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# taz.de -- Der Ethikrat: Die Kratzer der anderen
> Darf man andere darauf hinweisen, dass ihre Probleme in die Sparte First
> World Problem gehören? Der Ethikrat hat Einwände.
Bild: Der Ratsvorsitzende klappte einen Regenschirm auf und nahm auf einem raup…
Kürzlich ging ich im Regen mit den Kindern auf den Spielplatz, als ich auf
den Ethikrat traf. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer
Größe, die mich gelegentlich [1][aufsuchen], um mir Hinweise in Sachen
praktischer Ethik geben. Zu meiner Überraschung waren sie in Begleitung
eines Kleinkindes, das weitgehend in Schal, Mütze und Schneeanzug verborgen
war.
Es warf Matsch auf den Mantel des Ratsvorsitzenden, der so tat, als bemerke
er es nicht. „Oh, Sie sind heute in Begleitung“, sagte ich. „Wir
unterstützen einen Doktoranden, der trotz familiärer Verpflichtungen seine
Arbeit beenden muss“, antwortete der Ratsvorsitzende. „Ist das nicht
anstrengend?“, fragte ich.
Eines der beiden anderen Ratsmitglieder, die in der Regel schweigen,
öffnete seine Tasche und holte eine kleine Urkunde heraus. Ich ging näher
heran: „Der Ethikrat ist als familienfreundliche Einrichtung zertifiziert“
stand darauf. Das erinnerte mich unangenehm an die LeserInnenbriefe, die
ich bekommen hatte nach einem Text, in dem ich die Klagen von Familien über
unzumutbare Belastungen kritisierte.
Einer der Kritikpunkte war gewesen, dass die GrundschülerInnen sehr
plötzlich und ohne ausreichende Vorbereitung eine Maske tragen müssten, und
ich hatte argumentiert, dass einem Schlimmeres passieren könne. Eigentlich
bekomme ich nie LeserInnenbriefe, aber diesmal kamen einige. Sie waren
wenig wohlwollend und warfen mir Empathielosigkeit vor, und während ich
daran dachte, sah ich aus den Augenwinkeln, wie das Doktorandenkind mit
einer Schippe auf das jüngere meiner Kinder einschlug.
## Ein First World Problem
„Darf ich Sie trotz Ihrer Betreuungsaufgaben etwas fragen?“, wandte ich
mich an den Ethikrat. „Natürlich“, sagte der Vorsitzende, klappte einen
Regenschirm auf und nahm auf einem raupenähnlichen Wipptier Platz. „Es ist
anstrengend, mit zwei Kindern zu Hause zu sitzen, aber es scheint mir
deutlich bitterer, mit Corona auf der Intensivstation zu liegen“, sagte
ich. „Wieso sollte es nicht adäquat sein, die eigenen Sorgen und auch die
der anderen in ein Verhältnis zu setzen?“. Der Ethikratvorsitzende sah an
mir vorüber zur Wippe, von der mein jüngeres Kind gerade das zeternde
Doktorandenkind schubste.
Aber es war nicht der Moment, sich darum zu kümmern, es war der Moment,
eine philosophische Bestätigung dafür zu erhalten, dass es eine
Unterscheidung zwischen First World Problems und tatsächlichen Problemen
geben durfte.
Den Begriff „First World Problems“ hatte ich vor nicht allzu langer Zeit
zum ersten Mal bei einem Kollegen gehört und benutze ihn gern, weil er so
kompakt ist und so wirkt, als sei er in den Debattierklubs dieser
fortschrittlich schlauen US-Unis zu Hause. Mit etwas Glück konnte ich den
Rat damit beeindrucken.
„Eine kluge Erzieherin hat einmal zu mir gesagt: Kinder, die man tröstet,
wenn sie hinfallen, statt ihnen zu sagen: ‚Ist doch nicht so schlimm‘,
beruhigen sich viel schneller“, sagte ich in Richtung Ethikrat. „Das
leuchtet mir ein, aber trotzdem: Erwachsene sollten doch gelegentlich in
der Lage sein, zu sehen, dass sie da nur einen Kratzer haben und ihr
Nachbar immerhin einen Schädelbasisbruch.“
Zwei der Ethikratmitglieder verscheuchten die Kinder von der Wippe, um sie
selbst auszuprobieren. Immerhin wandte sich der Ratsvorsitzende mir zu.
„Glauben Sie, die Situation der anderen beurteilen zu können?“, fragte er.
„Nein“, sagte ich. „Aber ich kann auch die der Waffenhändler,
Giftgasherstellerinnen und Autorennenteilnehmer nicht beurteilen. Ich kann
ja nicht mal meine eigene beurteilen“.
Der Ratsvorsitzende wandte sich ab; ich hätte es wissen können, er war kein
Freund von Polemik, zumindest nicht meiner. „Das endet doch in dieser
bequemen Gleichgültigkeit, wo niemand niemandem etwas Kritisches sagt,
zumindest nicht jenseits irgendwelcher anonymen Internetforen“, rief ich
dem Rücken des Vorsitzenden hinterher. Er ging in Richtung des Spielhauses,
aus dem Kindergeschrei zu hören war. Dort wurde es still und ich hätte viel
darum gegeben, dabei zu sein, aber ich wagte nicht, zu stören.
16 Jan 2021
## LINKS
[1] /Der-Ethikrat/!5733971
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Kolumne Ethikrat
Philosophie
Schwerpunkt Coronavirus
Ethik
Zusammenleben
Lockdown
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