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# taz.de -- Die Wahrheit: Interaktion mit Laternenpfählen
> Die seit der Pandemie neue Trendsportart Spazierengehen fordert ihre
> Opfer: die Gesellschaft, die Wirtschaft und uns alle.
Bild: Wichtige Aufgabe für Spaziergänger: Kadaver sammeln
Die meisten Menschen haben Angst vor Joggern. Schnaufend pirschen sich
Letztere geschwind von hinten an, atmen einem warm und feucht in den
Nacken, bevor sie einen mit Schmackes umrennen und schon wieder
verschwunden sind, bevor man sich das Nummernschild merken konnte. Jogger
sind einfach die Pest.
Unser auf Jogger konzentrierter Hass lenkt uns aber doch zu sehr von seinem
kleinen und langsamen Bruder, seiner kriechenden Schwester ab: dem
Spaziergänger oder der Spaziergängerin. Seit dem Beginn dieser Pandemie
sind sie auf einmal überall, wie diese auf dem Boden festgetretenen Masken.
Alle, die etwas auf sich halten, sind jetzt ganz ohne jegliche Würde gerade
draußen.
Aber da stehen sie nicht und gucken einfach ein wenig Eichhörnchen, nein,
sie laufen herum. Warum tun diese Menschen das? Was bringt ihnen ein
Spaziergang? Und finden sie jemals wieder nach Hause?
„Spazieren ist wie Brotbacken, nur draußen“, erklärt uns draußen vor ihr…
Institut die Hamburger Trendforscherin Ulrike Müller, die lieber anonym
bleiben möchte, um nicht den Hass der immer größer werdenden
Spaziergang-Gang auf sich zu ziehen. „Beides sind Zeitvertreibe, die bis
letztes Jahr hauptsächlich von sehr, sehr alten Menschen ausgeübt wurden.
Dann kam Corona, die Leute hatten nichts zu tun und jetzt ist man nirgendwo
mehr sicher.“
## Abwechslung in der Isolation
Kaum hat sie zu Ende gesprochen, wird sie schon von einem Spaziergänger
angerempelt und fällt auf ihr Schlüsselbein. Wir haben allerdings keine
Zeit für Erste Hilfe, da wir dem doch sehr zügigen Spaziergänger folgen
müssen, um O-Töne zur neuen Trendsportart zu sammeln: „Spazierengehen tut
mir gut, weil es Abwechslung in der Isolation bringt. Letztens habe ich
beim Spaziergang eine Wiese entdeckt! Und die Woche davor auch eine Wiese.
Aber eine andere! Glaub ich … Außerdem verlernt man so nicht so sehr die
Interaktion mit der Umgebung.“ Haarscharf verfehlt der Spaziergänger einen
Laternenpfahl.
Na gut, das klingt alles mehr oder weniger plausibel. Aber ist das der
Grund, warum gerade alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, spazieren
geht? Wir fragen den nächsten Passanten: „Was erlauben Sie sich?“, fragt er
empört zurück. „Ich bin kein Spaziergänger, sondern ein sehr langsamer
Jogger!“ Wir rufen ihm eine Entschuldigung hinterher, wofür wir wegen
seines Tempos auch etwas Zeit haben.
Dann kommt uns eine Idee: Liegt die deutsche Wirtschaft nicht gerade am
Boden? Könnte man ihr vielleicht durch den Verkauf von
Spaziergang-Hightech-Produkten auf die Sprünge helfen? „Gibt es doch schon
längst“, erklärt uns gelangweilt die mittlerweile aus dem Krankenhaus
entlassene Trendforscherin Müller. „Von den Gehschuhen über das Laufband
mit Maximalgeschwindigkeit fünf Stundenkilometern bis zur Uhr, die misst,
ob man sich auch genug entspannt: Es wird alles Mögliche hergestellt und
verkauft, um den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder in
Schrittgeschwindigkeit nach vorne zu katapultieren.“
## Integration in die Gesellschaft
Dann haben die ganzen Spaziergänge immerhin einen Sinn. Aber kann man sie
vielleicht für noch was Vernünftigeres als die Rettung der deutschen
Wirtschaft nutzen? „Gute Frage! Sie sind wirklich wunderbare Journalisten“,
lobt uns die Trendforscherin. Das nehmen wir zumindest an, die
Telefonverbindung in ihre Brandenburgische Reha ist sehr schlecht. „Nach
Erkenntnissen von Expertinnen wie mir können sich Spaziergänger auf viele
verschiedene Weisen einbringen und wieder in die Gesellschaft integriert
werden.“ So könnten die „Schuhsohlenabreiber“ (ökonomischer Fachbegriff)
sich zum Beispiel nützlich machen und tote Kleintiere auf den Wegen
einsammeln.
„Das“, so Müller, „hat einen ästhetischen Mehrwert, und die Flaneure ha…
immer einen kleinen Snack parat, wenn sie zwischendurch Hunger bekommen.
Ein weiterer Pluspunkt: Viele Menschen finden verwesende Tiere
seltsamerweise unglaublich widerlich. So könnte die Plage der Spaziergänger
relativ einfach dezimiert werden.“
Außerdem ließen sich die Tiere ja auch als Slalomstangen für Jogger oder
als Futter für Schwäne einsetzen. Aber sind diese Maßnahmen nicht doch
etwas drastisch? „Schwäne? Ich hab überhaupt nichts mit Schwänen gesagt!
Hallo? Können Sie mich hören? Hallo? Die Verbindung ist so schlecht!“,
versucht Müller, sich und ihren guten Ruf zu verteidigen. Doch zu spät, wir
schwachen Seelen sind bereits von ihr beeinflusst worden und überlegen nun
selbst, wie wir der Passantenplage Herr werden können. Durch taktisch
gesetzte Trittfallen vielleicht?
Wir beschließen, uns zur weiteren Planung das Problem genauer anzusehen.
Als wir ausschauhaltend über die Straße schlendern und uns an dem
Vogelgezwitscher erfreuen, kommt uns jedoch plötzlich ein schrecklicher
Verdacht: Waren wir vielleicht die ganze Zeit auch … Spaziergänger?
16 Mar 2021
## AUTOREN
Laura Brinkmann
## TAGS
Spaziergang
Flaneurin
Pandemie
Bundeskanzleramt
Kanada
Public Relations
Museen
Videokonferenz
Kolumne Die Wahrheit
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