| # taz.de -- 100. Geburtstag Sophie Scholl: Eine deutsche Geschichte | |
| > Sophie Scholl, die Widerstandkämpferin gegen die Nazis, wird verehrt wie | |
| > eine Heilige. Doch wie wurde aus der Studentin und Gottsucherin eine | |
| > Ikone? | |
| Bild: Im Mittelpunkt: Sophie Scholl, umgeben von ihrem Bruder Hans (li.) und Mi… | |
| Zum hundertsten Geburtstag von Sophie Scholl am 9. Mai 2021 erscheint eine | |
| 20-Euro-Sammlermünze aus Silber. Erstaunlich, [1][was das | |
| Finanzministerium im Bild eines pummeligen Mädchens im Kleid mit | |
| Rüschenkragen und herabhängenden Haarsträhnen erblickt]: „Die Bildseite | |
| zeigt ein Porträt von Sophie Scholl, das ihre besondere Persönlichkeit | |
| sichtbar macht. Die junge Frau signalisiert schon durch ihre äußere | |
| Erscheinung geistige Unabhängigkeit, Klarheit und Weisheit und die Kraft, | |
| zu ihren humanitären Prinzipien auch in höchster Lebensgefahr zu stehen.“ | |
| Nur wer bereits von der Außergewöhnlichkeit der Porträtierten überzeugt | |
| ist, kann das auf der Münze erkennen. Dabei entspricht die charakterliche | |
| Beschreibung Sophie Scholls durchaus ihrem Öffentlichkeitsbild. Man verehrt | |
| sie wie eine Heilige. Doch wie wurde aus der Studentin, Gottsucherin und | |
| Freiheitskämpferin eine Ikone, ein Kultbild? | |
| Sophie Scholl gehörte mit ihrem Bruder Hans zu einer sechsköpfigen | |
| Widerstandsgruppe, die 1942/43 in München und anderen Großstädten mit sechs | |
| Flugblättern gegen Hitler kämpfte. Sie riefen im Namen der Freiheit zu | |
| Widerstand, Sabotage und Umsturz auf und beriefen sich dabei auf ein | |
| humanistisches und christliches Weltbild. | |
| Die 21-jährige Studentin war die Jüngste und einzige Frau neben vier | |
| Studenten und einem Professor. Sie wurden im Laufe des Jahres 1943 | |
| hingerichtet. Nach dem Krieg nannte man die Freiheitskämpfer „Weiße Rose“, | |
| weil die ersten vier Flugblätter so überschrieben waren. Im Westen | |
| Deutschlands sah man in der Gruppe zunächst naive Idealisten, im Osten | |
| sozialistische Antifaschisten. | |
| 1946 veröffentlichte die Schriftstellerin Ricarda Huch in der Hessischen | |
| Zeitung einen Aufruf. Unter dem Titel „Für die Märtyrer der Freiheit“ bat | |
| sie, ihr Briefe und Erinnerungen an den Widerstand im Dritten Reich zur | |
| Verfügung zu stellen, denn sie wolle ein „Gedenkbuch“ zu Ehren dieser | |
| „Heldenmütigen“ verfassen. Inge Scholl, die Älteste der Scholl-Kinder, | |
| antwortete der Dichterin und kündigte einen Beitrag über ihre Geschwister | |
| an. | |
| Sie hoffte, Huchs Werk werde „ein starkes Gegengewicht bedeuten gegenüber | |
| all dem Unrat, der schon über die Lieben publiziert wurde“. Inge Scholl | |
| hatte schon früh den Kampf um die Deutungshoheit der Weißen Rose | |
| aufgenommen. Sie war zeitlebens fest davon überzeugt, alleine zu wissen, | |
| wie die Dinge „wirklich“ waren und dass ausschließlich ihre familiäre | |
| Interpretation der beteiligten Personen und ihrer Taten richtig sei. | |
| Im März 1947 sandte Scholl die „Biographischen Notizen“ an Huch. Es ist die | |
| erste ausführliche Zusammenfassung und Interpretation des Lebens von Hans | |
| und Sophie aus der Sicht der Schwester. Sie will zeigen, wie es zum | |
| Widerstand 1942/43 kam. Dabei muss man sich klarmachen, dass sie damit auch | |
| der schmerzhaften Frage nachging, warum sie von ihren Geschwistern nicht in | |
| den Widerstand miteinbezogen wurde, sogar gänzlich ahnungslos war. | |
| Die 49 Seiten sind ein hochemotionaler, psychologischer Erklärungsversuch, | |
| eine Rückprojektion und Selbstkonstruktion, eine ahistorische Überhöhung. | |
| Die „Notizen“ waren der Vorläufer zu ihrem fünf Jahre später publizierten | |
| Buch „Die Weiße Rose“. | |
| Inge Scholl verbreitete Sophie Scholls Ruf, bereits als Kind etwas | |
| Besonderes gewesen zu sein. Sie habe eine „ungewöhnliche Reife“ besessen, | |
| „etwas ausgesprochen Eigenes und Ursprüngliches“, ein „eigenartiger Char… | |
| habe sie ausgezeichnet, der „in keinem Widerspruch zu ihrer wundersamen, | |
| unnennbaren Kindlichkeit“ stand. | |
| Nicht nur die Kindheit Sophies wird von ihr überzeichnet, auch die Zeit als | |
| Jugendliche und junge Erwachsene. Inge Scholl marginalisiert die | |
| Hitlerjugendjahre ihrer Schwester unzutreffend als „kurze Episode“. In | |
| Wirklichkeit war Sophie sieben Jahre lang – auch in leitender Position – | |
| aktives Mitglied der Naziorganisation. | |
| Sozialismus stand nicht nur im Namen der NSDAP, er war Programm und sollte | |
| in der Volksgemeinschaft verwirklicht werden. Sophie versuchte, das in | |
| ihrer Gruppe des Bundes Deutscher Mädel (BDM) zu realisieren, unter | |
| anderem, indem der mitgebrachte Proviant zufällig verteilt wurde. Inge | |
| Scholl schreibt: „Ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit war sowohl Hans | |
| als auch Sophie zutiefst eigen.“ | |
| Für Inge Scholl war alles – Sophies Kindheit und Jugend – eine Vorbereitung | |
| auf die heroischen Widerstandswochen 1942/43: „All dies Suchen im | |
| Geistigen, dieser Gang durch den Garten der Kultur, ist wie ein | |
| allmähliches Vorbereiten – so erscheint es mir heute mit dem Blick des | |
| Abstandes – auf eine Entwicklung, die mit dem Beginn des Krieges sich | |
| anbahnte.“ | |
| Die Schwester hat den Eindruck, als sammle sich alle Welt und Weisheit der | |
| europäischen Kultur in Hans und Sophie, werde durch sie wieder geboren und | |
| erstrahle in neuem Glanz. Sie schreibt: „Wie ein voller, überfliessender | |
| Becher drängte sich das Geistige an ihre Lippen. Es war, als drängte sich | |
| das ganze Abendland in sie ein, um in ihrem strahlenden Tod mitzuerstrahlen | |
| und aufs Neue in zarter, neuer Weise lebendig zu werden.“ | |
| Auf den letzten Seiten ihrer „Biographischen Notizen“ stilisiert sie sich | |
| selbst zur Widerständlerin. Sie reiht sich ein in den Kampf ihrer | |
| Geschwister und erweckt den Anschein, von Anfang an dabei gewesen zu sein: | |
| „Das [Verbrecherische] steigerte sich und trieb uns schliesslich in einen | |
| bewußten passiven Widerstand hinein. […] Las man es uns nicht vom Gesicht, | |
| von den Augen ab, dass wir anders waren, dass wir ihre Todfeinde sein | |
| mussten, weil uns unser ganzes Wesen dazu trieb, unsere ganze Einsicht und | |
| alles, was uns teuer und wert war?“ | |
| Inge Scholl vollendet die ikonografische Lebenstafel ihrer Schwester: Im | |
| Gericht habe sie den Nazi-Richtern ihre Verachtung ins Gesicht | |
| geschleudert. In den letzten Stunden habe sie „immerzu“ strahlend | |
| gelächelt, „als schaue sie in die Sonne“. Sie sei „aufrecht zum Schafott… | |
| gegangen, „ohne mit der Wimper zu zucken und noch einen Gruss an den | |
| unmittelbar folgenden Bruder auf den Lippen“. | |
| Und sie sagt, wie ihr Gemälde zu verstehen ist: Diese „fast selig zu | |
| nennende Heiterkeit im Angesicht des Todes“ bedeute „in keiner Weise, dass | |
| sie etwa das Leben missachtet hätten. Im Gegenteil, sie liebten es und | |
| nahmen es hin mit derselben Inbrunst, mit der sie sich im Tode | |
| verschenkten. Aber sie sahen seinen letzten Sinn in einer Seligkeit, die | |
| jenseits aller Zerstörung ist und der sie entgegengingen im Glauben an | |
| Christus den Sohn Gottes“. Woher Inge Scholl das alles wusste, bleibt | |
| ungeklärt, denn sie war nicht im Widerstand, Gericht und Gefängnis. | |
| Die Geschichte der Weißen Rose, nicht nur Sophie Scholls, wurde von | |
| traumatisierten Familienangehörigen erzählt und gedeutet. Eltern und | |
| Geschwister, Frauen und Kinder, Freundinnen und Freunde blieben | |
| konsterniert zurück, niemand war in den Widerstand eingeweiht. | |
| Inge Scholl versuchte, diese psychische Erschütterung zu lindern, indem sie | |
| sich am zweiten Todestag ihrer Geschwister 1945 erneut taufen ließ – | |
| diesmal römisch-katholisch, und sie stellte ihr Leben in den Dienst der | |
| Erzählung von Hans und Sophie. Sie erhob ihre Stimme – was sie während der | |
| NS-Zeit nicht getan hatte – gegen die Mehrheitsmeinung der Mitläufer und | |
| Täter. | |
| In diesem Kampf bestimmte sie, welches historische Material veröffentlicht | |
| wurde und was unter Verschluss blieb. Bis heute unterliegen einige | |
| Materialien aus dem Nachlass von Inge Aicher-Scholl, wie sie später hieß, | |
| im Institut für Zeitgeschichte München einer familiären Zugangskontrolle. | |
| In Westdeutschland hielt man noch in den sechziger Jahren – trotz Inge | |
| Scholls unermüdlichem Einsatz – die Mitglieder der Weißen Rose für | |
| unbedarfte Schwärmer. Es überwog die Ansicht, dass sie eines mit Sicherheit | |
| nicht waren: Vorbilder. In Ostdeutschland verlief die Anerkennung | |
| wesentlich schneller, sie war aber mit einer Mythenbildung eigener Art | |
| verbunden: Dort erkor man Hans und Sophie zu antifaschistischen | |
| Sozialisten, deren Schicksal Thema im Schulunterricht war. | |
| Bereits 1949, noch vor Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, | |
| erhielt im sächsischen Freiberg auf Beschluss der | |
| Stadtverordnetenversammlung die humanistische Lateinschule den Namen | |
| „Geschwister-Scholl-Gymnasium“. Diese Vorreiterrolle war der DDR nicht zu | |
| nehmen, aber in der Quantität übertraf der Westen den Osten bald bei | |
| Weitem: Hunderte von Institutionen – von Kindertagesstätten, Schulen, einem | |
| EU-Parlamentsgebäude in Brüssel bis zur Seniorenparkanlage – schmücken sich | |
| mit Sophie Scholls Namen. | |
| Wie sie zur National-Ikone, dem Gesicht eines besseren Deutschland wurde, | |
| lässt sich an den Briefmarken der beiden deutschen Staaten ablesen. [2][Die | |
| Deutsche Post der DDR veröffentlichte 1961 das erste Wertzeichen zu ihren | |
| Ehren.] Die 25(+10)-Pfennig-Marke zeigt vor blauem Hintergrund Zeichnungen | |
| der scheu nach unten blickenden, kindlichen Sophie neben einem entschieden | |
| aufwärts schauenden, angejahrten Hans. Sie scheint 13, er 40 Jahre alt zu | |
| sein. | |
| Die westdeutsche Bundespost veröffentlichte 1964 zum zwanzigsten Jahrestag | |
| des Attentats gegen Hitler einen Briefmarkenblock mit acht | |
| Widerstandskämpfern. Vor graublauem Hintergrund versammelte man dunkle | |
| Zeichnungen von drei Militärs (Beck, Moltke, Stauffenberg), zwei | |
| Kirchenvertretern (Bonhoeffer, Delp) und zwei Politikern (Goerdeler, | |
| Leuschner). Auch eine Frau sollte geehrt werden. | |
| Man wählte aber keine der Hingerichteten des Attentats wie Ehrengard | |
| Frank-Schultz, Elisabeth Charlotte Gloeden oder Elisabeth Kuznitzky, | |
| sondern Sophie Scholl, die ein Jahr und fünf Monate vor dem 20. Juli 1944 | |
| ermordet worden war. Als Vorlage für ihr realistisches Porträt wurde ein | |
| Passfoto von 1942 genommen. | |
| Später, im Jahr 1991, brachte die Bundespost eine Marke mit einem | |
| Einzelporträt Sophie Scholls heraus. Die Blaustiftzeichnung veränderte die | |
| Fotovorlage von 1942. Der schmalere Mund ist fest geschlossen, der Kopf | |
| selbstbewusst leicht angehoben. Auf dem Foto wirkt Sophie eher depressiv, | |
| auf der Marke offensiv. Wer diese Porträtzeichnung sah, sollte in ihr | |
| sofort die Widerständlerin erkennen. Sieht es auf der DDR-Marke von 1961 so | |
| aus, als spiele Sophie noch mit Puppen, hat sie in der BRD-Version von 1991 | |
| bereits entschlossen die Tat vor Augen – oder hinter sich. | |
| Drei Spielfilme haben das Bild der Widerstandsgruppe in der breiten | |
| Öffentlichkeit enorm beeinflusst: „Die weiße Rose“ von Michael Verhoeven | |
| (1982), „Fünf letzte Tage“ von Percy Adlon (1982) und „Sophie Scholl –… | |
| letzten Tage“ von Marc Rothemund (2005). Alle rücken die junge Studentin in | |
| den Mittelpunkt. Sie erscheint als die zentrale, tragische Figur der | |
| Münchner Revolte. | |
| Dieses unzutreffende Bild ist so dominant, dass 2019 Bundespräsident | |
| Frank-Walter Steinmeier am Gedenktag des 20. Juli 1944 an das „Schicksal | |
| der Gruppe um Sophie Scholl“ erinnerte. Das widerspricht klar den | |
| geschichtlichen Tatsachen: Die treibende Kraft, der kreative Kopf des | |
| Münchner Widerstands, war eindeutig Hans Scholl. | |
| Die fälschlicherweise hervorgehobene Rolle Sophie Scholls ist auch in der | |
| bildnerischen Erinnerungskultur präsent: Seit 2003 wird in der Gedenkstätte | |
| bedeutender Deutscher, der Walhalla bei Regensburg, aus dem Münchner Kreis | |
| allein Sophie Scholl [3][mit einer Marmorbüste geehrt]. Nur von ihr gibt es | |
| seit 2005 zudem – neben einer abstrakten Gruppe – eine personalisierte | |
| Bronzebüste im Lichthof der Münchner Universität, durch den die Flugblätter | |
| flatterten. | |
| Im Verlangen nach Anekdoten wurden im Laufe der Jahre Legenden um Sophie | |
| gerankt. Die dauerhaftesten sind: Sophie habe sich für ihre jüdische | |
| Klassenkameradin Luise Nathan vehement eingesetzt. Sie sei im Herbst 1937 | |
| von der Gestapo verhaftet worden. Als Pazifistin habe sie sich schon früh | |
| gegen den Nationalsozialismus gewandt, sei Verfasserin der Flugblätter und | |
| die zentrale Gestalt der Weißen Rose. | |
| Keine dieser erzählerischen Ausschmückungen ist haltbar. Luise Nathans | |
| Tochter berichtet, ihre Mutter habe stets bestritten, näheren Kontakt zur | |
| nazibegeisterten Sophie gehabt zu haben. Sophies Schwester Elisabeth | |
| versichert, lediglich die Geschwister Werner und Inge seien wegen | |
| „bündischer Umtriebe“ zum Verhör nach Stuttgart abtransportiert worden; d… | |
| sagt auch Sophie im Gestapo-Protokoll. | |
| Die Mitglieder der Weißen Rose waren keine Pazifisten. Professor Huber war | |
| so sehr vom Militär begeistert, dass er sich trotz gravierender Behinderung | |
| mehrfach – vergeblich – freiwillig meldete, um Soldat zu sein. Sophie | |
| lehnte wohl den Krieg, nicht aber Gewalt ab: Sie forderte, die Franzosen | |
| sollten Paris bis zum letzten Schuss verteidigen, da es um die Ehre gehe; | |
| sie begrüßte die Gewalt der SS in Amsterdam, weil dadurch die Fronten | |
| geklärt würden, und sie selbst wäre bereit gewesen, Hitler zu erschießen. | |
| Sie stimmte mit Hans Scholl und Alexander Schmorell überein, die in den | |
| Flugblättern formulierten, die braune Horde Hitlers müsse angegriffen und | |
| ausgerottet werden. Im Dezember 1942 schrieb Hans, man müsse gegen die | |
| ausgebrochenen „wilden Tiere“ zur Waffe greifen, und bei den nächtlichen | |
| Graffitiaktionen hatte er eine geladene Armeepistole dabei. | |
| Sophie war also weder Pazifistin, noch hat sie sich früh gegen den | |
| Nationalsozialismus eingesetzt. Im Gegenteil, sie war viele Jahre ein | |
| fanatisches Hitlermädchen. Klassenkameradinnen beschrieben die 16-Jährige | |
| als gefürchtete „150-prozentige Anhängerin des Nazi-Regimes“. Sie blieb | |
| freiwillig über das achtzehnte Lebensjahr hinaus Mitglied im BDM, besuchte | |
| weiterhin regelmäßig Heimabende und ermunterte noch 1941 – ein Jahr nach | |
| ihrem Abitur – eine Freundin, es ihr gleichzutun. | |
| Sophie Scholls Umdenken begann, als sie 1941/42 ein halbes Jahr lang in | |
| einem Kinderhort in Blumberg im Schwarzwald einen „Kriegshilfsdienst“ | |
| ableisten musste. Der Ort war ein äußerst konfliktträchtiger sozialer | |
| Brennpunkt. Seit Mitte der dreißiger Jahre wollte die | |
| nationalsozialistische Autarkie- und Rüstungspolitik – ohne Rücksicht auf | |
| Anwohner und Natur – aus dem landwirtschaftlich geprägten Blumberg eine | |
| Bergarbeiterstadt machen. | |
| Zunächst setzte man auf Freiwilligkeit, aber bald wurden Verschleppte, | |
| Kriegsgefangene und Straftäter genötigt, ohne dass es eine ausreichende | |
| Infrastruktur für sie und ihre Familien gab. 1941 begann der Abstieg, da | |
| durch die Kriegseroberungen effizientere Abbaugebiete zur Verfügung | |
| standen. Im April 1942 wurde die Erzförderung eingestellt. | |
| Sophie Scholl versah ihren Dienst in der letzten Phase des Niedergangs. Es | |
| ist kaum vorstellbar, dass sie die sozialen Nöte nicht wahrgenommen hat. | |
| Sie erhielt täglich Anschauungsunterricht über das Versagen und die | |
| Brutalität der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik. Das tilgte | |
| gewiss die Sympathien, die sie noch für die Idee des „Dritten Reiches“ | |
| hegte, sehr wahrscheinlich verstärkte es sogar ihre Ablehnung des Regimes. | |
| Texte dazu sind spärlich, aber ihr Handeln spricht eine deutliche Sprache: | |
| Zwei Monate nach Beendigung ihres Kriegshilfsdienstes lieh sie sich von | |
| ihrem Freund Fritz Hartnagel 1.000 Reichsmark „für einen guten Zweck“ und | |
| bat ihn um einen Bezugsschein für einen Vervielfältigungsapparat. | |
| Vermutlich kaufte sie mit dem Geld eine Kopiermaschine und Druck- und | |
| Versandmaterialien. | |
| Es liegt nahe, die Zeit in Blumberg als einen wichtigen Wendepunkt ihres | |
| Denkens zu sehen. Da begann sich ihr Widerwillen in Widerhandeln zu | |
| wandeln, und das nationalsozialistische Hitlermädel Sophie Scholl wurde zur | |
| antitotalitaristischen Freiheitskämpferin. | |
| Ihr Bruder Hans spielte dabei die entscheidende Rolle. Auch er war zunächst | |
| ein nationalsozialistischer Fahnenträger, der ohne Weiteres ein SS-Mann | |
| hätte werden können. Doch die staatliche Verfolgung aufgrund seiner Arbeit | |
| mit Jungen außerhalb der Hitlerjugend und seine lange homosexuelle „große | |
| Liebe“ zu einem Jugendlichen seiner Gruppe entfremdeten ihn vom | |
| Nationalsozialismus. | |
| In Frankreich und Russland erlebte er als Soldat und Medizinstudent die | |
| Gräuel des Kriegs. Mit seinem engsten und „einzigen Freund“ Alexander | |
| Schmorell schrieb er Mitte 1942 die ersten vier Flugblätter der Weißen Rose | |
| und rief zum Widerstand auf. | |
| Von den ersten vier Flugblättern erfuhr Sophie erst im Nachhinein. 65 | |
| Prozent der sechs Flugschriften sind von Hans Scholl, die übrigen Teile | |
| verfassten Alexander Schmorell und Kurt Huber. Ohne Hans Scholl hätte es | |
| die Weiße Rose nicht gegeben, aber ohne Sophie nicht die Ausweitung der | |
| Flugblattaktionen über München hinaus Anfang 1943. Da war sie die | |
| Organisatorin des Widerstands. | |
| Die Legendengirlanden um Sophie sind Ausdruck des Wunsches, die | |
| Besonderheit ihres Handelns noch zu steigern – als ob nicht das, was die | |
| junge Frau zuletzt tat, genügte. Der Mythos verschleierte die Wirklichkeit, | |
| durch die Entfernung von der Realität wurde die Person zur entrückten | |
| Heiligen. | |
| Diese Darstellung stillte eine latente Sehnsucht, denn Deutschland bestand | |
| ganz überwiegend aus Mitwissern, Mitläufern und Mittätern des Naziregimes, | |
| und wer hätte im Nachhinein nicht gerne eine Schwester wie Sophie in der | |
| Familie gehabt? Der Heroismus um sie, den „Ausnahmemenschen“, befreite von | |
| der Frage, ob man selber, ob Eltern oder Großeltern, nicht auch anders | |
| hätten handeln können. Bei der Überbewertung Sophie Scholls für den | |
| Widerstand war sicher auch das Bedürfnis eines Geschlechterproporzes | |
| wichtig. | |
| Es gab durchaus Kritik an diesem öffentlichen Erinnerungskult. 1968 | |
| veröffentlichte Christian Petry die erste wissenschaftliche Monografie zur | |
| Weißen Rose. Seine auf den damals bekannten Fakten beruhende, | |
| historisierende Untersuchung wurde vehement bekämpft. Die Familie fürchtete | |
| eine Enteignung der privaten Geschichte durch „unfähige Historiker“ und | |
| fühlte sich aufgrund der Blutsbande moralisch im Recht, das Erbe der Weißen | |
| Rose allein sachgemäß zu wahren. Doch zum ersten Mal schien es, als könnte | |
| sie das Monopol der Interpretation verlieren. | |
| Als Sönke Zankel die Methode und Ergebnisse von Petry aufgriff und 2005 | |
| seine umfangreiche Dissertation vorlegte – zum | |
| „[Hans]Scholl-Schmorell-Kreis“, wie er korrekt formulierte – waren die | |
| Reaktionen ganz überwiegend negativ: „absurd“, „abenteuerlich“, „biz… | |
| hieß es, man glaubte, es werde ein „Kreuzzug“ gegen die Widerstandsgruppe | |
| geführt. Kaum ein Rezensent war bereit, Zankels radikaler Entmythisierung | |
| der Gruppe zu folgen. | |
| Das hat sich geändert – auch aufgrund der exzellenten Biografie von Barbara | |
| Beuys über Sophie Scholl. Sie wäre ohne den Nachlass Inge Scholls im | |
| Institut für Zeitgeschichte, aber auch ohne die Forschungsergebnisse | |
| Zankels nicht möglich gewesen. Diese Arbeiten machen deutlich, dass nach | |
| einer historisch-kritischen Analyse, nach einer Trennung zwischen Fakt und | |
| Fiktion, Sophie Scholl erst als selbstbewusste Frau ein glaubwürdiges | |
| Vorbild ist. | |
| Trotzdem ist in der Öffentlichkeit nach wie vor das von Inge Scholl in die | |
| Welt gesetzte Bild der Konsensheiligen Sophie Scholl vorherrschend: das der | |
| emanzipierten jungen Frau, an der nichts Unvorteilhaftes, Anstößiges, | |
| Widersprüchliches war. So geglättet dient sie als Projektionsfläche für | |
| sehr viele, von Carola Rackete, die im Mittelmeer Flüchtlinge rettete und | |
| Sophie heute bei der „Antifa“ sieht, bis hin zu Jana aus Kassel, die gegen | |
| Coronamaßnahmen demonstrierte und sie bei den „Querdenkern“ wähnt; beide | |
| beriefen sich ausdrücklich auf Sophie Scholl. | |
| Die bis heute immer wieder gedruckten Fotos der androgyn-burschikosen Maid | |
| mit dem kessen asymmetrischen Kurzhaarschnitt verstärken den Eindruck einer | |
| jugendlichen Opposition. Die graue 80-Cent-Briefmarke der Deutschen Post | |
| von 2021 übernimmt das burschikose Profilfoto von 1938, das auch der | |
| Gedenkmünze zugrunde liegt. Dazu ist in Kleinstschrift ein Zitat von | |
| Sophies Zellenkameradin Else Gebel gesetzt. | |
| Nach ihr soll die Mitgefangene am 22. Februar 1943 gesagt haben: „So ein | |
| herrlicher sonniger Tag, und ich muss gehen. […] Was liegt an meinem Tod, | |
| wenn durch unser Handeln tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt | |
| werden.“ Bezeichnenderweise ist auf dem Wertzeichen das | |
| brutal-aussichtslose „muss“ durch das gefälligere „soll“ ersetzt. Und … | |
| abgebildeten provozierenden Bubikopf trug Sophie schon Jahre vor dem | |
| Widerstand nicht mehr. Aber in ihrer strahlend-fröhlichen Jugendlichkeit | |
| ist sie viel einfacher zu verehren. | |
| Wer die Widerstandsfrau sehen will, muss die Aufnahmen aus den Jahren | |
| 1942/43 betrachten: da ist sie rundlicher, trägt ihr Haar streng | |
| gescheitelt, fast schulterlang, blickt ernst und wirkt bedrückt – ihre | |
| Unbekümmertheit ist dahin, aber ihre Nachdenklichkeit und Entschlossenheit | |
| sind gewachsen. | |
| Die Tagebucheintragungen und Briefe Sophie Scholls zeigen sie nicht als | |
| Fiktion, sondern in ihrer ganzen Ambivalenz als verletzbaren und | |
| verletzenden Menschen: mit- und zartfühlend, spirituell, um Glauben und | |
| Liebe ringend, unsicher, zweifelnd, aber auch willkürlich, unausstehlich, | |
| gehemmt, „schwankend zwischen Lust und Traurigkeit“, wie sie notierte. | |
| Eines ihrer Tagebuchhefte begann sie mit einem Gedicht Matthias Claudius’ | |
| voller überschäumender Lebenslust: „Heute will ich fröhlich, fröhlich sei… | |
| / keine Weis und keine Sitte hören; / will mich wälzen, und für Freude | |
| schrein, / und der König soll mir das nicht wehren.“ Auf die letzte Seite | |
| desselben Diariums notierte sie ein Jesuswort über Lebenstraurigkeit und | |
| Lebensmut, das die entgegengesetzte Grenze ihrer Emotionsskala markierte: | |
| „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt | |
| überwunden. Joh. 16,33“. | |
| Sophie Scholl ist aufgrund ihrer letzten Taten, nicht ihres kurzen Lebens, | |
| eine außergewöhnliche, bewundernswerte Frau. Hoch zu achten ist, dass sie | |
| nach Jahren des Irrwegs im November 1942 fragt, ob sie bisher geträumt hat, | |
| und erkennt: „Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht.“ | |
| Sie konnte umkehren, ihren Sinn ändern, eine Denkwende vollziehen – | |
| Fähigkeiten, die auch heute dringend gebraucht werden. Sie handelte nach | |
| ihrer Überzeugung und ging trotz der Gefahr in den Widerstand. | |
| In den letzten Monaten ihres Lebens war Sophie Scholl eine Kämpferin für | |
| Mitmenschlichkeit, Glaubensmut und Zivilcourage. In diesem Sinne ist sie | |
| ein Vor- und Leitbild, aber sie eignet sich nicht als Kult- und | |
| Heiligenbild. Denn sie war mehr als das. | |
| Robert M. Zoske (68) ist evangelischer Theologe und Historiker. Bis 2017 | |
| arbeitete er als Pastor in Norddeutschland. 2014wurde er mit einer Arbeit | |
| über Hans Scholl promoviert. 2018 erschien die Biografie „Flamme sein! Hans | |
| Scholl und die Weiße Rose“ (C.H.Beck, München), zwei Jahre später „Sophie | |
| Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“, Propyläen, | |
| Berlin. | |
| 2 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Briefm… | |
| [2] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Geschwister_Scholl_stamp,_GDR,_1961… | |
| [3] https://www.spiegel.de/politik/weisse-rose-in-walhalla-a-0f086b87-0002-0001… | |
| ## AUTOREN | |
| Robert M. Zoske | |
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