# taz.de -- Mietendeckel-Aus und Mietnachzahlungen: Die menschliche Gesellschaft | |
> Der Berliner Mietendeckel wurde gekippt. Der Senat hat deshalb | |
> finanzielle Hilfen für Mietnachzahlung beschlossen. Warum das richtig | |
> ist. | |
Bild: Protest gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel a… | |
Ginge es nach dem Aus für den Mietendeckel um pure Logik und | |
Eigenverantwortung, dann könnte sich der rot-rot-grüne Senat die am | |
Dienstag beschlossene, vorerst 10 Millionen Euro schwere | |
„Sicher-wohnen-Hilfe“ sparen. Diese Darlehen – aus denen auch | |
rückzahlungsfreie Zuschüsse werden können –, wären nämlich nicht nötig, | |
wenn alle, die nun die geminderte Miete nachzahlen müssen, sich an die | |
Mahnung von Senat und Mieterschützern gehalten hätten: Das eingesparte Geld | |
vorerst auf keinen Fall ausgeben, sondern bis zu einer abschließenden | |
Klärung am Verfassungsgericht auf die Seite legen. | |
Opposition und sonstige Kritiker liegen nämlich falsch, wenn sie dem Senat | |
vorhalten, er habe die Mieter in die Irre geführt und sei deshalb in der | |
Pflicht zu helfen. Denn mantramäßig haben Koalitionspolitiker wiederholt, | |
man betrete mit dem Mietendeckel juristisches Neuland, man könne nichts | |
garantieren und man solle deshalb vorsorgen. | |
Das haben nach Schätzung des Senats aber so viele Haushalte nicht getan, | |
dass nun nach selbiger Schätzung rund 40.000 Mieter Probleme haben, die | |
geminderte Miete zurückzahlen. Laut Bausenator Sebastian Scheel von der | |
Linkspartei liegt das daran, dass mancher zwar nicht wohngeldberechtigt | |
ist, sich aber die Miete „vom Kühlschrank abgespart und den nun wieder | |
gefüllt hatte“. Fällig soll diese Nachzahlung auch ohne besondere | |
Aufforderung bereits mit der Maimiete sein, auch wenn das Urteil des | |
Bundesverfassungsgerichts erst neun Tage alt ist. | |
In einem marktradikalen Land, im oft zitierten Manchesterkapitalismus, | |
würde nun gelten: selbst schuld, dann seht mal zu, wie ihr aus der Misere | |
wieder rauskommt. Und natürlich wirkt das Ganze auch ein bisschen | |
ungerecht: Wer sich an die Sparmahnung gehalten hat, sich nicht, um in | |
Scheels Bild zu bleiben, den Kühlschrank gefüllt hat und nun aus eigener | |
Kraft nachzahlen kann, mag sich fragen, warum andere fürs Geldausgeben auch | |
noch belohnt werden. | |
## Gute Sozialpolitik fragt nicht nach Schuld | |
Dieser Konflikt ist uralt: Schon in der Bibel, im Gleichnis vom verlorenen | |
Sohn, fragt sich der daheimgebliebene arbeitsame Sohn, warum der Vater | |
seinem verarmt heimkehrenden Bruder, der sich abgewandt und alles verprasst | |
hat, nun auch noch ein Festmahl bereitet, während er nie auch nur eine | |
kleine Feier spendiert bekam. | |
Gute Sozialpolitik aber fragt nicht nach Schuld. Hilfsleistungen, Wohngeld, | |
diverse sonstige Unterstützungsleistungen bekommt grundsätzlich nicht nur, | |
wer unverschuldet und nur aus Pech und ungünstiger Umstände wegen Hilfe | |
braucht. Einschränkungen gibt es, aber eher geringe – etwa dass jemand, der | |
ohne wichtigen Grund seinen Job kündigt, erst nach drei Monaten | |
Arbeitslosengeld bekommt. Ob einer in der Schule oder in der Ausbildung | |
fleißig war oder nicht, und wie weit jemand sein Schicksal in der Hand | |
hatte, ist nachrangig. | |
Das Ganze ist ja auch alternativlos, wenn man Menschen nicht dem Untergang | |
preisgeben will. Es zeichnet eine menschliche Gesellschaft aus, | |
bedingungslos zu helfen. Ein großes Wort dafür ist Nächstenliebe oder | |
Barmherzigkeit. Welche Stadt könnte das mehr beherzigen als die, in der | |
diese Haltung mit ihrem französischen Namen – Charité – seit fast 300 | |
Jahren mittendrin fest in Stein gemauert ist. | |
24 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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