# taz.de -- Strukturwandel in Rheinland-Pfalz: Die Tücken der Topografie | |
> Die Kleinstadt Pirmasens musste einen beispiellosen Niedergang | |
> durchmachen. Bürgermeister Markus Zwick sieht grünes Licht am Ende des | |
> Tunnels. | |
Bild: Warten auf den Aufbruch: Schaufenster in Pirmasens | |
PIRMASENS taz | Pirmasens empfängt mit einem Ortsschild, auf dem ganz | |
lakonisch „Pirmasens“ steht. Wo andere Gemeinden ihr Schild um Zusätze wie | |
„Universitätsstadt“ oder „Festspielstadt“ ergänzen, müsste bei Pirma… | |
eigentlich stehen: „Abschreckendes Beispiel“. Als solches dient die | |
abgelegene Kommune immer dann, wenn es um den Niedergang einer Region geht. | |
Schaut man nicht ins Ruhrgebiet oder „den Osten“, dann ist stets Pirmasens | |
ein willkommenes Beispiel dafür, was passiert, wenn die Schlüsselindustrie | |
am Ort das Zeitliche gesegnet hat. Entsprechend apokalyptisch lesen sich | |
viele Artikel, entsprechend trist wirken Fernsehbeiträge aus der Stadt. Es | |
gab schon Kamerateams, die wegen des guten Wetters unverrichteter Dinge | |
wieder abgereist sind. Nieselregen wäre besser gewesen, um die gewünschte | |
Stimmung zu illustrieren. | |
Interessanter ist, welche Stimmung wirklich herrscht bei demjenigen, der | |
die Misere zwar nicht zu verantworten, aber doch zu verwalten hat – und | |
versucht, seine wenigen Spielräume zu nutzen. Oberbürgermeister Markus | |
Zwick (CDU) empfängt bei strahlendem Sonnenschein im Ratssaal der | |
Stadtverwaltung, einer ehemaligen Schule im Zentrum der Stadt. Er sagt: | |
„Tatsächlich ist eines der größten Probleme das schlechte Image, das uns | |
immer wieder angehängt wird.“ | |
Noch tatsächlicher wirkt Pirmasens wie eines der vielen leeren | |
Schaufenster, die es in der Innenstadt zu besichtigen gibt. Da war mal | |
etwas. Und nun ist es weg. 350 Schuhfabriken gab es am Ort, beschäftigt | |
wurden in der großen Zeit bis zu 25.000 Menschen. Da lebten mehr als 60.000 | |
Leute in der Stadt. Heute sind es 40.000. Architektonisch zeugen von der | |
verflossenen Relevanz heute noch die Fabrikpaläste, über die Stadt | |
verstreut wie gestrandete Luxusdampfer. Eine Ahnung von vergangener | |
Wichtigkeit strahlt auch das alte Postamt aus – von dem Schnellzüge ins | |
ganze Land fuhren, um Deutschland mit Schuhwerk zu versorgen. | |
## 500 Millionen minus | |
Wenn Pirmasens heute irgendwo auftaucht, dann in Statistiken. Da sieht es | |
nicht gut aus. Höchste Arbeitslosenquote und höchste Pro-Kopf-Verschuldung | |
im Land, geringste Lebenserwartung in der Republik. Ein Viertel der | |
Einwohner ist über 65 Jahre alt, die Stadtkasse ein Loch ohne Boden. An | |
Kassenkrediten steht die Kommune mit 500 Millionen Euro in der Kreide. Das | |
entspricht dem aktuellen Defizit im Haushalt von Brandenburg – dem | |
Bundesland, nicht der Stadt. | |
Darauf angesprochen, spricht Markus Zwick von den Tücken der Topografie. | |
Das Argument ist triftiger, als es klingt. Aus der Ferne neigt man dazu, | |
landschaftliche Gegebenheiten zu unterschätzen. In Pirmasens nicht. Die | |
kreisfreie Stadt liegt im äußersten Südwesten der Südwestpfalz, 700 | |
Autobahnkilometer oder 7 Schienenstunden von Berlin entfernt. An die | |
Rheinschiene ist Pirmasens nur über die Bundesstraße 10 angebunden, die den | |
Pfälzerwald quert. Eine andere Bundesstraße führt über Serpentinen hinauf | |
in die übrige Südwestpfalz nach Kaiserslautern. Im Süden wird der | |
Pfälzerwald rasch zu den Vogesen, dort liegt mit dem Département Moselle | |
eine der strukturschwächsten Gegenden von Frankreich. Gut angebunden ist | |
die Stadt nur an das Saarland. | |
In die Landeshauptstadt, nach Mainz, fährt man gute anderthalb Stunden. | |
Vorausgesetzt, es quält sich nicht gerade ein Sattelschlepper die | |
Serpentinen hinab. Pirmasens selbst ist von topografischer Unmöglichkeit. | |
Es ist auf sieben Hügeln erbaut, und von einem der Hügel sieht man stets | |
einen anderen Teil der Stadt – falls der Blick nicht weit in den Wald | |
hinausgeht, bei günstigem Wetter sogar bis hinüber in die Rheinebene. | |
Zivilisationszonenrandgebiet. | |
## Husterhöhe, wir haben ein Problem | |
Ohne eine vernünftige Anbindung an Autobahn oder Schiene, führt Zwick aus, | |
sind moderne Unternehmen nur schwer in die Stadt zu locken – zumal wegen | |
der zerklüfteten Lage die Gewerbeflächen knapp werden. Hoffnung liegt auf | |
der Husterhöhe, dem Gelände der US-Armee, ehemals ein wichtiger Arbeitgeber | |
vor Ort. Wenn die Amerikaner abziehen, wird Platz frei. | |
Schon jetzt ist zu besichtigen, wie es auf der Husterhöhe blüht, entlang | |
der Massachusetts Avenue. Stahlbau, Maschinenbau, Baumaschinenhandel, aber | |
auch IT-Unternehmen haben sich dort angesiedelt. Noch immer gibt es | |
spezialisierte Schuhgeschäfte, wie überhaupt die Expertise vergangener | |
Jahrzehnte überall noch weiterwirkt, auch wenn die großen Produktionen seit | |
den 60er Jahren abgewandert sind, erst nach Portugal, dann nach Asien. Was | |
Globalisierung bedeutet, hat Pirmasens schon zu spüren bekommen, als es das | |
Wort noch gar nicht gab. | |
Bis dahin hatte gleich nach der Schule sein Auskommen, wer in die | |
Fußstapfen der Mütter und Väter treten und Leder gerben oder Schuhe stanzen | |
wollte. Seitdem aber ist, wer gehen konnte, längst gegangen. Geblieben sind | |
ungelernte Arbeitskräfte in teilweise dritter oder vierter Generation, für | |
die es keine Beschäftigung gibt. Gerade hat eine der letzten Produktionen, | |
spezialisiert auf „Damenschuhe im Galanteriesegment“, den Betrieb | |
eingestellt. | |
## Pakt für Pirmasens | |
Mit einem innovativen „Pakt für Pirmasens“ versucht Zwick, den Leuten eine | |
Perspektive zu geben. Überdies nahm Pirmasens mehr Geflüchtete auf, als es | |
schultern konnte. „Die Stadt nimmt Aufgaben wahr, die ihm vom Land | |
übertragen werden“, so Zwick. Das Land aber stehe nicht für die anfallenden | |
Kosten gerade, klagt der Oberbürgermeister. | |
Zusammen mit Kaiserslautern ist Zwick bis vor den Verfassungsgerichtshof | |
gezogen – mit Erfolg. Das Finanzierungsmodell des Landes wurde als | |
verfassungswidrig beurteilt. Passiert ist seitdem: nichts. Stattdessen, | |
hört man, wird Pirmasens seitens der Landesregierung geraten, doch die | |
Gewerbesteuer zu erhöhen – also den wichtigsten Hebel, um Unternehmen zur | |
Ansiedlung bewegen zu können, in die falsche Richtung umzulegen. | |
In welche Richtung es gehen könnte, zeigt ein Unternehmen wie Kömmerling. | |
Im Jahr 1897 als Zulieferer der Schuhindustrie gegründet, ist die chemische | |
Fabrik heute ein hidden champion für Kleb- und Dichtstoffe. Und auf dem | |
kleinen, aber feinen Hochschulcampus werden angewandte Logistik- und | |
Polymerwissenschaften unterrichtet. | |
Auf der kulturellen Flanke hinterlässt die Geschichte ebenfalls einen | |
sichtbaren Abdruck. Analog zu den Ruhrbaronen gibt es in Pirmasens auch – | |
wie sagt man? – Schuh-Shogune, die über Stiftungen etwas Gutes tun wollen. | |
Aus einem Fabrikpalast wurde das „Dynamikum“, ein Mitmachmuseum für | |
Physikalisches, eine andere Immobilie verwandelte sich in 38 Wohnungen. Im | |
alten Bahnhof in ein Museum für den Dadaisten Hugo Ball untergebracht, | |
einen der berühmtesten Söhne der Stadt. | |
Bei seinem Versuch, Pirmasens den Stolz wiederzugeben, wird Markus Zwick | |
von Landgraf Ludwig IX. unterstützt. Der Adelige baute den verschlafenen | |
Weiler im Jahr 1741 zur Garnison aus und gilt als Gründer der Stadt. Zu | |
sehen ist Ludwig IX. an vielen Orten, neuerdings auch im Verkehr. Als | |
stilisiertes grünes Ampelmännchen zeigt er an, dass es weitergeht. | |
13 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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