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# taz.de -- Hochschulreife trotz Schulabbruch: Abi im Alleingang
> Mit dem Schulunterricht kamen Sharie und Amaal nie zurecht, sie brachen
> das Gymnasium ab. Jetzt holen sie ihr Abitur mit der „Externenprüfung“
> nach.
Bild: Abiturprüfung unter Coronabedingungen – hier in Berlin
Berlin taz | Wenn Sharie und Amaal von ihrem täglichen Lernen sprechen,
nutzen sie häufig das Wort „Raum“. Endlich hätten sie den Raum, sich den
Stoff selbst einzuteilen und in ihrer jeweiligen Geschwindigkeit zu
arbeiten. Es ist ein Raum ohne Fremdbestimmung und Druck von außen. Diese
Freiheit haben sie in ihrer Schulzeit vermisst. Damals, als es für die
ganze Klasse ein einheitliches Tempo gab und sie nicht das Gefühl hatten,
jemand habe die Zeit oder den Willen, sich auf ihre Bedürfnisse
einzulassen.
Sharie, 20, und Amaal, 24, bereiten sich derzeit auf das Abitur vor, ganz
ohne Unterricht, Mitschüler*innen oder Lehrer*innen. Mit der
Externenprüfung nehmen die jungen Frauen ein Angebot wahr, das kaum jemand
kennt. Doch für beide bedeutet es einen „Selbstbewusstseinsboost“ und einen
ersten Schritt zur Versöhnung mit ihrem bisherigen Bildungsweg.
Die Externenprüfung ermöglicht Menschen in allen Bundesländern, die ihre
Schule aus welchen Gründen auch immer vorzeitig verlassen haben, die
Allgemeine Hochschulreife nachzuholen. Und zwar nicht auf einem
Abendgymnasium oder Kolleg, sondern komplett in Eigenregie. Voraussetzung
des „Abiturs für Nichtschüler“ ist, dass man schon etwa ein Jahr vor den
Prüfungen an keiner Schule mehr angemeldet war und volljährig ist. Auch den
Real- und Hauptschulabschluss kann man auf diesem Weg nachträglich
erlangen.
In Nordrhein-Westfalen, wo Sharie und Amaal leben, sind dafür die
Bezirksregierungen zuständig. Dort muss man sich im Vorjahr des Abiturs
anmelden und bekommt eine Schule zugewiesen, an der die Prüfungen
absolviert werden sollen. Während Schüler*innen auf einem regulären
Gymnasium zwei Jahre lang Punkte sammeln, müssen Sharie und Amaal in NRW
mit vier schriftlichen und vier mündlichen Prüfungen doppelt so viele
ablegen wie reguläre Abiturient*innen. Dementsprechend mehr zählen die
Abiturprüfungen der „Nichtschüler*innen“.
Bundesweit haben 477 Menschen im Jahr 2019 erfolgreich die Externenprüfung
absolviert. Fernschulen und Volkshochschulen bieten begleitende Kurse zur
Vorbereitung an, nur kosten die Zeit – und viel Geld. Wer sich gegen diese
Angebote entscheidet, braucht dafür enorme Eigenständigkeit. Um sich bei
der Bezirksregierung für die Prüfung anmelden zu können, müssen die
Abiturient*innen einmalig Studienberichte einreichen, die beweisen
sollen, dass sie die richtigen Dinge lernen.
Auf den Internetseiten der Bezirksregierungen lassen sich dafür Infozettel
mit einer Handvoll Links herunterladen. Diese führen zu Portalen, auf denen
Lehr- und Kompetenzpläne für die Oberstufe gelistet sind, formuliert und
konzipiert für Lehrer*innen. Die wissen, wie sie ihrer
Schüler*innenschaft im Deutsch-Leistungskurs die abiturrelevante
Kompetenz „Rhetorisch ausgestaltete Kommunikation in funktionalen
Zusammenhängen“ näherbringen.
Doch für Sharie und Amaal, die eigentlich anders heißt, beginnen Wochen
schier endloser Googelei. Denn sie müssen selbst herausfinden, was die
einzelnen Kompetenzen bedeuten und welches Material sie studieren müssen,
um sie zu erlangen.
Bei der Bezirksregierung Münster kümmert sich Eva Glätzer um das
Externenabitur. Bei ihr melden sich jährlich nur um die fünf, sechs
Nichtschüler*innen an, von denen nicht alle die Prüfung am Schluss
ablegen. Sie hält die Vorbereitung auf das Abitur ohne jegliche Hilfe für
„extrem ambitioniert“ und erwähnt den Interessierten gegenüber in einem
Beratungsgespräch immer die Option eines begleitenden Kurses.
## Zugang sollte niedrigschwelliger sein
Wer sich dagegen entscheidet, bekommt von Glätzer und ihrem Team nach der
Anmeldung noch die Möglichkeit, inhaltliche Fragen zu stellen. Außerdem
werden in Münster alle Abiturprüfungen von Nichtschüler*innen an
derselben Schule absolviert. Die Lehrkräfte dort sind mit dem
Externenabitur vertraut und stehen als Ratgeber*innen zur Verfügung.
Weil sie bei ihrer Bezirksregierung nicht die Unterstützung fand, nach der
sie suchte, wandte sich Sharie an ihr ehemaliges Gymnasium. Dort bekam sie
Bücherlisten, das Material kaufte sie sich selbst. Amaal lieh sich ihre
Bücher bis zum neuerlichen Lockdown in Bibliotheken aus. Als diese
schließen mussten, blieb ihr keine andere Wahl als Onlineshopping.
„Der Zugang zum Externenabitur könnte sehr viel niedrigschwelliger sein“,
kritisiert Bildungswissenschaftlerin Sabine Siemsen, die an der Uni Marburg
zu Digitalisierung an Schulen und interdisziplinären Lernumgebungen
forscht. Wie Amaal und Sharie ging auch sie in der Oberstufe von der Schule
ab und entschied sich 2007 mit Mitte 30, das Abi als Externe nachzuholen.
Sie besuchte einen Begleitkurs an einer Fernschule. Später merkte sie, dass
es auch ohne institutionelle Betreuung geklappt hätte – „vorausgesetzt, die
Lernvorgaben wären mir einmal ganz klar und deutlich kommuniziert worden“,
so Siemsen. „Ich würde mir wünschen, dass es im Netz frei zugängliche
länderspezifische Leitfäden und Bücherlisten gäbe, die man auch ohne
Lehramtsstudium verstehen kann.“
## Immer das Gefühl, durchs Raster zu fallen
Trotz dieser Beschwerlichkeiten ist die Abiturvorbereitung für Amaal „mega
selbststärkend“. „Für mich schließt sich gerade ein Kreis“, sagt sie. …
brach die Schule ein paar Monate vor dem Abitur ab, wegen familiärer
Probleme und weil es einfach nicht mehr ging – ein Grund, warum sie nicht
mit ihrem echten Namen auftreten möchte. Ihre ganze Schulzeit lang hatte
sie das Gefühl, irgendwie durchs Raster zu fallen.
Als Elfjährige wurde bei ihr eine Aufmerksamkeitsdefizit- und
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Individuelle Förderung bekam
sie nie. „Meiner Meinung nach wird in deutschen Schulen nicht gut genug auf
Kinder und Jugendliche geschaut, die sich in schwierigen persönlichen
Situationen befinden oder die Lernbehinderungen haben“, sagt die
24-Jährige.
Wegen ihres ADHS konnte sie sich immer schon besonders gut in Dinge
hineindenken, die sie interessierten. Dafür fiel es ihr in anderen Fächern
schwer, dem Klassentempo zu folgen. Jetzt, wo sie die Zeit, Ruhe und
Motivation hat, die sie braucht, merkt Amaal, wie gut es klappt und „dass
ich nicht dumm bin, sondern dass mir damals einfach nur nicht der Raum
gegeben wurde, den ich brauchte“.
Amaals größter Minuspunkt am Externenabi ist allerdings der Fokus auf den
mündlichen Prüfungen. Als Nichtschüler*in sei man stärker als die
regulären Abiturient*innen abhängig vom Urteil einzelner Lehrer*innen,
sagt sie.
## Depressionen und Panikattacken
Sharies Schulzeit verlief ähnlich. In der elften Klasse litt sie unter
Depressionen und Panikattacken. Zwischenzeitlich verbrachte sie Wochen in
einer Klinik, verpasste viel Stoff und entschied sich, zu wiederholen, weil
ihr Abitur gut werden sollte. Doch zurück am Anfang der Qualifikationsphase
wiederholten sich auch die psychischen Probleme. Sie brach ab und
organisierte sich ein Gap Year in Mexiko. Sechs Monate lang passte sie als
Au-pair auf Drillinge auf und kam als selbstbewusste junge Erwachsene
zurück nach Deutschland.
Ihre ganze Schulzeit lang hat sie frustriert, dass sie in der Masse
mitschwimmen musste. „Ich bin früher oft heulend zu meiner Mutter und hab
sie gefragt, warum die Schule mir nicht einfach die Aufgaben nach Hause
schickt und ich mache das dann in meinem Tempo“, erzählt Sharie. „Ganz
ehrlich: Wenn [1][Corona in meine Schulzeit gefallen wäre], hätte ich das
super gefunden.“
Die Zwanzigjährige ist Autodidaktin durch und durch, hat sich als Kind
selbst Musikinstrumente beigebracht und könnte das Mathe-Abi schon morgen
mit Sternchen absolvieren. Dafür fällt ihr das Auswendiglernen in
Geschichte schwer. Aber sie hat angefangen, sich mit ihrem Opa über die
NS-Zeit zu unterhalten, was den prüfungsrelevanten Stoff anschaulicher
macht.
Was individualisiertes Lernen und Heterogenität im Klassenraum angeht,
sieht Bildungswissenschaftlerin Siemsen an deutschen Schulen großen
Reformbedarf. „Es wird immer noch viel zu wenig ergründet, welche
verschiedenen Lerntypen da zusammenkommen“, sagt sie. „Stattdessen wird
eine Form über alle gestülpt, die breite Mitte kommt mit und vorne und
hinten fallen welche runter.“
## Nicht alle Lehrkräfte für Eigenverantwortlichkeit
Zwar gebe es immer mehr Musterschulen, an denen Pädagog*innen
individuelle Projekte und Lehrpläne konzipieren. Trotzdem erschrecke sie
das Mindset mancher angehender Lehrer*innen, die für digitale Formate und
eigenverantwortliches Lernen wenig offen seien. „Ich sehe die Gefahr, dass
wenn Corona irgendwann vorbei ist, die meisten Schulen so weitermachen wie
vorher“, sagt sie.
Die [2][Abiturvorbereitung] ohne schulische Begleitung ist ein Vollzeitjob,
nebenbei arbeiten geht nicht. Amaal erhält Arbeitslosengeld und kann sich
so über Wasser halten. Sharie wird von ihren Eltern unterstützt und bemüht
sich derzeit darum, weiter Kindergeld zu bekommen. Denn der Sachbearbeiter
bei der Agentur für Arbeit habe sie erst mal mit großen Augen angeschaut,
als er sie von der Externenprüfung sprechen hörte. „Der kannte das gar
nicht“, sagt sie.
So dankbar sie für die Externenprüfung sind – beide hätten gern schon
früher gewusst, dass sie ihr Abitur nachholen können, ohne jemals wieder
Teil eines Klassenverbands sein zu müssen. Eva Glätzer findet ebenfalls,
dass die Externenprüfung bekannter sein und stärker beworben werden könnte.
Amaal und Sharie wollen nach ihrem bestandenen Abitur studieren, Amaal
Pädagogik und Sharie Informatik. Viele lernen erst an der Uni, ob sie gut
eigenverantwortlich arbeiten können oder nicht. Amaal und Sharie wissen es
bereits.
17 Mar 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Leonie Gubela
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