |
Auf dem Weg dahin hat sich die Athletin nicht aus der Ruhe bringen lassen. | |
Auch nicht, als zum Beispiel vor vier Jahren der Hallesche Stützpunkt | |
bröckelte. Nach monatelangen Querelen mit der Führungsetage des DSV | |
[3][wurde ihrem damaligen Trainer Frank Embacher gekündigt]. Die Situation | |
am Stützpunkt war für die Sportler:innen daraufhin lange unklar. Mit der | |
Zeit zerbrach die komplette erste Mannschaft, die bis dahin aber eine der | |
erfolgreichsten in ganz Deutschlands war. Einige Sportler:innen | |
wechselten daraufhin mit Embacher nach Leipzig, andere beendeten ihre | |
Karriere. | |
## Zeit für Techniktraining | |
Laura Riedemann war damals die Einzige, die in Halle blieb. „Ich hatte da | |
schon das große Ziel von Olympia“, erinnert sie sich. Sie wollte nicht weg | |
aus ihrem Umfeld, hatte gerade ihr Abitur abgelegt. Also blieb sie, nahm | |
die damals unsichere Situation an und startete parallel zum Leistungssport | |
ein Lehramtsstudium in Deutsch, Sozialkunde und Sport. Olympia aber blieb | |
ihr oberstes Ziel – auch ihre Module stimmte sie exakt darauf ab. | |
Vor allem die Pflichtpraktika, die mit ihrem Trainingsalltag nicht | |
vereinbar sind, hat sie sich extra auf die Zeit nach Olympia gelegt. Mit | |
der Verschiebung der Spiele in Tokio wurden diese Pläne erst mal ad acta | |
gelegt. „Ich denke aber, dass das alles nicht so schlimm gewesen ist. Ich | |
brauche sowieso schon länger als normal, da macht das jetzt auch keinen | |
großen Unterschied mehr“, sagt sie. | |
Momentan liegt ihr Fokus sowieso noch voll auf Olympia. Seit über einem | |
Jahr ist sie bereits für die Spiele qualifiziert. Logischerweise ist ihre | |
Vorfreude nach der langen Wartezeit umso größer. Ähnlich wie Bretschneider | |
und Wassen hat auch Riedemann die Zeit für Technikzwecke genutzt. | |
Seit einiger Zeit wollte sie schon an ihrem Startsprung arbeiten. „Da | |
konnte ich mir nun endlich mal Zeit für nehmen“, erzählt sie. Sonst würden | |
solche Technikblöcke immer wieder durch Wettkämpfe unterbrochen werden. Nun | |
konnte sie sich in Ruhe um ihre Defizite kümmern. „Deswegen denke ich, dass | |
mir das Jahr leistungstechnisch viel gebracht hat.“ | |
Es ist bezeichnend, wie unverdrossen die drei Sportler:innen mit der | |
schwierigen Situation umgehen. Noch immer gibt es eine kleine Unsicherheit, | |
ob die olympischen Spiele in Tokio stattfinden können. Wenn nicht, würden | |
sie für diesen Zyklus komplett ausfallen – das wäre unbestritten ein tiefer | |
Einschnitt im Leben der drei. | |
Doch sie hadern nicht mit der Situation. „Man muss zusehen, dass diese | |
Pandemie in den Griff bekommen wird. Wenn die Spiele da nicht passen, | |
passen sie nicht. Damit muss man dann klarkommen“, erklärt Bretschneider | |
nüchtern. An ihrer Liebe für den Sport ändert das nichts. Bretschneider | |
sagt: „Wenn man mir damals gesagt hätte, dass da eine ganz harte Zeit auf | |
uns zukommt und es völlig unklar ist, ob das Ganze stattfinden wird – | |
wahrscheinlich hätte ich trotzdem zugesagt.“ | |
9 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Schikanierung-von-Turnerinnen/!5743449 | |
[2] https://dsv-roadtotokyo.de/wassen-schwestern-sichern-doppelten-olympiaplatz/ | |
[3] /Krise-der-deutschen-SchwimmerInnen/!5418258 | |
## AUTOREN | |
Jannik Höntsch | |
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