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# taz.de -- Nachwahl im Norden Englands: Hartlepool Blues
> Hartlepool gilt seit Jahrzehnten als Labour-Hochburg. Bei der Abstimmung
> am Donnerstag deutet alles auf einen Sieg der konservativen Tories hin.
Bild: m Wahlkampf unauffällig neben ihrem Premierminister: Die Konservative Ji…
That’s it! I will vote Conservative!“, sagt Carol Moon, die 39jährige
Managerin der traditionsreichen Metzgerei „Morell and Sons“ im Zentrum des
nordostenglischen Hartlepool. Als die taz sie Ende 2019 traf, [1][kurz vor
den Parlamentswahlen], war sie sich noch sicher, dass die Menschen hier,
sie selbst inbegriffen, Labour wählen würden wie immer. Jetzt stehen in
dieser alten Labour-Hochburg Nachwahlen zum Unterhaus an, weil der
Labourabgeordnete Mike Hill aufgrund von Anklagen sexueller Belästigung
zurückgetreten ist. Und nun hat wohl nicht nur Carol Moon die Seiten
gewechselt.
Es ist eine Schlüsselwahl für die britische Politik [2][nach der
Corona-Pandemie], die erste parlamentarische Nachwahl unter Premierminister
Boris Johnson und die erste auch für den [3][neuen Labour-Chef Keir
Starmer]. Beide sind im Wahlkampf dreimal hergekommen, Indiz für die hohe
Bedeutung Hartlepools für die beiden Parteichefs.
Jahrzehntelang war Hartlepool eine Labour-Hochburg. 2019 wurde es zur
Hochburg der „Brexit Party“ von Nigel Farage. Die holte aus dem Stand 26
Prozent, knapp hinter den Konservativen mit 29 Prozent. Das rettete Labour
wohl den Wahlkreis, obwohl die rote Partei von 52 auf 38 Prozent abstürzte.
Jetzt ist der Brexit vollzogen und nun schlägt die Stunde der
Konservativen. Ein Sieg der Tories in Hartlepool, wo es einst eine riesige
Stahlindustrie und große Werften gab, stünde als Zeichen der ultimativen
Erniedrigung Labours, entgegen den Hoffnungen Keir Starmers, die von Jeremy
Corbyn verlorenen alten Industrieregionen zurückzugewinnen, ja im Fall von
Hartlepool zu halten.
Labour ist in Hartlepool so traditionsreich, dass gleich drei ehemalige
Labourabgeordnete kandidieren, was eine Genossin vermuten lässt, sie
könnten absichtlich aufgestellt worden sein, um Labours Stimme zu spalten.
Offizieller Parteikandidat ist der Arzt Paul Williams, 48. Er verlor 2019
den benachbarten Wahlkreis Stockton South an die Tories. „Sie schicken uns
einen, der bereits woanders durchgefallen ist“, meckert David Jones, 67,
beim Bier im Garten des Rugbyklubs. „Wofür steht denn Labour heute
überhaupt noch?“, fragt sich sein Kumpel David Standing, 59. Alle in der
Runde hätten früher immer treu Labour gewählt. Und jetzt?
## Die Insel spaltet sich nach dem Brexit
Zur Wahl steht auch Thelma Walker, von 2017 bis 2019 Labourabgeordnete für
Colne Valley in Yorkshire. Hier in Hartlepool kandidiert sie nun für die
neue Northern Independence Party (NIP), ein Verein nordenglischer
Lokalpatrioten.
Brexit mag vorbei sein, doch nun spaltet sich die Insel selber, [4][nicht
nur in Schottland]. Walker predigt Fairness und Demokratie gegen das
politisch zentraliserteste Land Europas, wie sie sagt. Während
Parteimitglieder vor dem Pub mit der senkrecht-rot gestreiften Parteiflagge
auf goldenen Hintergrund posieren, die auf das angelsächische Königreich
Northumbria aus dem frühen Mittelalter zurückgeht, beschwichtigt Walker,
die NIP sei keine „schreckliche Nationalpartei“ und auch kein Sammelbecken
missmutiger Corbynistas, sondern „sozialdemokratisch“. Zum Parteiprogramm
gehört ein garantiertes Grundeinkommen.
Kleiner Schönheitsfehler: Die NIP hat vergessen, sich rechtzeitig für die
Wahl aufzustellen. Ihre Kandidatin steht als Unabhängige auf den
Wahlzetteln. Es sei alles sehr schnell gegangen, entschuldigt sich Walker.
Der dritte Labour-Exparlamentarier auf der Kandidatenliste ist der
ehemalige Sozialarbeiter Hilton Dawson, 67, in der Ära Blair Abgeordneter
für den nordwestenglischen Wahlkreis Lancaster & Wyre. Seit 2013 ist er bei
einer weiteren Lokalpartei: die North Eastern Party (NEP). Auch sie fordert
Föderalismus. „Ich bin unter allen Kandidat*innen der Erfahrenste und
stamme aus einer Familie, die seit hunderten Jahren im Northhumberland
lebte,“ sagt er.
Für den NEP-Kandidaten ist Dawson mit ihrer NIP eine Opportunistin. Die NEP
sei die wahre Vertretung der nördlichen Bevölkerung – sie hat in der Gegend
schon ein paar Kommunalwahlen gewonnen. „Im Vergleich mit den schottischen
Nationalisten haben wir in unseren sieben Jahre Existenz mehr erreicht als
die schottische SNP in ihren Anfangsjahren“, glaubt Dawson sogar, der beim
Reden kaum eine Pause macht. Wieso er nicht bei Labour geblieben ist? „Ich
und andere hatten versucht, auf die nördlichen Regionen zu verweisen, doch
Labour ist auf den zentralen Staatsapparat in Whitehall ausgerichtet“,
findet er.
Die Selbstbehauptung des Nordens – das ist ein Thema in diesem Wahlkampf,
und es treibt die Leute von Labour weg. „Schauen Sie sich die
Gemeindesteuern an, die wir hier in der Stadt zahlen müssen, sie sind höher
[5][als in London], mit einer viel ärmeren Bevölkerung,“ schimpft Carol
Moon in ihrer Metzgerei. Hartlepool zählt zu den benachteiligsten Städten
Englands. Derartiges führte zu Boris Johnsons Wahlversprechen des
„levelling up,“ des Angleichens der abgehängten nördlichen Regionen mit
großen Finanzspritzen an den Wohlstand des Süden. Es zählt der Anspruch,
dass jetzt bessere Zeiten kommen sollen.
Moon findet, mit Labour habe sich nichts verändert. Johnsons Regierung habe
jetzt aber das [6][Impfprogramm erfolgreich ausgerollt]. Sie will den
Tories eine Chance geben. Die hätten versprochen, in die Region zu
investieren. „Boris wird es in Ordnung bringen,“ versichert sie.
Ein paar Straßen weiter verkündet Tony Cunningham, 63, in seinem
Luftballongeschäft, dass er ebenfalls konservativ wählt. „Boris Johnson ist
der beste in einer schlechten Truppe.“ Von Unabhänigkeitsparteien hält
Cunningham nichts. „Wir sind britisch und miteinander als Ganzes
verbunden.“
## Eine Bushaltestelle ohne Bus
Kneipier Adam Gaines vom Rosie’s Pub an der Hafenpromenade meint zu wissen,
was die Leute hier wollen. Er kandidiert als Parteiloser. Würde er
gewinnen, würde er die Hälfte seines Abgeordnetengehalts an Hartlepools
Tafel spenden. Er will ein Crowdfunding für 50.000 Pfund, damit es in
Hartlepool wieder eine Notaufnahme im Ortskrankenhaus gibt. Die
Gemeindesteuer soll in den Ort zurückfließen, eine Universität muss her,
denn Student*innen brächten vieles mit sich, auch ein besseres
Nachtleben.
Gaines ist sauer, weil die großen Medienanstalten ihn nicht interviewen.
Hätten sie ihn gefragt, hätte er ihnen von der Bushaltestelle erzählt, an
der kein Bus mehr hält, oder vom geschlossenen Amtsgericht, oder wie die
Polizei sich weigert, abends die Leute festzunehmen, die seine Türsteher
festhalten, weil es dank der Kürzungen keine Arrestzellen für die Nacht
mehr gibt.
Hartlepool ist von Jahren der Sparpolitik schwer gebeutelt. Heute sieht es
auf den ersten Blick noch trostloser aus. Im Wahlkampf 2019 war das
Einkaufszentrum in der Stadtmitte noch gut besucht. Auf mehreren Etagen gab
es Second-Hand-Läden und Billigketten. 2021 haben viele der Läden
aufgegeben. Zwei Sicherheitsbeamte und eine Ladenverkäuferin bestätigen:
„All gone.“ Am südlichen Rand der Stadt kämpft Liberty Steel, das letzte
Überbleibsel der einst stolzen Stahlindustrie der Stadt, um das Überleben.
Menschen findet man nicht mehr beim Einkaufen, sondern in den Biergärten,
die seit einigen Wochen wieder geöffnet haben. Einige sind bereits um 14
Uhr stockbesoffen.
Die Wahl sei schon gelaufen, ist sich der 85-jährige Bill Watson sicher,
der im kleinen Supermarkt in seinem Wohnviertel gerade mit dem Fahrrad
seine Zeitung abgeholt hat. Er hat bereits per Briefwahl gewählt, und zwar
konservativ. „Diese Gegend hat immer Labour gewählt. Verändert hat sich
deswegen wenig.“ Die Gründe für seine Wahl auch bei ihm: das Impfprogramm
und Brexit. Und Ben Houchen, der konservative Regionalbürgermeister für
Teesside, der städtische Großraum, zu dem Hartlepool gehört.
Houchen habe sich dafür eingesetzt, dass der Hafen Teesides zum Freihafen
wurde, mit Steuervergünstigungen für Unternehmen. Auch andere erwähnen
Houchen lobend. Er habe den Regionalflughafen wieder in öffentlichen Besitz
gebracht. Obwohl er derzeit wegen der Pandemie leer ist und nur Inlandflüge
im Angebot hat, werben Plakate bereits mit Flügen nach Mallorca und New
York. Es ist wie alles hier die Hoffnung auf Besseres.
## Verzweifelter Griff in die Patriotenkiste
Die Labour-Wahlzentrale im Zentrum der Stadt ist wenige Tage vor der Wahl
stickig und voller Wahlhelfer*innen. Abgepackte Tüten Wahlmaterial zum
Mitnehmen warten auf Freiwillige, die damit in alle Teile Hartlepools
marschieren. Auf einigen prangt die rot-weiße Englandfahne auf der
Rückseite, über dem Parteibüro, wo in anderen Zeiten vielleicht eine rote
Labourfahne gehangen hätte, weht der britische Union Jack. Nicht wenige aus
allen Lagern amüsieren sich über diese Versuche Labours, den Konservativen
in Sachen Patriotismus Konkurrenz zu machen. Es macht einen leicht
verzweifelten Eindruck.
Die 63-jährige Labour-Genossin Karen Oliver weiß, wie sich Niederlagen
anfühlen. Sie verlor 2018 bei den letzten Kommunalwahlen als
Labourkandidatin für einen Wahlbezirk in Hartlepool gegen einen
unabhängigen Kandidaten, dessen Hauptthema die Honorare der
Kommunalpolitiker*innen war. Diesmal versucht sie es nochmal in
einem anderen Innenstadtbezirk.
Selbst wohnt sie in der ruhigen grünen Westparkgegend der Stadt, mit
gepflegten Gärten und Rasen. Hier vor der Haustür erklärt sie, warum die
Leute Labour wählen sollten: Die Stadt bräuchte Pflegedienste, Arbeit,
Drogenhilfe, Seelsorge, Jugendclubs. „Die Konservativen bringen viele
Fehlinformationen unter die Leute und schieben die Auswirkungen der
Sparpolitik auf uns“, erklärt sie. „Wir werden sehen, was am Donnerstag
geschieht.“. Es hört sich nicht siegesgewiss an.
6 May 2021
## LINKS
[1] /Wahl-in-Grossbritannien/!5649608
[2] /Coronamassnahmen-in-Grossbritannien/!5764179
[3] /Grossbritannien-und-die-Labour-Partei/!5695300
[4] /Unabhaengigkeitsbewegung-in-Schottland/!5762910
[5] /Vor-der-Wahl-des-Buergermeisters/!5765454
[6] /Covid-19-in-Grossbritannien/!5750297
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
## TAGS
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