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# taz.de -- Aus für Livestream-App: Tschüss, Periscope!
> Ende des Monats geht die Livestream-App Periscope vom Netz. Mit dieser
> hatte unser Autor Tausende Menschen mit zu Protesten genommen. Ein
> Nachruf.
Bild: Proteste um den G20-Gipfel 2017 in Hamburg
Die Wahrheit ist: Ich werde nicht weinen, aber schnaufen und schnuffen,
denn sie war mir stets eine treue Begleiterin und schön war es auch. Wenn
eine Ära zu Ende geht, Periscope, dann geht eine Ära zu Ende. Tschüss, App,
ich werde dich vermissen. Sicher, es war nicht die erste App ihrer Art und
es wird auch nicht die letzte sein und doch war Periscope für den deutschen
Live-Journalismus eine kleine Entdeckung von großem Format.
Sie war die Begleiterin, die in jede Tasche passte; mit ihr konnten wir
draufhalten, wenn wir draufhalten, schweigen, wenn wir schweigen und
davonrennen, wenn wir davonrennen mussten. Bei ihr wurde der Bildschirm
schwarz, wenn wir vermöbelt wurden. Und alle konnten sehen, wie es war, auf
der Straße zu sein, inmitten dessen, was passierte.
Ende März nun wird die App eingestellt und mit ihr geht etwas Feines
verloren: Eine gute Erinnerung und der Weckruf hin zu mehr Authentizität in
der Berichterstattung, die die Zuschauerinnen und Zuschauer als das ernst
nimmt, was sie sind; sehende Menschen, fähig, sich ihr eigenes Urteil zu
bilden von dem, was geschieht.
Periscope, das war für mich persönlich schlicht eine neue Option: meinen
Journalismus, meine Stimme und Perspektive mit den Zuschauer*Innen zu
teilen, meine Einordnungen zu geben, Geschichten zu erzählen und dabei doch
so nah wie nur denkbar an dem zu bleiben, was wir Journalistinnen und
Journalisten sonst manchmal nur „Material“ nennen – die Wirklichkeit, wie
wir sie ja zeigen wollen.
## Eine neue Möglichkeit der Interaktion
Diese Entdeckung begann für mich bei den Protesten rund um den
[1][G20-Gipfel 2017 in Hamburg]. Damals stand ich neben einem Wasserwerfer
im Einsatz und weil außer Polizisten und Fotografen von diesem Wasserwerfer
niemand nass wurde, ließ sich sehr schön zeigen, dass dieses Spektakel noch
viel mehr Teil einer Inszenierung war als Teil eines realen Kampfes, denn
es gab an diesem eigentlich sehr ruhigen Abend kaum Demonstranten, gegen
die der Wasserwerfer sich richtete – aber dafür alarmierende
Nachrichtenmeldungen und bald schon martialische Fotos dieses sonst in
Wahrheit so irgendwie beiläufigen Wasserwerfereinsatzes.
Tausende Menschen konnten mit mir damals zuschauen, und was uns dann also
verband, war der ruhige Moment, inmitten der Aufregung zu begreifen, was
wirklich geschah. Dieses Geschehen unterschied sich von dem, was am
nächsten Tag darüber, in seiner Verkürzung, in vielen Zeitungen stand. Zwei
Dinge sind an diesem Abend noch passiert. Erstens: Menschen haben, via
Periscope, Fragen gestellt. Zweitens: Menschen haben dort Hinweise gegeben
und selbst Wissenswertes beigesteuert.
Und so war dies, jedenfalls für mich, der Beginn einer spannenden
Interaktion: In der Live-Reportage konnten wir fortan unsere
Zuschauer*Innen zu unzähligen Ereignissen mitnehmen und dabei von
einander profitieren: zu den Protesten im Hambacher Forst, zu Angst
einflößenden Demonstrationen von Rechtsextremen in Chemnitz oder Köthen
oder zu den Demonstrationen der [2][„Querdenken“-Bewegun]g in Stuttgart und
Leipzig. Wir begriffen es als neues, eigenes Genre. Besser, als über all
dies lesen zu müssen, was es sein soll, ist, sehen zu können, was es ist.
Und so wurde Periscope für uns nicht nur ein Ort für unsere Reportagen,
sondern auch zu einem Ort für eine gewisse Freundlichkeit, für Respekt, für
Quatsch, für Partys und Performance und was mich stets am meisten
beeindruckte: für gemeinsame Pausen. Einmal, das war am Rande eines
Aufmarsches von Nationalsozialisten, die von der Wiederkehr des „Dritten
Reichs“ träumten, machte ich auf einer Parkbank eine Pause, live, und 50
Menschen leisteten mir dabei Gesellschaft. Ich fand das außerordentlich
nett.
## Selbstverständlichkeit, live zu sein
Es gibt diese Art von Irrelevanz, die dann doch wieder nicht egal ist.
Etwas Schönes an Periscope ist, dass bunte Herzchen aufsteigen, wenn Leute
auf den Bildschirm tippen. Sie können das tun, wenn ihnen gerade was
gefällt.
Bald haben viele Reporterinnen und Reporter Periscope für sich entdeckt. Es
gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten großer Ereignisse, dass über
sie auf vielfache Weise live berichtet wird. Manchmal berichten manche
sogar live über Dinge, die gar nicht berichtenswert sind.
Mit einer Norwegerin bin ich einmal via Periscope zu einem Fjord gefahren,
und manchmal pflege ich in der App meine dort erst entdeckte Vorliebe für
arabische Kamelrennen, obwohl ich natürlich weiß, dass man Kamele nicht
auspeitschen soll und vor allem schon mal gar nicht durch auf den Kamelen
installierte Kamelauspeitschroboter, aber mein Interesse an mir fremden
Kulturen ist größer.
Ich liebe es, morgens nach dem Aufstehen Nilpferde anzuschauen in Echtzeit
oder Giraffen, wenn meine Lieblingsranger in den schönsten Teilen Afrikas
bereits auf Safari sind und dies bei Periscope übertragen. Dadurch rückt
die Welt etwas zusammen, wenn wir sie lassen, und Periscope, das ja
eigentlich eine lächerliche App mit einem überschaubaren Zweck ist, kann
dann, wie eigentlich jeder Ort auf der Welt, zu einem schönen,
interessanten Ort werden.
[3][Ende März nun wird die App eingestellt.] Ich bin nicht traurig, denn
auf Twitter und sonst wo auf der Welt wird es weiter die Möglichkeit geben,
schöne, gute und auch überflüssige Live-Reportagen zu verbreiten. Ich fand
nur, dass es immer schön mit Periscope war, wenn wir das Beste draus
machten, und natürlich will ich das auch noch mal feiern. Kommt doch auch.
Martin Kaul, Jahrgang 1981, lebt und arbeitet als Journalist in Berlin für
das Investigativteam des Westdeutschen Rundfunks. Von 2009 bis 2019
arbeitete er als Redakteur bei der taz und berichtete in seinen
Live-Reportagen via Periscope von zahlreichen Großereignissen wie den
G20-Protesten in Hamburg, Neonaziaufmärschen in Sachsen oder den
Umweltprotesten im Hambacher Forst. Am 30. März ab 19 Uhr feiert er via
Periscope unter [4][@martinkaul] eine Abschiedsparty: „Kauli feiert
Abschied: Tschüss, Periscope! Eine Live-Gala mit netten Gästen“
23 Mar 2021
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-G20-in-Hamburg/!t5417647
[2] /Querdenken-Bewegung/!t5718280
[3] /Das-neue-Medienjahr/!5736405
[4] https://www.pscp.tv/martinkaul/1RDGlPnmEvDGL
## AUTOREN
Martin Kaul
## TAGS
Schwerpunkt G20 in Hamburg
Demonstrationen
Berichterstattung
Daten
Schwerpunkt Zeitungskrise
Pressefreiheit in der Türkei
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