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# taz.de -- Bundesweites Infektionsschutzgesetz: Streit um Notbremse
> Nächtliche Ausgangssperren, aber keine wirksamen Verpflichtungen für die
> Wirtschaft? Die Opposition streitet mit der Regierung über den
> Corona-Kurs.
Bild: Wurden von der Opposition hart attackiert: Merkel und Spahn im Bundestag
Berlin taz | Gegen den heftigen Widerspruch der Opposition passierte die
sogenannte Bundes-Notbremse am Freitagvormittag die erste Lesung im
Bundestag. Der [1][vorgelegte Gesetzentwurf] müsse „dringend nachgebessert“
werden, forderte Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt. Von
einer „Abrissbirne des Parlamentarismus“ sprach Linksfraktionschef Dietmar
Bartsch. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner drohte mit einer
Verfassungsbeschwerde.
Die Regierungskoalition will mit der von ihr vorgeschlagenen Änderung des
Infektionsschutzgesetzes bundesweit verbindliche Corona-Maßnahmen
festschreiben. Danach müssten das öffentliche Leben und private Kontakte
weitgehend heruntergefahren werden, sobald in einem Landkreis die Zahl der
Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen binnen sieben Tagen auf über
100 steigt. Dann sollen beispielsweise Ausgangsbeschränkungen von 21 Uhr
bis 5 Uhr gelten. Schulen sollen ab einem Wert von 200 mit Ausnahmen keinen
Präsenzunterricht mehr anbieten dürfen. Bisher lagen solche Maßnahmen in
der Verantwortung der Länder.
Dass dringender Handlungsbedarf besteht, darin waren sich alle
Bundestagsfraktionen außer der AfD einig. Nur was für Maßnahmen geeignet
und erforderlich sind, darüber besteht keine Einigkeit.
Äußerst umstritten sind besonders die nächtlichen Ausgangssperren. Diese
seien verfassungsrechtlich „hochproblematisch“, sagte FDP-Mann Lindner. „…
der Praxis bedeutet das, dass ein geimpftes Ehepaar aufgrund eines
Ausbruchs kilometerweit entfernt in einem einzelnen Betrieb daran gehindert
wird, alleine nach 21 Uhr vor die Tür zu treten zum Abendspaziergang“,
sagte er. Für den Fall, dass auf die Bedenken der FDP nicht eingegangen
werde, kündigte er an, „den Weg nach Karlsruhe im Wege von
Verfassungsbeschwerden zu gehen“.
## Kontrolle der Unternehmen gefordert
Die geplanten Ausgangsbeschränkungen seien „keine Lösung“, sagte auch
Linksfraktionschef Dietmar Bartsch. Ein solcher Grundrechtseingriff sei
„rechtlich höchstbedenklich“. Bartsch verlangte demgegenüber raschere
Fortschritte beim Impfen und eine nationale Teststrategie.
Scharf attackierte sein Parteifreund Klaus Ernst die Union und die SPD,
weil diese bei der Wirtschaft und der Industrie die Augen zu drücken
würden. „Sie sind nicht einmal in der Lage, in dieses Gesetz
reinzuschreiben, dass man doch bitteschön testen muss, bevor man sich am
Arbeitsplatz aufhält und bevor man sich möglicherweise so verhält, dass man
andere ansteckt“, sagte Ernst. Der Grund für diese eigentümliche
Zurückhaltung sei, dass die Regierungskoalition „den Unternehmerverbänden
im Hintern hängen“ würde.
Weniger deftig, aber in die gleiche Richtung argumentierte die grüne
Bundestagsfraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt. „Eine Notbremse, die
wirksam ist, sieht anders aus“, sagte sie. Da geht es für sie „zuallererst
um die Kontakte in der Arbeitswelt“, die „maximal rechtsverbindlich runter�…
müssten. Erforderlich sei eine Homeofficepflicht. Bei den Ausnahmefällen,
wo dringend weiter vor Ort gearbeitet werden müsse, müsste verplichtend und
kontrolliert getestet werden. Ein Angebot reiche da nicht aus. „Auf der
Baustelle muss doch auch ein Helm getragen werden“, sagte Göring-Eckardt.
„So einfach ist das.“
## Dringender Appell von Merkel
Es sei „definitiv nicht verhältnismäßig, wenn Sie in der Wirtschaft weiter
locker sind“, hielt Göring-Eckardt der Großen Koalition entgegen, „und auf
der anderen Seite die Ausgangssperren machen“. Darüberhinaus kritisierte
sie die Gesetzesvorlage insgesamt als nicht weitreichend genug. So komme
eine Inzidenz von 100 „zu spät, um noch zu bremsen“, sagte sie. „Wir mü…
konsequent zurück auf 50, besser noch auf 35.“
Zu Beginn der Debatte verteidigte Bundeskanzlerin Angela Merkel den
vorgelegten Gesetzentwurf. Eine bundeseinheitliche Notbremse sei nach ihrer
Überzeugung „dringend“ und „überfällig“. Die [2][Intensivmediziner w…
einen Hilferuf nach dem anderen senden. „Wer sind wir denn, wenn wir diese
Notrufe überhören würden?“ Die Lage sei „ernst, und zwar sehr ernst“, …
Merkel. „Und wir alle müssen sie auch ernst nehmen.“
Tatsächlich sind die Zahlen alarmierend: Das Robert-Koch-Institut (RKI)
meldete am Freitag 25.831 Neuinfektionen binnen 24 Stunden. Das sind 367
Fälle mehr als am Freitag vor einer Woche. Die Sieben-Tage-Inzidenz, also
die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen binnen sieben
Tagen, liegt bundesweit bei 160, 1. Und 247 weitere Menschen sind im
Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben. Damit erhöht sich die Zahl der
Todesfälle auf insgesamt 79.628. „Die dritte Welle hat unser Land fest im
Griff“, sagte Merkel.
## Ausgangssperren verteidigt
Die desaströs verlaufenden Beratungen mit den
Ministerpräsident:innen am 22. März seien für sie eine „Zäsur“
gewesen. Um die Pandemie wirkungsvoller zu bekämpfen, „müssen wir die
Kräfte von Bund, Ländern und Kommunen besser bündeln“. Sei sei sich „sehr
wohl bewusst“, dass mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes „harte
Einschränkungen“ beschlossen würden. Aber alle Maßnahmen hätten das einzi…
Ziel, „unser ganzes Land aus dieser furchtbaren Phase der stetig steigenden
Infektionszahlen, der sich füllenden Intensivstationen, der bestürzend
hohen täglichen Zahl der Coronatoten herauszuführen.“
Immer wieder wurde Merkels Rede von wütenden Zwischenrufen aus den Reihen
der AfD unterbrochen, so dass sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu
einer „allgemeinen Bemerkung“ veranlasst sah: „Glauben Sie angesichts der
Notlage und der Sorgen unserer Mitbürginnen und Mitbürger, dass wir dem
nicht auch in der Art, wie wir das hier debattieren, Rechnung tragen
müssen?“, fragte Schäuble rhetorisch mit Blick auf die Abgeordneten
rechtsaußen.
Ausführlich ging Merkel auf die Kritik an den geplanten nächtlichen
Ausgangssperren sein. „Diese Einwände nehme ich ernst“, sagte sie. Obwohl
es sich hierbei um einen „nicht zu leugnenden erheblichen Eingriff in die
persönliche Freiheit“ handeln würde, sei sie überzeugt davon, dass es sich
dabei um „eine geeignete, verhältnismäßige und erforderliche Maßnahme“
handeln würde.
## Verweis auf andere Länder
Weil es in der Pandemiebekämpfung zuvorderst um die Reduzierung von
Kontaktmöglichkeiten gehe, müsse es auch stets um die Reduzierung von
Mobilität gehen. Ziel der vorgesehenen Ausgangsbeschränkungen sei es,
„abendliche Besuchsbewegungen von einem Ort zum anderen, im übrigen auch
unter Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs, zu reduzieren“.
Auch zahlreiche andere Staaten – namentlich führte sie Großbritannien,
Irland, Frankreich, Portugal und die Niederlande auf – hätten
Ausgangsbeschränkungen praktiziert oder praktizierten sie noch. „Zum Teil
im Übrigen erheblich restriktiver als wir das überlegen.“
Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Epidemiologe Karl Lauterbach sprang
Merkel in der Debatte bei. In keinem Land sei es gelungen, die
ansteckendere britische Corona-Mutation B.1.1.7 ohne Ausgangsbeschränkungen
in den Griff zu bekommen. „Daher bitte ich, dass wir tatsächlich in dieser
Ausgangssperre eine notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahme sehen“,
sagte Lauterbach.
Die zweite und dritte Lesung des Gesetzes im Bundestag sollen am kommenden
Mittwoch stattfinden. Danach muss es noch den Bundesrat passieren.
16 Apr 2021
## LINKS
[1] https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/284/1928444.pdf
[2] /Entwicklung-der-Coronapandemie/!5766637
## AUTOREN
Pascal Beucker
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