| # taz.de -- Sexismus gegen Frauen: Die Feigheit der Männer | |
| > Ob an der Volksbühne oder bei der „Bild“: Solange integre, gendersensible | |
| > Männer bei Sexismus schweigen, machen sie sich zu Komplizen der Täter. | |
| Bild: Wenn ein Mann zu einem anderen Mann sagt: „Warum machen Sie das?“ | |
| Es ist ein modernes Drama: Da ist ein Mann, der taxiert die junge Frau, die | |
| neben ihm steht, und legt seine Hand dann auf ihre Schulter. Sie windet | |
| sich und verlässt schnell den Raum. Bald laufen sich die beiden jedoch | |
| wieder über den Weg. Er hält sie auf, flüstert ihr etwas zu. Sie dreht den | |
| Kopf weg. Kurz darauf taucht der Mann erneut auf, genau in dem Moment, als | |
| sie alleine vor dem Getränkeautomaten steht. | |
| Er geht auf sie zu, sagt: „Ich könnte Sie fördern.“ Er sagt „könnte“… | |
| heißt: Er kann. Wenn er will. Er hat die Macht. Er kennt den Rahmen. Bei | |
| der nächsten Begegnung tut sie so, als hätte sie ihn nicht gesehen, und | |
| verschwindet. Bald aber kreuzen sich ihre Wege wieder. Wie zufällig streift | |
| er sie. Sie versucht auszuweichen. Er fragt: „Warum ziehen Sie nicht mal | |
| einen Rock an und tragen Stöckelschuhe?“ | |
| Kennt jemand ein Theaterstück, in dem so eine Situation gespielt wird? | |
| Denkbar. Und plötzlich stellt sich, wie am Wochenende [1][an der | |
| Volksbühne] in Berlin geschehen, heraus: Es ist gar kein Spiel. Es ist | |
| Ernst. Und es ist ein Muster. Da sind andere Frauen, denen der Mann sich | |
| auf ähnliche Weise nähert. | |
| Dann jedoch passiert Überraschendes in diesem Stück mit verteilten Rollen: | |
| Zwei Kollegen kommen auf den Mann zu und sagen zu ihm: „Wir haben | |
| beobachtet, wie Sie die Grenzen der Kolleginnen nicht respektieren. Warum | |
| machen Sie das?“ | |
| ## Win-win-Situation | |
| An diesem Punkt wird die Sache ungemütlich, denn es ist nicht klar, wie der | |
| Angesprochene reagiert. „Was wollen Sie?“ „Was mach ich denn?“ | |
| „Sie nutzen Ihre Macht Frauen gegenüber auf eine ungute Art“, antwortet | |
| einer der Kollegen, „und das schafft ein schlechtes Arbeitsklima für alle.“ | |
| (Absichtlich treffen hier zwei Männer auf den einen. Denn so ein Gespräch | |
| braucht Zeugen.) | |
| Warum das hier steht? Weil ich davon ausgehe, dass es in vielen | |
| Situationen, wo Männer und Frauen zusammentreffen, egal ob auf der Arbeit, | |
| im Sport, im Kulturbetrieb, in der Kirche, der Kunst, sexistische | |
| Situationen und übergriffigen Machtmissbrauch geben kann. Dass es jedoch, | |
| davon gehe ich auch aus, in genauso vielen Situationen Männer gibt, die | |
| sich der Wirkung ihres Verhaltens bewusst sind und sexistisches oder | |
| übergriffiges Gebaren lassen. | |
| Die obige Szene steht hier jedoch auch, weil ich darauf warte, dass diese | |
| gendersensiblen Männer ihre Augen und Ohren aufmachen und dass sie sich | |
| einmischen, noch bevor es zum Eklat kommt, um auf sexistisch handelnde | |
| Kollegen einzuwirken. Dass sie von ihnen fordern, Frauen respektvoll zu | |
| begegnen. Ich warte darauf, dass sie übergriffigen Männern signalisieren: | |
| Hört auf damit! Wir sind nicht nur ein Kollektiv, sondern in dieser Sache | |
| auch ein Korrektiv! Würden sie es tun, es wäre eine Win-win-Situation für | |
| alle. | |
| Die Geschehnisse an der Volksbühne, wo der mittlerweile zurückgetretene | |
| Intendant zumindest signalisiert, dass er sich Frauen gegenüber | |
| fehlverhalten hat, ist kein Einzelfall. Sie liefern nur gerade die neueste | |
| Schlagzeilen dazu. Kurz nachdem sexistisches Verhalten vom | |
| [2][Chefredakteur der Bild-Zeitung] bekannt wurde, der seine Arbeit | |
| mittlerweile ruhen lässt, die Vorwürfe aber bestreitet. In anderen | |
| Theatern, Fernsehanstalten, der Kirche rumort und rumorte es | |
| MeToo-bezüglich auch. | |
| ## Verantwortung wird delegiert | |
| Überall in diesen Institutionen wird es aber auch geschlechtersensible | |
| Männer geben, selbst bei der Bild. | |
| Es müsste also gar nicht so weit kommen, dass Männer erst als Täter | |
| gebrandmarkt werden, wenn es eine offene solidarische Kultur unter Männern | |
| gäbe, um sexistisches und inakzeptables Verhalten Frauen gegenüber | |
| frühzeitig zu stoppen. | |
| Solange es diese nicht gibt, müssen Frauen ihre Reputation, ihre berufliche | |
| Existenz, ihre Karriere, ihren Ruf aufs Spiel setzen, wenn sie | |
| sexistisches Verhalten öffentlich machen. Da wird Verantwortung für | |
| falsches Verhalten auch noch an die Opfer delegiert. | |
| Es kann sein, dass die integren Männer nichts mitbekommen. Ja, das kann | |
| wirklich sein. Laut der Pilotstudie [3][„Sexismus im Alltag“], die 2020 vom | |
| Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegeben | |
| wurde, nehmen die Hälfte der Männer, aber auch ein Drittel der Frauen | |
| Sexismus im Alltag nicht wahr. Die einen, weil sie ihm keine Bedeutung | |
| beimessen, die anderen, weil sie sich ein dickes Fell zugelegt haben. | |
| Männer und Frauen deuteten anders, wann und ob eine Situation sexistisch | |
| sei. Sexismus sei ein „unterdefinierter“ Begriff, schreiben die AutorInnen | |
| der Studie. | |
| Um diese Diskrepanz in den Griff zu bekommen, schreiben sie auch von einer | |
| Asymmetrie in der Wahrnehmung zwischen Tätern und Betroffenen. Täter seien | |
| nicht bereit, sich die Wirkung ihrer beispielsweise von Ignoranz, | |
| erotischem Egoismus, Überlegenheits- oder Machtbedürfnissen getragenen | |
| „ausgesandten Signale auf aktuell oder potenziell betroffene Personen | |
| vorzustellen und sie zu verantworten“. Gleichzeitig wird betont, dass auch | |
| Betroffene nicht per se passiv seien, „sondern in einem aktiven Deutungsakt | |
| bestimmte Signale als sexistisch deuten, dadurch mental und emotional | |
| ernsthaft verletzt werden und sich herabgewürdigt fühlen“. | |
| Die Wahrscheinlichkeit, dass gendersensible Männer mitbekommen, wenn ein | |
| Kollege sexistisch agiert, ist mittlerweile aber doch groß. Denn – und das | |
| ist das Verdienst der MeToo-Debatte – viele betroffene Frauen vertrauen | |
| sich anderen an, anderen Frauen und auch vertrauenswürdigen Männern. | |
| Solange aber die Männer, die kapiert haben, um was es geht, und denen | |
| Betroffene erzählen, was da passiert, nicht wirksam und sichtbar | |
| intervenieren, solange es also wie ein Tabu wirkt, dass Männer Männer | |
| einhegen, wenn diese sexistisches Gebaren an den Tag legen, wird sich | |
| nichts ändern; schlimmer noch: Die Männer, die nichts sagen, machen sich | |
| selbst zu Komplizen der Sexisten. | |
| ## Männer müssen Männer erziehen | |
| Früher war die Komplizenschaft der Männer das gemeinsame Schenkelklopfen. | |
| Heute ist es das Schweigen. Dass der Kultursenator von Berlin den | |
| Intendanten an die Volksbühne berief, obwohl die Vorwürfe aus dessen | |
| früheren Tätigkeiten an anderen Theatern irgendwie im Raum standen, zeigt | |
| diese verschwiegene Solidarität an der falschen Stelle und mutet kumpelhaft | |
| an. | |
| Studien aus Amerika zufolge hat die MeToo-Debatte aber nicht nur dazu | |
| geführt, dass Übergriffe nun verstärkt öffentlich gemacht werden. Sie habe | |
| laut Forschungen der [4][University of Houston] auch dazu geführt, dass | |
| männliche Arbeitgeber nun seltener Frauen einstellen. Ah, schlecht | |
| gelaufen, könnten Sexisten frohlocken. Aber wenn es wirklich so ist, ist es | |
| für alle schlecht. Männer stehen verstärkt am Pranger und Frauen bleiben | |
| benachteiligt im Job. | |
| Dank MeToo finden Frauen, wenn sie Sexismus erfahren, nun in der | |
| Öffentlichkeit Gehör. Das ist das Neue. Aber diese Situation zementiert die | |
| ohnehin schier unüberwindbare Trennung in Täter und Opfer, die im | |
| schlechtesten aller Fälle dann noch umgedreht wird und die Frauen, die | |
| Opfer sind, zu Täterinnen stempelt, wenn sie der Reputation der Männer | |
| schaden, deren Namen sie öffentlich machen. Dass alle in diese Falle | |
| tappen, könnten Männer, die solidarisch mit Frauen sind, mindern. Aus | |
| Feigheit den Mund zu halten lohnt also nicht. | |
| „Wenn wir Geschlechtergerechtigkeit anstreben, brauchen wir einen | |
| Kulturwandel – und der gelingt unter anderem durch mehr bewusste männliche | |
| Solidarität am Arbeitsplatz“, schrieb [5][Jessica Wagener auf ze.tt,] als | |
| sie sich mit den Folgen der MeToo-Debatte beschäftigte. Sie hat recht. Denn | |
| Männer und Frauen können sich nicht auf Augenhöhe begegnen, wenn alles auf | |
| einen Täter-Opfer-Diskurs hinausläuft. | |
| Damit eine kooperierende Entwicklung von allen ohne sexistische Ausfälle | |
| möglich ist, dürften Männer, die geschnallt haben, um was es geht, die | |
| Verantwortung für den Kulturwandel nicht an die Frauen delegieren. Männer | |
| müssen Männern Geschlechtergerechtigkeit beibringen. Nicht nur am | |
| Arbeitsplatz, auch im häuslichen Rahmen, in der Kirche, im Sport, in der | |
| Kunst. Männer müssen Männer erziehen. Es ist so einfach. So klar. | |
| 19 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Vorwuerfe-gegen-Berliner-Intendanten/!5757744 | |
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| [3] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/141246/6e1f0de0d740c8028e3fed6cfb8510fd… | |
| [4] https://hbr.org/2019/09/the-metoo-backlash | |
| [5] https://ze.tt/wir-brauchen-mehr-solidaritaet-am-arbeitsplatz/ | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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